Montag, 23. Februar, 8.00 Uhr

Spinelli sah besorgt aus. Sehr besorgt. Und man konnte es ihm nicht verübeln, dachte Abe. Sie hatten nichts in der Hand.

Spinelli lehnte sich mit einer Hüfte an den Tisch des Konferenzraumes. »Wenn ich dann einmal zusammenfassen darf …« Er hob die Hand und begann aufzuzählen. »Erstens, wir haben zwei weitere Leichen. Zweitens, eine der leitenden Staatsanwältinnen dieser Stadt ist zweimal überfallen worden, einmal sogar bei sich zu Hause. Drittens ist die Saison auf Verteidiger eröffnet worden.«

»Was nicht das Schlechteste sein muss«, murmelte Mia und kassierte dafür einen bösen Blick von Spinelli.

»Viertens, der Captain hat am Wochenende stündlich Anrufe von Jacob Conti bekommen, weil die Gerichtsmedizin – O-Ton Conti – seinen Sohn ein zweites Mal zerlegt, und fünftens« – nun hielt er alle fünf Finger hoch – »haben wir keinen einzigen gottverdammten Verdächtigen.«

Mia rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. »Das trifft es so ungefähr.«

»Kristen hat ihren Angreifer gestern Nacht das Gesicht zerkratzt«, sagte Abe. »Was hat die Untersuchung der Hautfasern unter den Nägeln ergeben?«

Jack, der neben Mia saß, zuckte die Achseln. »Ich kann dir die DNS geben, aber solange wir keinen Verdächtigen haben, nützt uns das wenig bis gar nichts.«

Spinelli starrte frustriert auf die Tafel. »Und Julia hat nichts auf Skinners Leiche gefunden? Kein Haar, keine Fasern, kein gar nichts?«

Jack schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich habe zwar ein bisschen Schmutz in Skinners Kleidern gefunden, aber das bringt uns auch nicht weiter. Die Schlamm- und Chemikalienreste passten zu der Umgebung bei der stillgelegten Fabrik, wo wir auch die Kugel gefunden haben, was uns nur bestätigt, dass Skinner tatsächlich da gewesen ist. Die Schraubzwinge, mit der der Killer seinen Kopf festgehalten hat, was so fest angezogen, dass die Seriennummer sich in die Haut abgedrückt hat. Julia konnte die Schläfen einfärben und ein recht gutes Foto davon machen. Es ist ein Werkzeug Marke Craftsman.«

»Hält ein Leben lang«, murmelte Mia. »Bringt unterm Weihnachtsbaum jeden Papi zum Strahlen.«

»Ich habe auch eine«, grummelte Spinelli. »Meine Frau hat sie mir vor drei Jahren für meine Werkbank geschenkt.«

»Jeder zweite Heimwerkerhaushalt in Chicago wird so was haben«, wandte Jack ein.

»Was ist mit der Kugel?«, wollte Spinelli wissen.

»Wir haben sie in allen größeren Waffengeschäften in der Stadt herumgezeigt«, sagte Mia. »Niemand erkennt die Markierung. Sie ist einfach zu stark beschädigt. Außerdem würde niemand mit selbst hergestellten Kugeln auf öffentlichen Schießständen üben, heißt es. Aber ich habe nachgedacht und –«

»Ach nee«, sagte Spinelli, und Mia warf ihm einen Blick zu, der halb verärgert, halb verletzt war.

»Oh, doch, das tue sogar ich gelegentlich, Marc«, sagte sie ruhig.

Spinelli seufzte. »Tut mir Leid, Mia. Ich weiß, dass ihr alle das ganze Wochenende an diesem Fall gearbeitet habt. Aber ich habe heute Morgen einen Anruf vom Captain bekommen. Der hatte gerade mit dem Bürgermeister gesprochen, der wiederum pausenlos von Conti bedrängt wird, der verlangt, dass wir mehr Energie und Leute in diesen Fall stecken. Der Bürgermeister war nicht gerade glücklich, daher war unser Captain ebenso wenig glücklich. Außerdem hat anscheinend jeder Verteidiger dieser Stadt angerufen und gejammert. Es heißt, wir würden vermutlich mehr Leute auf diesen Fall ansetzen, wenn die Staatsanwälte das Ziel wären.« Spinelli biss die Zähne zusammen. »Meine Güte, was für ein Schwachsinn.«

»Sie sind also extrem mies drauf«, schloss Mia. »Okay, das ist Ihr Recht. Aber lassen Sie es nicht an mir aus.«

»Okay.« Spinelli seufzte. »Also – Sie haben nachgedacht, Mia. Was kam dabei heraus?«

Mia sah noch immer beleidigt aus. »Nur, dass dieser Typ, der sich so viel Mühe macht, seine eigenen Patronen zu gießen, und nicht auf einem öffentlichen Schießstand trainiert, seinen eigenen Schießstand haben wird. Dazu würde er ein Stück Land brauchen, auf dem ihn keiner sieht und wo es keine Nachbarn gibt, die die Polizei rufen könnten. Seit dem elften Neunten sind die Leute ja immer ein bisschen empfindlich, wenn der Nachbar Rambo spielt.«

»Guter Ansatz, Mia«, sagte Abe. »Wenn er ein Stück Land besitzt, taucht sein Name in den Grundbüchern auf. Die können wir dann mit den Kundennamen der Sandstrahler vergleichen.«

»Leider nicht mit den Floristen«, sagte Jack.

Mia schnaubte. »Mein Gott, darüber könnte ich mich immer noch ärgern. Ich habe stundenlang Blumenhändler überprüft. Alles für nichts.«

»Sind wir denn da sicher?«, hakte Spinelli nach. »Wir haben die Aussage von zwei Kids, die jeweils ein anderes Emblem auf einem weißen Lieferwagen gesehen haben wollen. Müssen sie zwingend die Wahrheit sagen?«

»McIntyre hat ihn doch auch gesehen«, wandte Abe ein, und Spinelli zuckte resigniert die Achseln.

»Außerdem – warum sollten die Jugendlichen ausgerechnet in diesem Punkt lügen?«, fragte Jack. »Was würde ihnen das bringen?«

»Insbesondere, da einer der Jungen direkt an einem Streifenwagen vorbeimarschiert ist, um Contis Paket abzugeben«, fügte Mia hinzu. »McIntyre saß draußen vor Kristens Haus, als Tyrone Yates das Ding ablieferte. Wenn sie mit unserem Killer unter einer Decke stecken würden, wären sie bestimmt nicht so dreist gewesen.«

Abe durchfuhr ein beängstigender Gedanke. »Sie nicht – er vielleicht schon.«

Mia wandte sich stirnrunzelnd zu ihm um. »Was meinst du damit?«

Abe setzte sich an den Computer und rief die Verbrecherkartei auf. »Wie hat unser Killer die beiden Jugendlichen ausgesucht? Zufällig? Sie stammen aus verschiedenen Gegenden, gehen auf verschiedene Schulen. Hat er sich einfach irgendwen herausgepickt?«

Spinellis Miene wurde grimmig. »Er macht nichts zufällig. Dazu ist er zu gut organisiert. Alles baut auf allem auf, jeder Schritt ist geplant. Abe, sagen Sie mir bitte, dass diese zwei Jungen gottesfürchtige Engelchen waren, die niemals mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Bitte.«

Abe gab Tyrone Yates’ Name ein und wartete darauf, dass der Computer die angeforderten Daten abrief. Einen Moment später seufzte er tief. »Der Bursche hat ein Vorstrafenregister, das länger ist als mein Arm. Überfall, Diebstahl, Hehlerei und so weiter, und so weiter.«

Mia verharrte. »Und was ist mit Aaron Jenkins?«

Das einzige Geräusch im Raum war das Klacken der Tastatur. Dann: »Ebenso. Ein paar mindere Vergehen und kleinere Diebstähle.« Er scrollte die Seite abwärts. »Er ist vor vier Monaten achtzehn geworden. Die Jugendakte ist unter Verschluss.« Abe schaute auf und sah, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. »Er hat diese Jugendlichen ans Messer geliefert.«

Jack zog die Stirn in Falten. »Ich kann dir nicht folgen.«

Abe lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er hat diese Kids nicht zufällig herausgepickt, dessen bin ich mir sicher. Vielleicht hegt er persönlichen Groll gegen sie, vielleicht haben sie ihm oder jemandem, den er kennt, etwas getan. Wenn er sie engagiert und bezahlt, nehmen die Leute doch an, sie würden ihn kennen. Es sind kleine böse Buben, sie sind berüchtigt in ihrer Gegend. Die Sache spricht sich herum, und plötzlich werden sie mit dem Mörder in Verbindung gebracht. Jemand, der den Killer haben will, knöpft sich jetzt erst einmal die beiden Burschen vor.«

Jack schüttelte den Kopf. »Aber das macht keinen Sinn, Abe. Nicht nur, dass es dabei sehr viele ›Vielleichts‹ gibt. Wenn er persönlich etwas gegen die Jungs hat, warum bringt er sie dann nicht gleich um?«

Abe hob die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht gibt es unter Selbstjustizlern einen Ehrenkodex oder so. Vielleicht war das, was sie gemacht haben, nicht schlimm genug, dass er sich selbst darum kümmern muss, aber, hey! – wenn jemand anderes sich die Lorbeeren verdienen will, dann hat er nichts dagegen. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass wir im Moment nicht mehr haben.«

Mia schloss die Augen. »Wir haben allen in der Gegend Aaron Jenkins’ Bild gezeigt. Der ganzen, durchgeknallten Nachbarschaft.«

Jack massierte sich die Schläfen. »Und jeder mit Fernseher weiß dank Zoe Richardson, mit welchem Fall ihr zwei betreut seid.«

»In den gestrigen Nachrichten ist Tyrone Yates’ Foto gezeigt worden«, sagte Spinelli.

Abe presste die Kiefer zusammen. Er hatte die gestrigen Nachrichten verpasst; er war mit Kristens Angreifer beschäftigt gewesen. »Woher hat Richardson das Foto?«

Spinelli fuhr sich müde durchs Haar. »Sie muss gestern in der Nähe von Kristens Haus herumgelungert sein. Die Aufnahme, die gesendet wurde, war extrem körnig. Man sah Yates in McIntyres Streifenwagen warten. Und dann haben sie gezeigt, wie Conti Julia attackiert hat. ›Ein Vater trauert‹, hat Richardson das genannt.« Er schnaubte verächtlich. »Meine Frau hat die Nachrichten aufgenommen, da wir ja gestern alle in Kristens Haus zu tun hatten.«

Mia stand auf und ging unruhig umher. »Das heißt also, dass dank uns und Richardson die Identitäten der Jungen allgemein bekannt sind.«

»Die zwei werden den Killer nicht identifizieren können«, sagte Jack. »Es sei denn, sie haben uns bei ihrer Aussage angelogen.«

»Vielleicht haben sie das ja«, sagte Abe. »Vielleicht auch nicht. Falls ja, will ich sie hier haben und die Wahrheit aus ihnen rauspressen. Falls nein, ist ihr Leben in Gefahr, denn wer immer sie nach dem Killer fragt, wird ihnen nicht glauben. Wir wissen, dass die Blades heiß auf diese Information sind – heiß genug, um Kristen auf offener Straße anzugreifen. Lasst uns die Jungs zu ihrem eigenen Schutz herholen. In der Zwischenzeit will ich herausfinden, was die beiden mit unserem ergebenen Diener verbindet. Kristen jedenfalls hatte mit den Strafsachen der zwei nichts zu tun.«

Chicago Reihe 03 - Des Todes liebste Beute
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