Sonntag, 22. Februar, 11.30 Uhr
Die Stelle, die auf der Karte mit dem Kreuzchen markiert worden war, befand sich nur wenige Meter von dem Ort, an dem Angelo Contis Wagen Paula Garcias gerammt hatte. Wie passend. Auf dem Grabstein war Paula Garcias Name und der ihres ungeborenen Sohnes eingraviert worden. Abes Augen brannten, als er den Stein betrachtete; er empfand ein Mitgefühl für Thomas Garcia, das die anderen vermutlich nicht nachvollziehen konnten. Ein drückendes Schweigen lag über dem Fundort, das nur von dem Geräusch der Schaufeln und einem gelegentlichen Fluch von einem der Spurensicherungsleute unterbrochen wurde.
»Oje.« Mia verzog angewidert das Gesicht, als Jacks Team die Erde von Angelo Contis Gesicht bürstete. Oder von dem, was von seinem Gesicht übrig geblieben war.
Julias Reaktion war ähnlich. »Diesmal ist es mit eurem Burschen offensichtlich durchgegangen.«
Sie hoben die Leiche behutsam aus der flachen Vertiefung. Abe drehte sie vorsichtig um, und sie sahen eine Reihe Prellungen am unteren Rücken. »Wagenheber?«
Julia kniete sich neben den Körper. »Wahrscheinlich. Das kann ich genauer sagen, wenn ich ihn gesäubert habe.«
»Conti hat mit dem Wagenheber auf Garcia eingeprügelt«, sagte Mia. »Aber davon hat die Öffentlichkeit nichts erfahren.«
»Also wieder Insiderinformationen«, murmelte Abe. »Na, toll.«
Julia ließ ihren Blick besorgt über Contis Leiche gleiten. »Was ich eben gesagt habe, stimmt, Abe. Er hat anscheinend die Kontrolle verloren. Ich habe lange nicht mehr einen so zugerichteten Körper gesehen. Hat er Kristen immer noch im Visier?«
Abe presste die Lippen zusammen. »Ja. Und wir haben noch immer nichts Brauchbares.«
Julia zuckte die Achseln. Ihr Seufzer bildete ein weißes Wölkchen in der eisigen Luft. »Sieh es positiv. Er hat die Beherrschung verloren. Dann kann er auch Fehler machen. Vielleicht finden wir ja diesmal etwas, das uns weiterbringt.« Sie nickte ihrem Assistenten zu, der die Leiche geübt in einen Sack hüllte und den Reißverschluss zuzog. »Ich bin gestern Abend mit Skinners Autopsie fertig geworden. Er hat Blut in den Lungen.«
Mia stieß einen frustrierten Laut aus. »Also war es so, wie wir vermutet haben.«
Julia nickte. »Ich habe Jack heute Fotos der Druckstellen an seinem Schädel gegeben. Er versucht, das passende Modell einer Schraubzwinge zu finden. Skinners Kniescheiben waren, genau wie Kings, zerschmettert, und die Schusswunde im Kopf ist ihm erst nach dem Tod zugefügt worden.« Sie zog die Gummihandschuhe aus und warme, lederne an. »Oh, und ich konnte Gipsabdrücke von den Ligaturmalen an Rameys Hals anfertigen. Die hat Jack auch schon.«
»Gute Arbeit, Julia«, sagte Abe.
»Danke. Seht zu, dass ihr den Typen findet, bevor er mir noch mehr Überstunden verschafft. Ich bin heute Abend mit einem Dreijährigen verabredet, der gar nicht verstehen will, warum Mami so oft absagt, um stattdessen tote Leute aufzuschneiden.« Sie winkte und ging.
Abe wandte sich zu Mia um. »Sie hat ein Kind?«
»Und was für ein süßes. Ihr Mann hat sie verlassen, und sie hat es als allein Erziehende alles andere als leicht.«
»Harter Job.« Abe schaute zu Jack hinüber, der beobachtete, wie Julia ihren Assistenten Anweisungen gab, während sie den Leichensack in den Wagen der Rechtsmedizin luden. »Und welche Rolle spielt Jack?«
»Gar keine.« Mia verdrehte die Augen. »Das ist vollkommen einseitig.« Ihre Miene wurde plötzlich spitzbübisch. »Was man bei anderen ja nicht gerade behaupten kann.«
Zu seinem Entsetzen spürte Abe, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. »Das reicht, Mia. Machen wir ein paar Fotos vom Tatort. Ich –«
Ein Warnschrei ließ ihn herumwirbeln, und er sah, wie Julia von einem Mann mit silbergrauem Haar gegen den Lieferwagen gestoßen wurde. »Mist«, zischte er und rannte los. »Jacob Conti.«
Jack war schneller. Er zerrte Conti bereits von Julia, als Abe, gefolgt von Mia, den Wagen erreichte. »Hände weg«, knurrte Jack, und Abe trat hastig zwischen sie.
»Ganz ruhig, Jack«, murmelte Abe, und Jack trat einen Schritt zurück, obwohl er noch immer vor Wut bebte. Abe wandte sich an Conti, der ihn mit wildem Blick anstarrte. »Dies ist ein Leichenfundort, Mr. Conti. Ich fürchte, ich muss Sie bitten, hinter die Absperrung zu gehen.«
»Es geht hier um seinen Sohn, verdammt.« Ein zweiter Mann, sehr groß, die Haltung eindeutig drohend, trat zu ihnen.
Mia zog ihr Notizbuch hervor. »Und Sie sind, Sir?«
»Drake Edwards. Mr. Contis Sicherheitschef. Wir wollen Angelo sehen.«
Mia sog scharf die Luft ein. »Wir hatten noch vor, Sie über den Tod Ihres Sohnes zu informieren, Mr. Conti. Aber im Augenblick halte ich es für besser, wenn Sie nicht zugegen sind.«
Conti schloss die Augen. Er fiel förmlich in sich zusammen, und Edwards legte ihm einen Arm um die Schultern, um ihn zu stützen. »Dann ist es also wahr?«, murmelte Edwards. »Es ist Angelo?«
Mia nickte. »Ja, Sir. Wir denken schon.«
Contis Lider flogen auf. »Wir denken schon? Und warum wissen Sie es nicht? Sie –« Seinen Augen weiteten sich, als ihn die Erkenntnis wie ein Schlag in die Eingeweide traf. »Er hat etwas mit seinem Gesicht angestellt. Sie … Sie können ihn nicht identifizieren.« Er sprang auf die Tür des Wagens zu, aber Edward hielt ihn zurück und murmelte etwas in sein Ohr. Fasziniert sah Abe zu, wie sich im Gesicht des Industriellen eine Veränderung vollzog und Conti sich einen Augenblick später vollkommen gefasst an Julia wandte, die sich von dem Schreck noch nicht erholt hatte. »Wann können wir seine Leiche haben?«, fragte er kühl. »Seine Mutter möchte ihn so bald wie möglich begraben.«
»Wenn die Gerichtsmedizin fertig ist«, fauchte Jack, aber Julia legte eine Hand auf seinen Arm.
»Ich tue, was in meiner Macht steht, um die Untersuchung zu Ende zu bringen, Mr. Conti«, antwortete sie mit leicht zitternder Stimme. »Mein Beileid für Ihren Verlust.«
Conti nickte steif und wandte sich ab, immer noch gestützt von seinem Sicherheitschef.
»Woher wusste er es?«, fragte Julia leise. »Woher wusste er, dass es Angelo ist?«
Als Contis Wagen davonfuhr, entdeckte Abe im Hintergrund Zoe Richardson, deren Kameramann alles, was sich abspielte, auf Film bannte. Nun kam sie, ohne zu zögern, mit dem Mikrofon auf sie zu.
»Da kommt unser Schatten«, sagte Julia.
»Oder eher der Aasgeier«, fügte Abe beißend hinzu.
»Schlampe«, knurrte Jack.
»Sie muss eiskalt sein«, sagte Mia.
Abe trat vor. Er war wütend, aber er wusste, dass er sich zusammennehmen musste. Diese Frau machte ihnen die Ermittlung und das Leben systematisch schwerer. »Miss Richardson, ich muss Sie leider bitten weiterzugehen. Dies hier ist ein polizeilich abgesperrter Tatort, und Sie haben hier nichts zu suchen.«
Sie ignorierte ihn und hielt Julia das Mikrofon vors Gesicht. »Dr. VanderBeck, hat Mr. Conti Ihnen etwas getan?«
»Kein Kommentar«, fauchte Mia und trat vor die Kamera. »Sie werden jetzt von hier verschwinden, Miss Richardson, oder ich verhafte Sie wegen Behinderung der Polizei.«
»Aber –«
»Gehen Sie!« Mia griff nach den Handschellen, und der Kameramann senkte die Kamera.
»Wir gehen ja schon«, sagte er und warf Richardson einen Blick aus dem Augenwinkel zu.
Richardson schüttelte wütend den Kopf. »Ich denke ja gar nicht dran. Sie sind diejenigen, die hier etwas behindern, und zwar ein Bürgerrecht. Der Bürger hat das Recht auf Informationen.«
»Ich sagte, wir gehen«, wiederholte der Kameramann. Schockiert wandte Zoe sich um. Sie sah aus, als könne sie nicht fassen, dass ihr Mitarbeiter Widerworte gab.
»Ich denke, Sie gehen«, wiederholte Abe trocken.
Richardson sah ihn an, und ihr Blick war hasserfüllt. »Übrigens … wo ist Mayhew denn?«
»Nicht in Ihrer Reichweite. Und falls Sie uns nicht ein weiteres Band überlassen wollen, sollten Sie jetzt tun, was Ihr Kameramann Ihnen nahe gelegt hat.« Er sah ihr nach, als sie davonstampfte. »Ich kann diese Frau wirklich nicht ausstehen.«
Julia strich sich den Mantel glatt. »Kein Wunder. Ich fahre jetzt ins Leichenschauhaus – da ist es wenigstens still. Ich rufe an, wenn ich etwas Neues habe.« Sie schaute zu Jack auf. »Vielen Dank«, sagte sie sanft, wandte sich um und stieg in den Wagen. Zurück blieb ein verwirrter Jack, dessen Wangen sich dunkel verfärbten.
»Vielleicht ist die Sache doch nicht so einseitig«, murmelte Mia grinsend. »Scheint ja im Augenblick zu grassieren.«