Freitag, 27. Februar, 8.55 Uhr

Sie warteten schweigend, als sie zurückkam. Das Make-up hatte nicht viel an ihren verquollenen Augen und der roten Nase ändern können, aber sie hatte es wenigstens versucht. Abe begegnete ihrem Blick, und sie sah Stolz in seinen Augen. Sie setzte sich neben ihn und blickte in die Runde. Mia betrachtete sie mitfühlend. Jack und Murphy wirkten noch immer schockiert. Spinelli sah aus, als sei er zwischen Wut und Kummer hin und her gerissen. Miles Westphalen hatte sich zu ihnen gesellt, aber sie hatte keine Ahnung, ob sie ihn angerufen hatten, weil sie neue Informationen hatten, oder weil sie befürchteten, dass sie zusammenbrechen könnte. Sie hatte allerdings nicht vor nachzufragen.

»Ich habe Lois gebeten, uns Leah Brodericks Akte per Kurier zu schicken.« Sie legte den Ordner auf den Tisch und ordnete einen Moment lang ihre Gedanken. »Leah Broderick wurde vor nicht ganz fünf Jahren vergewaltigt. Ihr Fall gehörte zu den ersten Sexualstraftaten, die ich bekam, aber das ist nicht der Grund, warum ich mich so gut an sie erinnern kann. Leah war geistig behindert. Sie funktionierte auf dem Level einer Zwölf- oder Dreizehnjährigen. Sie wusste, dass sie langsam war, und sie hasste es. Sie war eine sehr stolze junge Frau.«

»Sie war? Wieso sagen Sie war?«, fragte Miles.

Kristen legte die Hände flach auf den Tisch, um das Zittern zu unterdrücken. »Sie waren es, der ein Trauma als Auslöser vermutet hat, Miles. Ich habe gestern versucht, Leah zu erreichen, aber ihr Anschluss ist abgeschaltet. Ich rief den Supermarkt an, wo sie gearbeitet hat, aber da hat man sie seit einem Jahr nicht mehr gesehen.« Sie schaute zu Abe auf. »Ich mag auch keine Zufälle.«

»Das klingt nicht gut«, murmelte er.

»Noch mal zu Leah. Sie hatte Arbeit, sie fuhr mit dem Bus. Sie war aktiv in der Gemeinde tätig, sie half in der Sonntagsschule. Jeder, der sie kannte, liebte sie. Und dann eines Tages ging sie von der Haltestelle nach Hause und traf auf Clarence Terrill.«

»Einer der zwei Männer, die unsere Leute nicht ausfindig machen konnten«, sagte Abe.

»Das Paket«, sagte Miles. »Richter, Verteidiger, Angeklagter. Wie Sie vermutet haben.«

Kristen wischte sich die feuchten Handflächen an ihrer Hose ab. »Clarence Terrill war bereits wegen zweifacher Vergewaltigung bekannt. Aber er gehörte zu denen, die irgendwie durch das System rutschten. Er vergewaltigte auch sie. Leah konnte eine gute Beschreibung liefern, und es gab sogar einen Zeugen, der gesehen hatte, wie er sie in den Wagen gezerrt hatte. Er hatte bei seinen Kumpels geprahlt, dass er ›die Zurückgebliebene klargemacht‹ hatte. Der Fall war eindeutig. Wir hatten seine DNS. Simpsons Strategie in solchen Fällen war es gewöhnlich, seinen Klienten dazu zu bringen, den Sex zuzugeben, aber zu behaupten, das Ganze sei in gegenseitigem Einverständnis geschehen. Was eindeutig nicht der Fall war. Trotz ihres Handicaps war Leah eine sehr glaubhafte Zeugin. Bis Simpson sie ins Kreuzfeuer nahm. Er war absolut skrupellos. Er hat jede Regel gebrochen, aber Hillman ließ es einfach zu. Ich habe so häufig Einspruch eingelegt, dass Hillman mich in sein Zimmer zitierte und mir sagte, dass er mich wegen Missachtung des Gerichts mit einer Ordnungsstrafe belegen würde, wenn ich die Verhandlung weiterhin störte.« Sie verengte zornig die Augen. »Damals war ich noch grün hinter den Ohren. Das sollte er jetzt mal versuchen.«

»Falls er noch lebt«, sagte Abe.

»Hoffen wir’s«, murmelte Mia.

»Simpson hatte Zeugen vorgeladen, die aussagten, sie würden Leah von der Schule kennen, wo ja jeder gewusst hätte, dass sie ziemlich leicht zu haben gewesen sei. Und bestimmt sei sie auf Clarence Terrill zugekommen.« Sie schlug die Akte auf. »Tyrone Yates war einer von dreißig Namen auf der Zeugenliste. Genau wie der andere Botenjunge, den ihr in Schutzhaft genommen habt.«

»Ich würde vorschlagen, ihn laufen zu lassen«, sagte Jack und wirkte nicht im mindesten schuldbewusst.

»Sie standen nicht in meiner Datenbank, weil Simpson sie nicht als Zeugen aufrief. Ich legte Einspruch ein, nachdem drei dieser kleinen Bastarde ausgesagt hatten, und diesen ließ Hillman ausnahmsweise gelten. Dann begann Simpson, sich ihre Kleidung vorzunehmen. Sie würde knappe Sachen anziehen, die zu viel zeigten, was nicht stimmte. Ob sie Jungen mochte? Sie stand unter Eid, also bestätigte sie das. Wollte sie eines Tages heiraten, interessierte sie sich für Sex? Hatte sie schon mit jemandem geschlafen? Mochte sie es? Einspruch, Einspruch, Einspruch, und Hillman verdonnerte mich zu einer Ordnungsstrafe. Dennoch hielten die Geschworenen Terrill für schuldig. Hillman dankte ihnen und schickte sie nach Hause, und als sie gegangen waren, sagte er, er würde Leahs Zeugenaussage entnehmen, dass sie den Akt willig vollzogen habe, sodass er sich über das Urteil des Schwurgerichts hinwegsetzen würde.«

Mias Kinnlade fiel herab. »Das gibt es doch gar nicht.«

Kristen schwieg einen Moment. »Ich war wie vom Donner gerührt. Ich weiß noch genau, wie sich Terrill und Simpson lachend auf die Schultern klopften und Terrill Leah im Hinausgehen zuzwinkerte. Er zwinkerte ihr zu! Ich konnte es nicht fassen. Leah war am Boden zerstört.« Sie seufzte und blätterte durch die Papiere im Ordner. »Leah hat nur noch ihre Mutter als Familie, aber sie hat sehr viele Freunde. Wenn einer von ihnen unser Rächer ist, dann haben wir einiges vor uns.«

Chicago Reihe 03 - Des Todes liebste Beute
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