Mittwoch, 25. Februar, 11.30 Uhr

Kristen legte den Hörer behutsam auf, obwohl sie ihn viel lieber auf die Gabel geworfen hätte, wie Ronette Smith es gerade getan hatte. Ronette ging es gut, vielen Dank der Nachfrage, ihrer Familie ging es gut, und ihr Leben verlief recht gut, was nicht dem amerikanischen Rechtssystem zu verdanken war. Und mir auch nicht, dachte Kristen, während sie sich die Schläfen rieb. Daran hatte Ronette keinen Zweifel gelassen.

Genauso wenig wie die anderen ehemaligen Opfer, die sie angerufen hatte. Kristen sah sich die Liste der Namen an. Beinahe die Hälfte hatte sie bisher erreichen können. Drei hatten vor kurzem ihre Arbeit verloren, was ein traumatisches Ereignis sein konnte, aber keine der drei Frauen hatten sich angehört, wie sie es von einem Mörder erwarten würde.

Und wie, denkst du, soll sich ein selbst ernannter Rächer und Mörder von neun Menschen anhören? Kalt? Leidenschaftslos? Irre?

Sie dachte über die Frage nach, als ein Schatten über ihre Papiere fiel. Sie blickte auf in der Erwartung, Abe oder Spinelli zu sehen, riss jedoch die Augen auf, als sie Milt Hendricks vor ihrem Tisch entdeckte. Johns Chef. Automatisch stand sie auf. »Mr. Hendricks.«

Er warf einen Blick auf die Zettel vor ihr, dann sah er ihr wieder ins Gesicht. »Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, Kristen. Ich will mich nur vergewissern, dass Sie wissen, warum ich Sie aus dem Gericht gezogen habe.«

»Weil die Verteidiger Angst bekommen haben und Sie befürchten, es könne bei jedem Fall, mit dem ich zu tun hatte, zu Berufung kommen«, wiederholte Kristen Johns Worte.

Hendricks nickte. »Das stimmt. Aber ich will auch, dass Sie aus dem Rampenlicht treten können. Aus irgendeinem Grund hat dieser Rächer Sie ausgewählt. John sollte Ihnen klar machen, dass es sich hier um eine Frage Ihrer Sicherheit handelt, nicht um eine Bestrafung. Ich war jedoch unter den gegebenen Umständen nicht sicher, ob er Ihnen das wirklich vollständig vermitteln konnte. Dies hier ist nur vorübergehend, Kristen. Sie haben die beste Verurteilungsquote in der ganzen Stadt. Wenn die Sache vorbei ist, will ich Sie zurückhaben. Obwohl ich aus den Papieren hier schließe, dass Sie keinesfalls zu arbeiten aufgehört haben.«

Kristen spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Trotz stieg in ihr auf. »Ich helfe der Polizei. Wir müssen meine alten Fälle durchgehen«, antwortete sie. »Wir sind sicher, dass es da eine Verbindung gibt.«

Hendricks zog eine Braue hoch. »Hat John es Ihnen erlaubt?«

»Er hat es mir nicht verboten, Sir«, sagte sie lahm, und seine Lippen zuckten.

»Ich verstehe. Nun, ich sehe nicht, was dagegen sprechen könnte. Seien Sie nur vorsichtig.« Er sah sie wieder ernst an. »Passen Sie auf sich auf. Ich habe bereits einen meiner besten Anwälte verloren. Ich will nicht noch einen verlieren.«

Kristen wich das Blut aus dem Gesicht. »John? Ist ihm etwas passiert?«

»Nein, nein. Gesundheitlich geht es ihm gut. Aber er hat heute Morgen seine Kündigung eingereicht. Ich habe sie akzeptiert.«

Kristen setzte sich und sah zu ihm auf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Er hat seine Position kompromittiert«, erwiderte Hendricks schlicht, »und damit die ganze Dienststelle in Verruf gebracht. Hoffen wir, dass dies alles bald vorbei ist und wir wieder vernünftig arbeiten können. Oh, und ich habe gehört, dass Sie die Jugendakte von diesem Aaron Jenkins brauchen. Betrachten Sie sie als geöffnet.« Er neigte den Kopf, dann war er fort, und Kristen starrte auf die Tür am Ende des Großraumbüros, durch die er verschwunden war.

»Mund zu oder das Herz wird kalt, hätte meine Mutter gesagt.«

Kristen wandte den Kopf nach links und entdeckte Aidan Reagan, der am Nebentisch lehnte. Sie klappte den Mund hörbar zu, und er grinste. »Lust auf Mittagessen?«

»Du fragst mich, ob ich mitkomme?«

»Ja. Abe sagte, du müsstest heute eine Bestellung abholen, und ich habe gerade Rachel-Pause.«

»Bestellung? Oh, stimmt.« Sie fasste sich an die Stirn. »Meine Pistole. Die drei Tage sind um.« Dann zog sie die Brauen zusammen. »Rachel-Pause? Was soll das heißen. Ist alles okay mit ihr?«

»Ja, keine Sorge. Ich bin nur heute ihr Schatten, weil ich diese Woche Nachtschicht habe. Ich bringe sie zur Schule und hole sie wieder ab, bis diese Geschichte hier vorbei ist. Und jetzt sag bloß nicht, dass es dir Leid tut«, warnte er sie. »Mein Vater würde ausrasten und dir in den Hintern treten.«

Ein kleines, schuldbewusstes Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Wie geht’s ihm?«

Aidan zuckte die Achseln. »Na ja. Und er ist richtig mies drauf. Ich glaube, am meisten ärgert es ihn, dass er die Kerle nicht richtig vermöbelt hat. Sein Stolz hat einiges einstecken müssen. Aber das wird schon wieder.«

Kristen musterte ihn einen Moment lang misstrauisch. »Und du hast deine Einstellung mir gegenüber also geändert?«

Aidans Wangen wurden dunkler, genau wie Abes, wenn er verlegen war. »Tut mir Leid, dass ich am Anfang so unhöflich war. Übrigens – ich habe von den Blade-Graffiti an deiner Hauswand gehört, und Abe meinte, du wolltest dir vielleicht einen Hund zulegen. Ich kenne jemanden, der Hunde für das Sondereinsatzkommando trainiert. Interesse?«

Gerührt nahm Kristen ihren Mantel. »Gehen wir.«

Chicago Reihe 03 - Des Todes liebste Beute
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