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An Bord des Öltankers Hammond-1, mit Kurs auf Chile

Das Letzte, was Marcus tun wollte, war Xander Dysons Nähe an Bord zu ertragen, doch der Dinosaurier reizte ihn einfach zu sehr. Ein T-Rex aus Fleisch und Blut! Würde er ihn jetzt nicht mit eigenen Augen ansehen gehen, dann würde er es nie im Leben glauben, dass er wirklich existierte. Nach einer Karriere voller verlockender Ahnungen von diesem mächtigen Ungeheuer aus der Vorzeit – sei es in Büchern, Computersimulationen und natürlich Filmen beziehungsweise durch echte Knochen oder Zähne, wenn er Glück gehabt hatte – bekam er nun die Chance, einen ganzen, wahrhaftigen aus der Nähe zu sehen. Er drängelte sich an mehreren Bohrtechnikern vorbei, die das tote Tier aus einem anderen Zeitalter ebenfalls anstarrten.

Die Luft war noch immer eisig, weshalb er seinen Atem in Dampfwolken aushauchte. Er trat vor die Ablage mit Rollen aus Edelstahl, auf der das einst unbändige Geschöpf nun festgezurrt ruhte, damit es im Wellengang nicht hinunterrutschte und beschädigt wurde. Es war ungefähr vierzig Fuß lang und zwanzig breit. Die langen Hinterläufe passten gerade so auf die Plattform; nur eine der spitzen, schwarzen Krallen krümmte sich über den Rand hinweg. Marcus stand vor der Brust der Kreatur, nicht weit weg von den Armen, die fast albern zierlich wirkten im Verhältnis zum Rest des Körpers dieses Riesenmonsters. Ihn interessierte vor allem der Teil des Körpers, der am schlimmsten zugerichtet war. Löcher, Schnitte und Einschüsse übersäten den Rest des Fleisches, die Seiten und den Rücken, Beine und Rumpf, doch diese Stelle … Zunächst hatte er gedacht, der Schaden rühre von der Bohrung her, in deren Rahmen man ihn ausgehoben hatte, doch dann zweifelte er diese Theorie an. Als er in die Hocke ging, um von unten in die klaffende Wunde zu schauen, wurde ersichtlich, dass der Körper, obwohl er äußerlich gut erhalten wirkte, nicht mehr vollständig war. Marcus richtete sich wieder auf und sprach einen Arbeiter an, der neben ihm stand:

»Hat Ihr Team das getan?«

Der Mann schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Sir, das Loch war schon vorhanden. Wir haben ihn so behutsam geborgen, wie ein Arzt Splitter mit einer Pinzette entfernt.«

»Außer unserem Doc«, frotzelte ein anderes Besatzungsmitglied.

Jemand räusperte sich. Xander kam herüber, als habe er sich im Dunkeln versteckt und gewartet. Zunächst befürchtete Marcus, er werde ihn vor all den Leuten auffordern, zu verschwinden, doch stattdessen sagte er: »Mir wurde versichert, das Tier sei in exakt diesem Zustand hochgezogen worden. Nicht übel für fünfzig Millionen Jahre, habe ich Recht, Jungs?«

Einhelliges, zustimmendes Raunen kam unter den Männern ringsherum auf. Als sie wieder ruhig waren, sprach Marcus wieder.

»Fünfundsechzig Millionen«, korrigierte er ihn mit einiger Genugtuung, »und ist Ihnen zufällig das Offensichtliche aufgefallen?«

»Was meinen Sie?«

»Dass das Herz fehlt?« Er kauerte erneut nieder und schaute abermals in den Körper hinein. »Außerdem der größte Teil eines Lungenflügels.«

Er steckte seinen Kopf tiefer in das ausgefranste Loch, wobei er sich wünschte, eine Taschenlampe hier zu haben. Der Gestank im Inneren trotzte jeder Beschreibung, doch erstaunlicherweise erkannte er ihn wieder, während er sich bemühte, nicht zu würgen. Das hätte Xander nämlich bestimmt gut gefallen. Auf dem College hatte Marcus einmal im Chemielabor Nachschub von etwas besorgen wollen, eine Flasche mit der Aufschrift »Fäulnis« gefunden und aus Neugierde am Inhalt geschnuppert. Es war ein für Forschungszwecke perfektes Destillat genau jener organischen Verbindung gewesen, die verwesendes Fleisch produzierte. Dies roch er nun hier ebenfalls, davon war Marcus absolut überzeugt, nur tausend Mal strenger als das, was er aus jener kleinen Flasche aufgeschnappt hatte.

»Warum kriechen Sie nicht einfach weiter, bis Sie am Arsch wieder rauskommen?«, schlug Xander vor. »Dann könnten Sie vielleicht eine Arbeit darüber schreiben, jetzt wo Sie so viel Freizeit haben.«

Grobschlächtiges Lachen folgte auf diese Aussage. Marcus nahm Anstoß daran, doch wenigstens verlangte Dyson nicht, dass er verschwand. Er wurde mit dieser Schmach – und dem Gestank – fertig, solange er nur in der Lage war, sich dieses Prachtexemplar genauer anschauen zu können. Nachdem er aus dem fauligen Rumpf des Tiers wieder herausgeschlüpft war, ignorierte er Xander und ging zum Kopf des T-Rex.

Marcus nahm alle Einzelheiten der Haut des Reptils mit den Augen auf … das Gewirr von Schuppen, und wie sich einander überlagerten … das sah unnatürlich aus, wenngleich auch nur, wenn man die Haut eines Dinosauriers mit jener heutiger Echsen vergleichen würde. Zwischen den Schuppen tropfte zäher, gelblicher Schleim hervor, der sich wie ein Film ausbreitete. Vereinzelt schlug dieses Zeug sogar Blasen wie eine dünne Membran, die dann platzten. Marcus vermutete, es hänge mit der Feuchtigkeit zusammen, die nach dem Abtauen und dem plötzlichen Umgebungswechsel nach so langer Zeit im See noch nicht zur Gänze verdunstet war. Die Haut war insgesamt gezeichnet von Rissen, Scharten, Furchen und gelegentlich auch einem Einschussloch – obwohl sie an mehreren Stellen so dick war, dass Marcus die geplättete Patrone sah, die ein, zwei Zoll tief feststeckte.

Er begutachtete den ganzen Körper noch einmal aufmerksam. Kurz gesagt war dies ein verheerter, stinkender Kadaver und nicht der unversehrte Testkörper, den eines Tages zu finden geträumt hatte. Dennoch: Ein T-Rex blieb ein T-Rex.

Während er seine visuelle Untersuchung fortführte, hatte er die Befürchtung, Xander könne ihn jeden Moment auf die Bedingungen ihres jüngst getroffenen Übereinkommens hinweisen und endgültig aus diesem Bereich verbannen, vielleicht sogar in sein Quartier mit Ausgangssperre verweisen, bis sie das Festland erreichten. Er musste diese Gelegenheit hier nach Kräften ausschöpfen und hätte sich so gerne mehr Zeit dazu gelassen – und vor allem Fotos gemacht. Als er wieder vor das teilweise aufgesperrte Maul des Tiers trat, standen dort zwei Angehörige des Bohrteams und bewunderten den schieren Umfang der Kiefer sowie die stattlichen Reihen der je fünf Zoll langen, gebogenen Zähne, die knochenweiß anstatt dunkel oder gänzlich schwarz waren, wie jene der Fossilien, mit denen Marcus üblicherweise arbeitete.

Er sog einmal geräuschvoll Luft ein, hielt sie an und schaute dann in den Schlund hinein, wobei ihm die Augen vor Staunen fast aus dem Kopf fielen, während jene des Fundstücks geschlossen waren.

Hallo, Tyrannosaurus Rex!

Zaghaft streckte er einen Arm aus und legte die Hand auf die Schnauze, gleich über den Nüstern.

Ich berühre … ach was, streichle … einen T-Rex! Er rekapitulierte sein Leben mit den ausgestorbenen Reptilien bis zum heutigen Tage: wie er als Fünfjähriger zu Weihnachten ein Aufklappbuch voller Dinos geschenkt bekommen hatte oder als Teenager Jurassic Park im Kino gesehen hatte. Dann die Ausgrabung seines ersten fossilen T-Rex in Norddakota als angehender Student im Hauptfach Biologie und der Doktortitel in Paläontologie mit einer Arbeit unter der Überschrift Reflexionen auf die Obligate-Aasfresser-Hypothese im Falle des Tyrannosaurus Rex …

Hinzu kam nun, dass er hier stand und die wirkliche echte Haut eines beachtenswert gut erhaltenen T-Rex befühlte.

»Dr. Ramirez«, rief Xander, »seien Sie doch so gut und nehmen Sie ihre dreckigen Griffel von der Ware.«

»Stellen Sie sich dieses sexy Biest als Stripperin vor«, feixte einer der Arbeiter. »Anschauen, aber nicht anfassen!«

»Es sei denn, Sie spendieren die VIP-Suite …«, begann ein anderer.

Marcus konnte den Zorn nicht verbergen, der sich in seinen Zügen widerspiegelte. Nachdem er von der Schnauze des Dinosauriers abgelassen hatte, drehte er seinen Kopf zu Xander um, und wollte kontern, egal wozu es gut war, obwohl er wusste, dass es Konsequenzen für ihn und seinen Sohn geben würde, doch das war ihm im Moment vollkommen gleichgültig. Die Schmach und Ungerechtigkeit nagten immer noch an ihm. Dies war sein Fund, seine Ehre und sein großer Moment. Genau genommen lief sein ganzes Leben auf diese monumentale Entdeckung hinaus. Er hatte ungeheuer viel geopfert: seine Familie, die Gesundheit seiner Frau und auch seine eigene – all das nur hierfür, und koste es, was es wolle, er würde es sich jetzt nicht von diesem oder irgendeinem anderen Arschloch stehlen lassen.

Was dann geschah, kam so unverhofft und war so sonderbar, dass keiner der Anwesenden darauf gefasst war, am allerwenigsten Marcus.

DerT-Rex öffnete plötzlich ein Lid und starrte ihn mit einem schwarzen, feuchten Augapfel an, in dem sich kräftige rote Adern abzeichneten.

Er hob den Kopf und ein gutturaler, ächzender Laut entstieg seiner Kehle.

»Achtung!«, schrie einer der Arbeiter fassungslos, doch da war es schon zu spät.

Marcus, der seinen ganzen Zorn mit voller Aufmerksamkeit auf Xander gerichtet hatte, spürte plötzlich, wie seine Hand von der Haut des Dinosauriers abrutschte. Er dachte, jemand würde die Plattform von ihm fortrollen, damit er das Exponat nicht mehr anfassen konnte. Er machte gerade den Mund auf, um die Männer anzufahren, beginnend mit den Worten »Was zum Henker …«

Was er aber stattdessen von sich gab, war ein markerschütternder Schrei, von dem Marcus glaubte, er stamme gar nicht von ihm, sondern von jemand anderem. Unmöglich, dass er solche Urlaute ausstoßen konnte …

Dann übte plötzlich etwas fürchterlichen Druck auf seine Hand aus – eher als würde sein Gelenk in einen Schraubstock gespannt werden und nicht von etwas Scharfem zerkratzt –, und er wurde unweigerlich zu der Plattform gezogen. Dann ließ das Gefühl wieder nach – so schnell, wie es aufgekommen war. Es tat nicht mehr weh. Er spürte gar nichts mehr.

Marcus drehte sich um, weil er wissen wollte, was passiert war, genau in dem Moment, als das Tier den Kopf auf die andere Seite legte.

Seine Sinne registrierten zunächst das offene, rot-schwarze Auge, ehe er feststellte, dass seine linke Hand fehlte.

Blut spritzte fontänengleich aus seinem zerfetzten Unterarmansatz.

Dann fuhr die Riesenechse mit dem Kopf zurück in seine Richtung und schnappte erneut zu (war das sein abgebissener Arm, der in ihrem Schlund steckte?), woraufhin er außerdem wahrnahm, wie ihn jemand mit Gewalt nach hinten zog. Er fiel auf den Boden, als plötzlich die Hölle losbrach. Die Männer ließen ihn liegen, um die Gurte am Körper des Tyrannosaurus wieder festzurren zu können. Diese waren jedoch nicht dazu gedacht, einem lebendigen Tier Einhalt zu gebieten, sondern nur zum Fixieren eines Kadavers, und einer derjenigen am Oberkörper zerriss, als der Saurier den Kopf hin und her bewegte; mittlerweile immer schneller.

Alex hatte Recht, dachte Marcus, während er am Rande mitbekam, wie Xander völlig aufgelöst brüllte: »Betäubungsmittel!«

Der Paläontologe zwang sich dazu, den Kopf anzuheben, während sich sein Sichtfeld langsam an den Rändern zusammenzog. Ihm fehlte die Kraft, um in dieser Haltung zu verharren, weshalb er zurück auf den Boden sackte. Aber vorher sah er noch – hinter den wirren Flecken, die über seine Netzhäute wirbelten –, wie Dyson eine übergroße Patrone gleich einer Spritze in eine Waffe steckte, die an eine Harpune erinnerte, und dabei wie von Sinnen grinste.

Das Letzte, was er hörte, ehe er sein Bewusstsein verlor, war ein Laut, den die Erde seit Millionen von Jahren nicht mehr gehört hatte – das Brüllen eines Tyrannosaurus Rex, ein langgezogenes Kreischen wie von einer Todesfee bei Nacht.