Dienstag, 24. Februar, 8.30 Uhr
Jack war entzückt. »Wir haben mehr herausgefunden als nur die DNS von unserem Burschen«, verkündete er zufrieden. »Er muss außerdem Halsschmerzen haben. Wir haben Spuren von Menthol im Kaffee gefunden, als hätte der Kerl beim Trinken Hustenbonbons gelutscht.«
»Oh, Jubel über Jubel«, sagte Mia beißend. »Es ist Grippesaison. Treiben wir alle mit Triefnasen zusammen.«
»Vielleicht hat er deshalb daneben geschossen«, überlegte Abe. »Es geht ihm nicht besonders.«
»Der Arme«, sagte Kristen. »Mein Herz blutet für ihn.«
»Auf jeden Fall haben wir jetzt seine Markierung.« Mia hielt ein Tütchen hoch. »Quasi frisch aus der Gussform.«
Spinelli nahm die Tüte und hielt sie gegen das Licht. »Die ist aber in einem guten Zustand.«
»Sie haben sie aus Carsons rechter Lunge operiert«, fügte Abe hinzu. »Der Chirurg hat sie erst vor ein paar Stunden holen können.«
»Und wir können froh sein, dass wir dabei waren«, knurrte Mia. »Der hätte sie fast weggeschmissen.«
»Was ihm dann so peinlich war, dass er Mia gleich zum Essen eingeladen hat«, sagte Abe grinsend, und nach einem finsteren Blick zu ihrem Partner begann auch Mia zu grinsen.
»Diesmal also ein Arzt. Es geht aufwärts mit mir.«
Spinelli schüttelte den Kopf und lächelte widerstrebend. »Und wie geht’s weiter?«
»Julia will heute die Autopsie an Arthur Monroe durchführen«, erklärte Mia. »Irgendwie finde ich es seltsam. Conti ist so brutal zugerichtet worden, aber Monroe …« Sie zuckte die Achseln. »Nur ein einziger Schuss in den Kopf, und das war’s. Nicht das, was ich erwartet hätte, wenn man bedenkt, dass Monroe ein kleines Mädchen missbraucht hat.«
»Ich schätze, Conti war ein Fehltritt«, sagte Jack. »Er ist wütend geworden, weil Conti Kristen öffentlich angegriffen hat. Das war … etwas Persönliches. Jetzt ist er wieder ganz der Profi.«
»Vielleicht ist er aus dem Konzept gebracht worden«, bemerkte Kristen. »Bei Conti hat er die Kontrolle verloren.«
»Was ein weiterer Grund dafür sein kann, dass er Carson verfehlt hat«, sagte Abe. »Aber ich würde gerne wissen, wie er Carson in den Hinterhalt gelockt hat. Wir wissen, dass Skinner an dem Tag, als er ermordet wurde, Post bekommen hat. Finden wir heraus, ob es bei Carson ebenso war.«
Spinelli runzelte die Stirn. »Fragen Sie ihn doch.«
Mia schüttelte den Kopf. »Wir haben nach der Operation gewartet, ob er wieder zu sich kommt, aber er hat es nicht getan. Das Krankenhaus will uns anrufen, wenn er das Bewusstsein wiedererlangt.«
»Und was ist mit Muñoz?«, hakte Spinelli nach. »Was hat er mit Carson zu tun?«
Mia zuckte die Achseln. »Carson hat den Jungs, die ihn fanden, gesagt, er hätte ihn als Bodyguard angeheuert.«
»Was im Augenblick, wie man hört, ziemlich viele Verteidiger tun«, warf Kristen ein. »Einer hat mir sogar seine Rechnung gefaxt, bevor ich gestern das Büro verließ.«
»Toller Bodyguard«, murmelte Jack. »Der Typ hatte nicht einmal eine Waffe.«
Mia zog die Stirn in Falten. »Ihr habt keine Waffe gefunden? Er hatte aber ein Holster um. Ich hab’s gesehen, bevor der Sack zugemacht worden ist.«
»Wir haben sie ihm nicht weggenommen«, gab Jack zurück. »Das Einzige, was er bei sich trug, war das Handy.«
»Dann muss die Waffe ein anderer genommen haben«, meinte Abe. »Jemand, der die Schießerei beobachtet hat und dort war, bevor die Polizei eintraf.«
»Vielleicht war’s der Killer.«
Mia schüttelte den Kopf. »Warum hätte er dann nicht auch Muñoz’ Handy mitnehmen sollen? Darüber hätten wir ihn doch finden können – über das Handy.«
»Wieder GPS«, bemerkte Jack. »Du hast Recht, Mia. Wenn der Killer die Geistesgegenwart gehabt hätte, die Waffe einzustecken, hätte er das Handy ebenfalls mitgenommen. Muñoz hat es in der Hand gehalten.«
»Das heißt, wir haben einen Zeugen«, folgerte Abe.
»Der einen Lieferwagen mit einem gefälschten Emblem gesehen hat.« Kristen seufzte. »Was nützt uns das?«
»Irgendwann muss jemand doch etwas sehen, was uns weiterbringt«, sagte Abe zuversichtlich. »Marc, können Sie jemanden abstellen, der die Pfandleiher abklappert? Ich schätze, dass Muñoz’ Pistole nicht gerade billig war, und derjenige, der sie gestohlen hat, will sie bestimmt verkaufen.«
Spinelli machte sich eine Notiz. »Ich werde Murphy bitten. Er hat gerade einen größeren Fall abgeschlossen.«
»Wer immer sie genommen hat, hat wahrscheinlich schon eine eigene«, überlegte Mia.
»Offenbar hat jeder eine, außer mir«, brummelte Kristen.
Abes Lippen zuckten. »Du kriegst deine ja morgen, aber wenn du sie schon mal besuchen willst, dann kannst du mit uns zu Diana Givens kommen. Da du ja ohnehin ›auf Urlaub‹ bist.«
»Was?«, fragte Jack entgeistert. »Was ist los?«
»Ich bin zwangsbeurlaubt worden. Die Verteidiger sehen eine Bedrohung in mir.« Sie sagte das so knochentrocken, dass Mia kicherte.
Auch Abe musste grinsen. »Nehmen Sie es uns nicht übel, Marc. Wir haben alle nicht gerade viel geschlafen.«
Spinelli bedachte Kristen mit einem nachdenklichen Blick. »Waren Sie auch am Tatort?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber deswegen habe ich trotzdem nicht viel mehr geschlafen. Ich habe gestern Nacht, als alle bei Carson im Krankenhaus waren, ein wenig recherchiert.« Sie legte die Hand auf den Stapel Blätter, der vor ihr auf dem Tisch lag. »Mit Ausnahme der Blade-Geschichte und Angelo Conti hatte jeder Mord mit einer Sexualstraftat zu tun. Trotzdem scheint es kein Muster zu geben. Keine zeitliche Rangfolge. Er springt ein Jahr vor, dann wieder eins zurück, wieder vor. Es gibt keine Gemeinsamkeiten bei den Urteilen, außer dass niemand tatsächlich eingesessen hat. Einige sind ganz freigesprochen worden, andere auf Bewährung auf freien Fuß gesetzt. Außerdem holt er sich die Verteidiger. Ich würde sagen, er zieht seine Opfer per Zufall aus dem Hut, nur dass im Hut jede Menge Sexualstraftäter stecken.«
»Okay.« Spinelli deutete auf die Papiere. »Und was haben Sie da?«
»Alle Sexualstraffälle, die ich in den letzten fünf Jahren verhandelt habe und bei denen der Täter nicht ins Gefängnis gekommen ist. Ich glaube eigentlich nicht, dass es zwischen den Fällen Verbindungen gibt. Aber der Killer war in irgendeiner Hinsicht in einen dieser Fälle verwickelt, da bin ich mir sicher. Es muss nichts mit den Opfern zu tun haben, die er bereits gerächt hat. Vielleicht kommt das noch. Vielleicht sind die anderen …« Sie zuckte die Achseln. »Ein Dienst an der Menschheit oder so was.«
»Unser ergebener Diener.« Jack stieß pfeifend die Luft aus.
»Genau. Jedenfalls denke ich, die Chancen, dass das nächste Opfer einer von dieser Liste ist, sind recht groß. Entweder ein Straftäter oder ein Verteidiger.«
Spinelli sträubten sich die Haare. »Jetzt sagen Sie bloß nicht, Sie würden vorschlagen, alle unter Polizeischutz zu stellen.«
»Nein, Marc. Aber erinnern Sie sich, dass Westphalen gesagt hat, der Täter könnte – direkt oder indirekt – vor kurzem ein Trauma erlebt haben? Nun, Sie haben die bisherigen Opfer befragt und nichts gefunden, was einem Trauma zum Zeitpunkt des ersten Mordes, den an Anthony Ramey, nahe kommt. Ich dachte, ich könnte damit anfangen, die Opfer all dieser Fälle anzurufen und mich zu erkundigen, wie es ihnen geht. Vielleicht hat eines davon in letzter Zeit tatsächlich etwas Traumatisches durchgemacht.«
»Wenn wir den Killer an der Strippe haben, wird er das wohl kaum zugeben«, warf Jack ein.
Kristen zog eine Braue hoch. »Das habe ich mir natürlich auch gedacht. Und ich habe auch nicht geglaubt, dass meine Idee uns den großen Durchbruch bringt. Aber vielleicht kann ich ein paar Namen von der Liste streichen. Was haben wir denn sonst? Eine DNS, einen Bewusstlosen, einen Teilfingerabdruck und eine Kugel.«
»Der Mann wird hoffentlich wieder zu sich kommen, und die Kugel können wir zurückverfolgen«, sagte Abe.
Kristen zuckte die Achseln. »Dann tut das. Dass ich mich mit alten Fällen befasse, stört euch doch nicht.«
»Tatsächlich konnte uns das etwas bringen, Abe«, sagte Mia langsam. »Im Übrigen ist Kristen ›beurlaubt‹. Wenn ich sie wäre, würde ich durchdrehen, wenn ich nichts tun könnte.«
»Das kommt auch noch dazu«, gab Kristen zu. »Sobald ich meinen Kamin fertig habe, kann ich nur noch Däumchen drehen, und das macht mich wirklich wahnsinnig. Außerdem bin ich nicht suspendiert worden – ich darf nur nicht an laufenden Fällen arbeiten. Von archivierten Fällen hat niemand gesprochen.«
Abe verstand ihr Bedürfnis, sich zu beschäftigen. Auch er hatte sich auf die Arbeit gestürzt, nachdem Debra niedergeschossen worden war. An den meisten Tagen war es das Einzige gewesen, was sein Leben zusammengehalten hatte. »Dann mach es von hier aus«, sagte er. »Ich will nicht, dass jemand die Anrufe zu dir nach Hause zurückverfolgt.«
»Da stehen aber eine Menge Namen drauf«, sagte Spinelli zweifelnd. »Sie werden Tage dafür brauchen.«
Kristen sah alle nacheinander an. »Hört zu, wir haben hier neun Tote. Neun. Ich habe nicht vor, auf irgendeine Beerdigung zu gehen und sie zu beweinen, aber sie sind trotzdem tot. Skinner hat Frau und Kinder hinterlassen. Wenigstens sie haben es verdient, dass der Fall aufgeklärt wird. Mein Leben steckt in der Warteschleife, und gestern hat jemand meine Mutter bedroht. Bis wir diesen Typen haben, habe ich alle Zeit der Welt.«