Donnerstag, 19. Februar, 19.00 Uhr
Wo ist Spinelli?« Mia warf ihre Jacke über einen Stuhl im Konferenzzimmer. Abe sah, dass jemand ihnen eine weiße Tafel hingestellt hatte, auf der sie ihre Indizien und alles, was sie hatten, befestigen konnten. Am Tisch saß bereits eine Frau in einem weißen Laborkittel, und Jacks Mantel hing über der Stuhllehne neben ihr, wenn auch Jack selbst nirgendwo zu sehen war. Die Frau erhob sich und streckte die Hand aus.
»Ich bin Julia VanderBeck«, sagte sie, während sie seine Hand schüttelte. »Gerichtsmedizin.«
Sie war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, hatte große braune Augen und milchkaffeebraune Haare. Sie war hübsch, stellte er fest, und wahrscheinlich hätte niemand es ihm verübelt, wenn er Interesse gezeigt hätte. Dummerweise konnte er aber nur an elfenbeinfarbene Haut, grüne Augen und wilde Locken denken.
»Ich bin Abe Reagan«, sagte er. »Sie haben jetzt alle fünf Leichen drüben?«
»Ja. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber warten, bis alle hier sind, damit ich mich nicht wiederholen muss.« Sie hatte die Bitte höflich formuliert, aber die Erschöpfung hatte sie ungeduldig gemacht.
Mia ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Wo ist Spinelli?«, fragte sie erneut. »Und Jack?«
»Wir sind hier«, sagte Spinelli, der mit einem Stieltopf in der Hand durch die Tür kam. »Wir haben Besuch.« Sein Blick war vergnügt.
»Besuch, der stets willkommen ist«, fügte Jack hinzu, der seinerseits einen ganzen Stapel Tupperware-Schüsseln hereintrug.
Abe erkannte die Schüsseln, noch bevor er die Stimme seiner Mutter hörte und sie in den Raum gewuselt kam. »Abe!« Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn geräuschvoll auf die Wange, ohne sich um das Grinsen seiner Mitarbeiter zu kümmern.
»Mom.« Sie lächelte zu ihm auf und wirkte so glücklich, dass er nicht das Herz hatte, ihr zu sagen, dass sie nicht hätte herkommen sollen. Unwillkürlich erwiderte er ihr Lächeln. Er hatte sich ohnehin schon gefragt, wann sie hier auftauchen würde. Sean hatte zwar erzählt, dass ihr Mann es ihr förmlich untersagt hatte, aber Becca Reagan tat gewöhnlich, was sie für richtig hielt. »Was hast du getan?«
»Sag mir bloß nicht, dass ich hier nichts zu suchen habe.« Sie sah ihn streng an. »Ich habe deinen Lieutenant Spinelli angerufen, um deine Durchwahl zu kriegen, und er hat mir freundlicherweise gesagt, dass ihr alle die ganze Nacht arbeiten würdet, sodass ich mir keine Sorgen zu machen bräuchte.«
Spinelli hob den Deckel vom Topf, und Abe roch den Duft von Kohleintopf. Sofort lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Auch Spinelli sog anerkennend das Aroma ein. »Ihre Mutter hat angeboten, für das Abendessen zu sorgen.« Er grinste. »Da konnte ich ja wohl schlecht ablehnen.«
Abe beugte sich herab und küsste seine Mutter auf die Wange. »Danke, Mom.« Sie errötete, und er fand, dass sie genauso hübsch aussah wie damals, als sie zu seiner Einschulung mit Schokoladenkuchen in seiner Klasse aufgetaucht war. »Das ist lieb von dir.«
»Natürlich.« Sie bückte sich, um Pappteller und Plastikbesteck aus der riesigen Tasche zu holen, ohne die sie niemals vors Haus ging. »Ich kann doch nicht zulassen, dass ihr hungert, nicht wahr?«
Mia beugte sich schnuppernd über den Topf. »Ist da Fleisch drin?«
Seine Mutter sah sie indigniert an, zog aber plötzlich besorgt die Stirn kraus. »Selbstverständlich ist da Fleisch drin. Sie sind doch nicht etwa Vegetarierin?«
Mia lachte. »Gott bewahre, Ma’am. Ich bin Detective Mia Mitchell, Abes neue Partnerin.«
Nun sah Becca noch besorgter aus. »Sie sind seine neue Partnerin?«
Mia lachte erneut, keine Spur beleidigt. »Keine Angst. Bei mir ist er in Sicherheit.«
Spinelli nickte bestätigend. »Mia kann hervorragend auf sich selbst aufpassen.«
Mit zweifelndem Blick ging Abes Mutter auf die Tür zu. »Also gut. Dann lasse ich euch mal arbeiten.«
Abe sah zu, wie Mia sich erst begeistert eine riesige Portion Eintopf nahm und den übervollen Teller dann knurrend vor sich auf den Tisch stellte. In aufgesetzter Panik riss Jack die Hände hoch und wich zurück.
»Ich bringe dich runter, Mom.«
Seine Mutter wartete, bis sie unten an der Treppe angekommen waren. »Und wer war die andere? Die in dem weißen Kittel?«
»Sie ist Gerichtsmedizinerin.« Abe lachte leise, als seine Mutter ein Gesicht zog. »Aber sie hat sich bestimmt die Hände gewaschen, bevor sie das Leichenschauhaus verlassen hat.«
»Lieber Himmel.« Sie zuckte die Achseln. »Nun ja, irgendjemand muss das ja machen. Und was ist mit deiner neuen Partnerin?« Sie schaute durch die Wimpern zu ihm auf. »Die ist niedlich.«
Abe lachte. »Vergiss es, Mom. Es würde dir gar nicht gefallen, wenn sie auf mich stehen würde. Wir beide wären nur abgelenkt und könnten uns nicht mehr um die bösen Buben kümmern.«
Seine Mutter grinste. »Gutes Argument. Bringst du mir das Geschirr zurück?«
»Am Sonntag, wenn ich zum Essen komme. Vielleicht sogar früher.«
»Ah, du hast schon mit Sean gesprochen.« Ihr Lächeln verblasste. »Dann weißt du es schon.«
Ja, er wusste es. Er hatte geschafft, es in den Hintergrund seines Bewusstseins zu drängen, aber es hatte den ganzen Tag an ihm genagt. Nun sah er Sharon und Jim vor seinem inneren Auge, und sein Magen krampfte sich zusammen.
Er und Debras Eltern hatten sich noch nie besonders gut verstanden, aber ihre Beziehung war rundheraus feindselig geworden, als es mit seiner Frau zu Ende gegangen war. Er drückte den Arm seiner Mutter. »Mach dir keine Sorgen. Ich habe versprochen, Sean und Ruth die Taufe nicht zu verderben.«
»Nein, auf den Gedanken wäre ich auch nicht gekommen, Abe. Ich wollte nur nicht, dass du unvorbereitet bist.«
Nein, das würde sie niemals zulassen. Sie stand zu ihren Kindern, was immer geschehen würde, und dafür liebte er sie umso mehr. »Ich bin gewarnt.« Er küsste sie wieder. »Danke für das Essen, Mom. Ich komme vorbei, sobald ich kann.«
Sie legte ihre Hände an sein Gesicht, bevor er sich wieder aufrichten konnte, und sah in seine Augen. »Ich bin so froh, dass du eine neue Stelle hast«, flüsterte sie eindringlich.
»Ich weiß.«
»Ich habe mir jeden Tag die größten Sorgen gemacht.«
Sie war die Frau eines Berufspolizisten und Mutter von Männern, die ebenfalls diese Laufbahn eingeschlagen hatten. Sie kannte die Gefahr, und sie lebte damit, aber sein Undercover-Einsatz hatte die ganze Familie belastet, und das war ihm immer bewusst gewesen. Zu Anfang der verdeckten Ermittlung hatte er ungefähr einmal im Monat gewagt, sie zu besuchen, aber je weiter die Operation fortschritt, desto größer die Abstände. In der Nacht, in der Debra gestorben war, hatte er das letzte Mal einen Besuch zu Hause riskiert. Das war ein volles Jahr her. Und er hatte es bei Nacht und Nebel getan. Doch nun war es vorbei. Ab jetzt konnte er nach Hause gehen, wann immer er wollte. »Ich weiß, Mom. Aber ich bin okay, wirklich.«
Ihre Hände hielten noch immer sein Gesicht, und er begann, seinen Nacken zu spüren, doch er versuchte nicht einmal, sich aufzurichten. »Ich hoffe, es war dir nicht allzu peinlich, dass ich hier einfach hereingeschneit bin. Aber ich musste dich sehen.«
»Ich liebe dich, Mom. Du bist wundervoll.« Ihre Augen glitzerten, und er grinste, um der Situation den Ernst zu nehmen. »Aber du solltest es dir vielleicht nicht zur Gewohnheit machen. Die Burschen hier sind unersättlich wie streunende Hunde. Wenn du sie einmal fütterst, wirst du sie nie wieder los.«
Sie lachte zittrig und ließ ihn los, dann zeigte sie durchs Fenster auf die Straße. »Abe, hilf der Frau dort. Sie ist zu zart, um so eine Last zu schleppen.«
Kristen, beladen mit einer großen, braunen Tüte, versuchte, die Tür mit einer Hand zu öffnen, und plötzlich fiel es ihm wieder ein. Sie hatte Essen besorgen wollen, und er konnte nur hoffen, dass es ihr nichts ausmachte, alles in den Kühlschrank zu packen. Er hatte ernsthafte Zweifel, dass dort oben noch jemand hungrig war, nachdem seine Mutter sie verköstigt hatte. Dass jemand Restaurantessen den Mahlzeiten seiner Mutter vorziehen würde, kam ihm erst gar nicht in den Sinn. Schnell öffnete er die Tür und nahm ihr gleichzeitig die Tüte ab. »Ich nehme das schon.«
Kristen rollte die Schultern. »Danke. Die Tüte schien mir gar nicht so schwer, als Owen sie mir zum Wagen getragen hat.« Sie warf einen Blick zu seiner Mutter, die neugierig darauf wartete, vorgestellt zu werden, und sah ihn fragend an.
»Kristen, das ist meine Mutter, Becca Reagan. Mom, das ist Kristen Mayhew. Sie arbeitet im Büro der Staatsanwaltschaft.«
Seine Mutter musterte sie unverblümt von Kopf bis Fuß. »Im Fernsehen sehen Sie größer aus.«
Kristen lächelte höflich. »Sie sind die Erste, der das aufgefallen ist.«
»Manchmal möchte ich diese komische Reporterin am Kragen packen und schütteln, bis sie weiß, wie man sich benimmt.«
Kristens Lächeln wurde aufrichtig. »Nett, dass Sie das sagen, Mrs. Reagan. Meistens möchte ich nämlich genau das auch tun.«
Becca schwieg einen Moment nachdenklich. »Meine Tochter möchte Anwältin werden«, fügte sie schließlich hinzu.
»Annie?«, fragte Abe überrascht.
»Nein, nicht Annie.« Seine Mutter sah ihn verärgert an. »Annie hat einen Beruf. Informiere dich besser, Abe! Nein, Rachel.«
»Rachel kann nicht Anwältin werden wollen. Sie ist doch noch ein kleines Mädchen.« Rachel war eine späte Überraschung im Eheleben seiner Eltern gewesen … oder eher ein später Schock. Es lagen zweiundzwanzig Jahre zwischen ihm und dem jüngsten Spross der Reagans, und sie war für alle Geschwister eher wie eine Tochter.
»Rachel ist dreizehn«, wies seine Mutter ihn scharf zurecht. »Und du tust gut daran, dir das bis zu ihrem Geburtstag im Mai zu merken. Ich will keine Stofftiere oder Püppchen dieses Jahr sehen, verstanden? Aus so etwas ist sie längst herausgewachsen.«
Abe seufzte frustriert. Rachel konnte doch nicht wirklich schon dreizehn sein. Unmöglich. Dreizehn hieß Jungs und Make-up und … Jungs. Allein der Gedanke ließ ihn schaudern. Er und seine kleine Schwester würden sich unterhalten müssen. »Was will sie denn zum Geburtstag?«
»Bares.« Sie wandte sich wieder zu Kristen um. »Sie hat sich in den Kopf gesetzt, wie Sie zu werden.«
Kristen riss die Augen auf. »Wie ich?«
»Aber ja. Sie hat Sie im Fernsehen gesehen. Wären Sie eventuell bereit, mal mit ihr zu reden?«
Kristens Mundwinkel hoben sich vergnügt, und Abe hielt bei dem Anblick unwillkürlich die Luft an. So hatte er sie bisher noch nicht erlebt, und der verschmitzte Ausdruck stand ihr ungemein gut. »Wollen Sie, dass ich es ihr ausrede, Mrs. Reagan?«
»Keine Ahnung. Sollte ich das wollen?«
Kristen zuckte die Achseln. »Manchmal würde ich sagen ja, manchmal nein. Aber ich unterhalte mich gerne mit ihr. Ihr Sohn hat die Nummer meines Büros.«
Ihr Sohn. Wieder eine unpersönliche und formelle Anrede, und langsam ärgerte er sich darüber. Er hatte einen Vornamen, verdammt. Sie hatte Mia und Jack und Marc mit Vornamen angeredet. Das war eine Frage der Höflichkeit, oder etwa nicht? »Wir müssen jetzt hoch, Mom. Die anderen warten auf uns. Fahr bitte vorsichtig.«
Seine Mutter blinzelte über seinen barschen Ton. »Natürlich. Und vergiss nicht, mir mein Geschirr zurückzubringen.«
Kristen schaute ihn misstrauisch an. »Was für Geschirr?«
»Die Essenspläne haben sich geändert. Meine Mutter hat uns einen kleinen Snack gebracht.«
Kristen begann, die Treppe hinaufzugehen, wobei sie sich den Mantel aufknöpfte. »Wie klein ist der Snack?«
»Was würden Sie von Backhähnchen zum Frühstück halten?«
Sie zuckte die Achseln. »Wär ja nichts Neues.«