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An Bord des Öltankers Hammond-1, mit Kurs auf Chile
Auf der Krankenstation schauten Veronica und Alex gleichzeitig auf, als sie plötzlich ein Kreischen aus einem anderen Bereich an Bord hörten.
»Was war denn das?«, fragten sie fast im Einklang.
»Keine Ahnung«, schob Alex flüsternd hinterher. »Außer … Ich habe ein ungutes Gefühl.«
Veronica schaute kurz wieder auf die Tasche mit den Schienen.
»Okay, gehen wir wieder, und hören Sie … Ich kann Ihnen nicht sagen, für wen ich arbeite, doch Sie haben Recht, ich bin keine Ärztin. Ich wurde von meinen Auftraggebern auf dieses Schiff geschleust – einflussreichen Menschen, die in schweren Verbrechensfällen gegen DeKirk ermitteln.«
Das musste Alex zunächst einmal verdauen.
»Mein Vater wurde ganz unerwartet entlassen, ohne dass es einen Anlass gegeben hätte. Ja, Ja, schon klar, der Bockmist, den ich gebaut habe, war bestimmt nicht unbedingt von Vorteil für ihn aber daran lag es nicht. Er meinte, DeKirk will jeden, der irgendetwas über die geborgenen Dinosaurier weiß, aus der Antarktis entfernen.« Er senkte seine Stimme und neigte sich zu Veronica hinüber. »Wir haben Soldaten gesehen, die aus keinem ersichtlichen Grund bewusst getötet haben! Darum würde ich nicht unbedingt darauf wetten, dass er mit einer simplen Schweigepflichtvereinbarung davonkommt.«
»Da hätte ich auch meine Bedenken«, gab sie zu. »Bleiben Sie auf der Hut – immer.«
Alex schüttelte den Kopf. »Was will er denn wirklich mit dem ganzen Dinosaurier-Scheiß?«
Veronica zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht genau, aber ich bin ihm schon seit vielen Jahren auf den Fersen, und glauben Sie mir, was auch immer es ist, er hält sie niemals mit Kleinkram auf. DeKirk hat seine Finger bei allen möglichen unlauteren Handelspraktiken und zwielichtigen Geschäften im Spiel. Weil er so stinkreich ist, kann er aber eine Menge Hürden aufstellen und Behörden für sich arbeiten lassen. Ihm ist nur schwer beizukommen. So nahe war ich lange nicht an ihm dran, obwohl ich mir nicht einmal sicher bin, wo er im Augenblick steht, also örtlich, meine ich.«
»Auf dieser Insel, die Sie anfahren, nachdem mein Dad und ich in Chile abgesetzt werden sollen, was werden Sie …«
In diesem Moment erscholl eine hektische Stimme aus Veronicas Funkgerät. Alex erkannte, dass es Xander war.
»Frachtraum an Krankenstation, Frachtraum an Krankenstation, bitte kommen!« Im Hintergrund seiner Übertragung hörte man die Rufe mehrerer anderer Männer.
Veronica hielt sich das Gerät vor den Mund und drückte die Sprechtaste. »Krankenstation hier.«
»Wir brauchen Sie hier unter Deck im Labor – sofort! Bringen Sie Betäubungsmittel, Sedativa und ein Ersthilfeset mit. Und beeilen Sie sich!«
»Ich war gerade unterwegs wegen des Verletzten auf dem Arbeitsdeck.«
»Der kann warten, das hier ist schlimmer!«
»Bin sofort da.« Veronica steckte sich das Funkgerät wieder an den Gürtel und schaute zu Alex auf, ehe sie sich wieder im Raum umsah. »Betäubungsmittel?«
Alex ließ kurz erkennen, dass er genervt war, und ließ danach die Bahre fallen. Er eilte zu einem verschlossenen Schrank. »Die harten Sachen sind wahrscheinlich hier drin. Haben Sie den Schlüssel?«
Veronica kramte in ihren Taschen herum.
»Heute noch!«
Nun wurde sie bleich und sah eindeutig verlegen aus, hielt dann aber doch einen Anhänger in der Hand. Sie ging die einzelnen Schlüssel durch, drückte zwei zusammen und reichte sie Alex dann. »Einer dieser beiden muss es sein.«
Er versuchte den Ersten vergeblich, doch als er den Zweiten ins Türschloss steckte, ließ dieser sich umdrehen. Nachdem er den Schrank geöffnet hatte, durchsuchte er die Regelböden voller Spritzen, Ampullen und Tablettendosen.
»Bringen Sie Ihren Koffer her.«
Veronica lief damit zu Alex und hielt ihn ihm offen hin, sodass er die verschiedenen Medikamente hineinwerfen konnte. Als der Koffer voll war, fiel ihm ein Stapel größerer Kästen aus rotem Plastik ins Auge. Zwei davon nahm er und gab sie Veronica. »Ersthilfesets.«
Während sie sich diese unter den Arm klemmte, griff Alex noch zu mehreren Fläschchen mit Pillen und überflog rasch die Etiketten; achselzuckend steckte er diese in seine Hosentasche. »Können wir vielleicht auch noch brauchen, gehen wir.«
Er hob die Bahre wieder auf, dann verließen sie die Station und eilten über den Flur hinaus auf den Laufsteg.
»Ich kann nicht an zwei Orten auf einmal sein«, keuchte Veronica, während die beiden über die schmale Treppe auf die untere Ebene hasteten. »Was wird aus dem Kerl auf dem Arbeitsdeck?«
Auf einem Absatz bugsierte Alex die Bahre um die enge Kurve. »Wir bringen die Trage und die Schienen einfach dorthin; die anderen können ihn stabilisieren und anschließend in ein Bett bringen. Wir gehen währenddessen in den Frachtraum und das Labor.«
Nachdem sie quer über das Schiff gelaufen waren, erreichten sie wieder das Achterdeck. Die Männer scharten sich immer noch um den Mann mit dem kaputten Knie, der nach wie vor unter heftigen Schmerzen stöhnte. Alex rannte hin und legte die Bahre neben ihn.
»Was hat Sie denn so lange aufgehalten?«, fragte einer mit Südstaatenakzent, während er Veronica misstrauisch anschaute.
»Anderswo an Bord wird mein Typ ebenfalls dringend verlangt«, erklärte sie.
»Ach ja? Dann sagen Sie dem Arschloch, dass er sich hinten anzustellen hat!«, empörte sich ein zweiter Arbeiter.
Veronica blieb stehen und bereitete sich auf ein Wortgefecht vor, deshalb nahm ihr Alex die Tasche mit den Schienen ab und hielt sie hoch. »Man nennt das Triagieren; schlagen Sie es in einem Wörterbuch nach. Hier … können Sie ihn selbst auf die Trage legen und schienen? Schaffen Sie ihn nach drinnen in ein Bett, und die Ärztin wird sich um ihn kümmern, sobald sie kann.«
Nun nickte einer der Männer und ließ sich von Alex die Tasche geben.
»Nehmen Sie auch das Ersthilfeset«, bot Veronica ihm an und gab ihm einen der roten Plastikkästen, die sie bei sich hatte.
Alex langte in seine Hosentasche und zog eines der Fläschchen mit Tabletten heraus. »Geben Sie ihm alle paar Stunden zwei hiervon gegen die Schmerzen, aber bitte keinen Alkohol dazu, nur wenn er einen Heidenspaß erleben will.«
Zur Überraschung aller öffnete der Verletzte am Boden seine Augen und sagte: »Danke Junge.«
Alex sah ihn eine Sekunde lang an, nickte und wandte sich dann ab, um schnell wieder zu verschwinden.
Jetzt da er die Bahre nicht mehr tragen musste, konnte er schneller laufen, weshalb Veronica auf dem Weg zum Laderaum größte Mühe hatte, mit ihm Schrittzuhalten. Als sie sich näherten, ertönte wieder jenes Kreischen, das sie drüben auf der Station nur leise gehört hatten. Jetzt war es viel lauter, ein repetitiver, kratziger Laut, der Alex an Fingernägel erinnerte, die über eine Tafel gezogen wurden.
Das große Flügeltor des Frachtraums war nun geschlossen. Er lief hin und zog an den Griffen, doch verblüffenderweise war das Tor verriegelt. Möchte Xander etwa neugierige Blicke fernhalten? Nachdem die beiden eine Treppe hinaufgestiegen waren, fanden sie einen runden Einstieg mit einer Leiter, die in den Frachtraum führte.
Alex ließ sich daran hinab, wie er es schon bei Crewmitgliedern beobachtet hatte, also, indem er, statt auf die Sprossen zu treten, lediglich mit den Händen und Füßen außen an den Stangen nach unten schlitterte. Veronica ging es konventionell, aber trotzdem zügig an, und folgte dem chaotischen Lärm in den Laderaum. Als Alex nach rechts schaute, sah er die Trennwand zur Koje seines Vaters, aber es schien niemand in der Nähe zu sein. Links hingegen herrschte ein heilloser Tumult.
Die Szene wirkte so absonderlich, dass er umgehend erstarrte, trotz der Dringlichkeit der Situation. Er starrte nur und versuchte, zu verarbeiten, was sich gerade vor ihm abspielte. Veronica tat es ihm gleich, indem sie das gottlose Schauspiel mit offenem Mund beobachtete, wobei ihr der Arztkoffer einfach aus den Fingern rutschte und auf den Boden fiel.
Der T-Rex lag auf der Stahlplattform, und die meisten Gurte, die ihn unten gehalten hatten, baumelten inzwischen zerrissen in der Luft, doch er … bewegte sich! … und fuhr mit seinem enormen Schädel hin und her, während seine kurzen Vorderläufe harmlos in der Luft ruderten. Alex fiel etwas auf, das nach einer schweren Verletzung im Brustbereich aussah, und fragte sich, ob Xanders Männer dies bei dem Versuch verschuldet hatten, den Saurier nach seinem Erwachen zurückzuhalten, oder ob es während des Kampfes geschehen war, den er unten in der Bohrgrube beobachtet hatte.
Als er so bewegungslos dastand, schwang der Kopf des Dinosauriers plötzlich mit einer ruckartigen Bewegung wieder herum, schnappte zu und erwischte eins der Crewmitglieder mit einem seiner langen Zähne, der sich sofort in die Schulter des Mannes bohrte und glatt durchging. Der Mann brüllte auf und entzog sich dem Saurier, drückte auf die Wunde und wich panisch zurück gegen die Wand. Als er das ganze Blut sah, führten der tiefe Schock und die Angst dazu, dass er nach vorne umkippte und sein Bewusstsein verlor.
»Kommen Sie!«, rief Alex in der Hoffnung, Veronica aufrütteln zu können, damit sie handelte. Tatsächlich hob sie ihren Koffer auf, und die beiden rannten zu dem gefallenen Mann. Die Körper zweier Crewmitglieder, die schon zur Hilfe geeilt waren, versperrten ihm die Sicht, sodass Alex zunächst nur einen blutigen Armstumpf ohne Hand am Ende sah. Oh Gott. Einer der Männer zog gerade einen Gürtel als Aderpresse um den Unterarm, aber noch immer sprudelte Blut aus der offenen Handwurzel.
Alex sprintete zu der Echse hinüber, die nunmehr langsamer zuckte und träge brummte, nachdem der dritte Betäubungspfeil ihren Schenkel getroffen hatte.
»Halt endlich still!«, fluchte Xander, während er nachlud. »Scheiße, das sollte doch sogar genügen, um einen Wal einzuschläfern, und trotzdem gibt das Vieh keine Ruhe!«
Zwei Männer machten sich gerade daran, ein Tau zum Anbinden von Fracht als Schlinge um den Hals des Tiers zu legen, ohne von den immer noch schnappenden Kiefern erfasst zu werden, da geschah es, dass Alex zum ersten Mal das Gesicht des Verletzten mit dem Armstumpf sah.
Es war sein Vater!
Er fiel neben ihm auf die Knie. »Dad! Was ist passiert?«
Die Gesichtszüge des Arbeiters, der erste Hilfe hatte leisten wollen, entspannten sich, als er Alex wiedererkannte. »Das Monster ist plötzlich zum Leben erwacht, als dein Vater vor seinem Maul stand und es untersucht hat, doch dann hat es ihm plötzlich die Hand abgebissen, ehe wir überhaupt wussten, was los ist!«
Daraufhin schaute sich der Mann die Wunde an, deren Ansatz zerfranst aussah, da mehrere lange Hautlappen herabhingen. Diese hatten bereits einen kränklich grauen Farbton angenommen, durchzogen von beunruhigend gelben Streifen. »Na ja, doch nicht ganz so glatt. Wir müssen das irgendwie in den Griff bekommen, zuallererst die Blutung stillen, also …«
»Hey! Wurde verdammt nochmal höchste Zeit, dass Sie endlich hier aufkreuzen, Doc!« Xanders Stimme unterbrach den Austausch, nachdem er sein Gewehr heruntergenommen hatte, nun da er sich damit begnügte, dass das Ungeheuer fürs Erste still war.
»Was ist mit seinem Arm?«, wollte Alex wissen und schaute sich auf dem Boden um, als liege er vielleicht noch irgendwo herum. Er hatte gehört, manchmal könne man Glieder wieder annähen, falls man sie bis dahin auf Eis legte. Der Mann, der an der Aderpresse zog, schüttelte langsam den Kopf und zeigte auf den Dinosaurier, der jetzt regungslos dalag, während die Crew sicherheitshalber noch einen Niederhalter um seine Schnauze zurrte.
»Herhören!«, donnerte Xander. »Ich will, dass sie alle den Raum sofort verlassen, alle außer der Ärztin. Du auch.« Er zeigte auf Alex.
»Aber er ist mein Vater!«
Xander riss die Augen seinen Männern gegenüber weit auf und neigte den Kopf zur Seite, als er den Blick auf den Jungen richtete – ein unausgesprochener Befehl. »Lassen Sie ausgebildetes Fachpersonal ran, Junge. Frau Doktor hier wird Ihren Vater bestimmt mit größter Umsicht behandeln.«
»Aber …«
»Doc«, fuhr Dyson fort, als sich Veronica dem Blutbad näherte. Sie hielt ihren Koffer fest umklammert und schien in Gedanken versunken zu sein. »Anscheinend ist der Arm vorerst sicher abgebunden. Ich möchte nun, dass Sie diesem Mann Blut abnehmen – pronto – und es in meinem Labor auf dem Hauptdeck abgeben, ist das klar?«
Veronica kniete sich vor Marcus hin. »Ich habe Sie schon verstanden, aber seine Hand … die hat Vorrang; warum eine Blutprobe?«
»Entnehmen Sie sie einfach«, verlangte Xander noch herrischer.
Veronica stellte den Koffer neben dem ohnmächtigen Paläontologen ab und öffnete ihn. Heraus nahm sie eine Spritze sowie eine Dose Schmerztabletten und Betäubungsmittel.
Xander drehte sich auf dem Absatz um und ging zum T-Rex, wo er über seine Schulter zurückrief: »Alle außer der Ärztin und mir raus hier, und zwar jetzt sofort!« Dann fiel ihm der Leichnam eines Arbeiters ins Auge, den das große Tier während des Vorfalls getreten und aufgespießt hatte. »Schafft den Toten auch raus, schnell! Sperrt diesen Bereich komplett ab!«
Alex stellte sich quer, fest entschlossen, seinem Vater nicht von der Seite zu weichen, doch ein Besatzungsmitglied packte ihn nun fest an beiden Schultern. »Junge verziehen Sie sich, jetzt gleich. Zwingen Sie mich nicht dazu, Sie nach draußen zu schleifen; das will ich nicht. Hier geht es auch so schon verrückt genug zu.«
Nun stand Alex zähneknirschend auf. Kurz bevor er sich umdrehte, stellte er Blickkontakt zu Veronica her. »Riechsalz und Adrenalinspritzen stecken in dem Ersthilfekasten; vielleicht kommt er dadurch wieder zu sich«, sagte er und machte sich auf den Weg nach draußen. »Versuchen Sie das aber nur, wenn es wirklich sein muss.« Er schaute noch einmal hinab in das friedliche Gesicht seines Vaters. Am Besten lässt sie ihn schlafen; womöglich träumt er gerade zum letzten Mal bis auf längere Zeit angenehm.
»Ich bin mir sicher, die Ärztin weiß, was sie tut.« Der Arbeiter lächelte Veronica zu. »Jeder meint, er würde sich auskennen, richtig?«, fügte er hinzu, während er kurz auflachte, als Alex außer Hörweite war.
Veronica blickte auf Marcus’ blutverklebten Stumpf und dann auf die Spritze in ihrer Hand, während Xander die Arme verschränkte und ungeduldig zuschaute.
»Äh, ja, richtig.«