Donnerstag, 19. Februar, 19.15 Uhr
Spinelli kratzte gerade den letzten Happen von seinem Teller, als sie eintraten. »Ich wollte schon einen Suchtrupp ausschicken.«
»Aber ohne mich.« Mia leckte ihre Gabel ab. »Wenn Abe nicht zurückgekommen wäre, hätte ich jetzt noch mehr essen können.«
»Habt ihr uns überhaupt etwas übrig gelassen?« Abe spähte in den Topf.
Mia grinste. »Nur das Grünzeug.«
Abe stellte Kristens Papiertüte auf den Tisch und holte zwei Styroporbehälter heraus. »Okay, dann lasst uns mal anfangen. Julia, was können Sie uns über die Leichen sagen?«
Julia holte einen Notizblock hervor. »Ich habe alle fünf Leichen um zwei Uhr nachmittags hereinbekommen.«
Abe reichte Kristen einen der beiden Behälter und setzte sich neben sie, und wieder spürte sie die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Sie dachte daran, wie er im Haus der Dorseys hinter ihr gestanden, wie sicher sie sich in seiner Gegenwart gefühlt hatte. Jetzt allerdings fühlte sie sich vor allem bedrängt. Er nahm enorm viel Platz am Tisch ein, aber den Stuhl etwas von ihm abzurücken kam ihr unhöflich vor, also blieb sie sitzen, wo sie war, und konzentrierte sich auf das, was zählte. Sie hatten fünf Tote im Leichenschauhaus, und der Mann, der sie dorthin gebracht hatte, lief frei herum und plante wahrscheinlich bereits den nächsten Mord. »Todesursache? Kopfschuss?«, fragte sie.
Julia schüttelte den Kopf. »Wenn’s doch nur so einfach wäre. Leider ist es verflixt kompliziert, mitschreiben wäre daher nicht schlecht. Also: Fünf Tote. Alle hatten Schusswunden im Schädel, aber diese Kugeln haben nur drei davon getötet, und zwar unsere drei Gangmitglieder. Ramey und King wurden die Kopfwunden postmortem zugefügt und stammen von einer anderen Waffe.«
Alle Anwesenden blickten sie stumm und aufmerksam an.
»Ramey ist erwürgt wurden. Die Röntgenbilder zeigen, dass sein Kehlkopf zerdrückt wurde. Ich konnte ein sehr gutes Bild von den Ligaturmalen machen. Ihr Täter hat fest zugezogen, die Abdrücke sind tief.« Sie reichte Jack ein Foto. Er betrachtete es kurz und gab es weiter. »Wir können vielleicht sogar einen Gipsabdruck der Kettenglieder machen. Ich gebe Ihnen Bescheid. Ramey hatte außerdem eine Fraktur an der Schädelbasis. Wahrscheinlich hat der Killer ihn mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen, bevor er ihn erwürgt hat.«
»Irgendeine Idee, was für ein stumpfer Gegenstand?«
»Noch nicht. Ich gebe Bescheid, wenn ich etwas weiß. Rameys Zustand legt keine Gegenwehr nahe, er hat nichts unter den Fingernägeln. Um das Loch in seinem Kopf waren Pulverreste zu finden. An Hand- und Fußgelenken Abschürfungen.«
»Er hat Ramey also niedergeschlagen, ihn gefesselt, erwürgt, eine Kugel in den Kopf gejagt und ihn anschließend begraben.« Spinelli hielt die Einzelheiten an der Tafel fest und wandte sich stirnrunzelnd um. »Der Kopfschuss war ein Overkill.« Er verdrehte die Augen, als die Anwesenden zu kichern begannen. »Überflüssig dann eben. Sie wissen genau, was ich meine.«
»Er nimmt Rache, aber es ist nicht genug«, sagte Abe nachdenklich. »Dann schleppt er ihn zu seinem Grab und attackiert ihn noch einmal. Tot zu sein reicht als Strafe nicht, also zerschießt er ihm auch noch die Weichteile.«
»Wir haben die Erde am Fundort gesiebt«, sagte Jack, »und dieselben Kugeln gefunden wie bei King.«
»Er kann das nicht alles mit Schalldämpfer erledigt haben«, sagte Mia. »Jemand muss etwas gehört haben.«
Spinelli nickte. »Ich schicke morgen ein paar Leute los.« Er wandte sich wieder zur Tafel um, zeichnete drei Spalten und schrieb Ramey, Blade und King darüber. »Wann wurde Ramey zum letzten Mal gesehen?«
Mia schlug ihr Buch auf. »Seine Mutter hat ihn am 3. Januar zuletzt gesehen. Seine Freundin bestätigt das. Sie war sich sicher mit dem Datum, weil er sie an diesem Abend versetzt hat.«
Kristen sog scharf die Luft ein, während Spinellis Marker mit einem enervierenden Quietschen über die Tafel fuhr. Blaue Streifen. Sie hatte sich in dieser Nacht für die Streifen entschieden, die Muster aber noch hängen lassen, bis die Schlaflosigkeit sie zwei Tage später dazu gebracht hatte, die Wand zu tapezieren. »Er muss Rameys Kiste in der Nacht oder spätestens in der nächsten in meinen Kofferraum getan haben.« Sie warf Spinelli einen Blick zu. »Danach waren die Muster weg. Sie können versuchen, die Leute in meiner Gegend zu befragen, aber normalerweise sind sie alle spätestens um elf im Bett.«
»Was für Muster?«, wollte Julia wissen.
Spinelli neigte den Kopf in Kristens Richtung, um ihr zu bedeuten, dass sie das Wort hatte. Sie stieß geräuschvoll den Atem aus. »Der Mörder hat Briefe in meinem Kofferraum hinterlassen.«
»Das weiß ich schon. Was für Muster?«
»In einem Brief bezieht er sich auf Tapetenmuster, die ich in meinem Wohnzimmer hängen hatte.«
Julia lehnte sich stirnrunzelnd zurück. »Er hat Sie beobachtet?«
»Scheint so.« Wieder lief ihr ein Schauder das Rückgrat hinab. »Starren Sie mich nicht so an, Julia.«
Mit einem letzten, eindringlichen Blick holte Julia ein weiteres Foto hervor, das Ross King auf Hochglanzpapier zeigte. »King hat Aufprallverletzungen an Kopf und Schulter.« Sie hielt ein anderes Foto hoch und deutete mit dem Stift darauf. »Frakturen hinter dem rechten Ohr und der linken Schläfe. Auf der Grundlage der Form der Prellung würde ich auf einen Schläger tippen.«
»Er war ihr Softballcoach«, sagte Kristen leise. »Wieder die ausgleichende Gerechtigkeit. Mit Symbolkraft.«
Reagan zog eins der Bilder zu sich. »Holzsplitter? Irgendwelche Fasern?«
»Nein, nichts. Ich schätze, der Schlagstock war aus Aluminium.«
»Hat er ihn totgeschlagen?«, fragte Mia.
Julia schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich müsste ihn erst aufschneiden, aber es kann sein, dass er durch eine Kugel in die Brust gestorben ist.« Sie zeigte ein anderes Foto, eine Nahaufnahme der Stiche, die um Kings Torso liefen, und deutete auf eine halbmondförmige Stelle fehlender Haut.
»Könnte eine Schusswunde sein«, bestätigte Reagan.
»Ich vermute, er wollte die Kugel zurück.« Julia reichte ihm das Foto. »Die Röntgenaufnahmen zeigen keine Kugel, aber die halbe linke Lunge fehlt. Außerdem gibt es keine Austrittswunde. Warum der Täter aber die Kugel unbedingt wiederhaben wollte, fällt zum Glück in Ihren Zuständigkeitsbereich, nicht in meinen.«
»Und das Material, mit dem er ihn zugenäht hat?«, fragte Spinelli, der über Reagans Schulter sah.
»Normales Garn. Leinen.« Julia zuckte die Achseln. »In jedem Haushaltswarengeschäft zu finden.«
»Eine Kugel in den Kopf und eine ins Herz.« Kristen starrte Julia an. Sie kannte die Frau gut genug, um zu wissen, dass das nicht alles war. »Was noch?«
Julia erwiderte den Blick beunruhigt. »Kings Knie sind kaputt, Kristen.« Sie zog ein weiteres Foto aus dem Stapel und reichte es Jack, der zu ihrer Linken saß.
»Wir haben es gesehen, als wir ihn ausgruben«, sagte Jack nachdenklich. »Aber wir hatten keine Ahnung, woher die Verletzung stammte.«
»Von einer Kugel«, erwiderte Julia. »Meine Informationen stammen von Röntgenbildern, weil ich ihn noch nicht obduziert habe. Die Bilder zeigen, dass beide Kniescheiben zerschmettert sind. Tatsächlich sogar eher pulverisiert. Was für eine Waffe euer Killer auch benutzt, sie hat einen kräftigen Durchschlag.«
»Er hat King bewegungsunfähig gemacht, damit er nicht abhauen konnte«, murmelte Kristen. Irgendwie beunruhigte der Gedanke daran sie mehr als der tatsächliche Mord.
Julia fächerte einen weiteren Satz Fotos auf. »Das denke ich auch. Noch ein Detail für die Tafel, Marc. Eure Gangmitglieder sind mit einem einzigen Kopfschuss niedergestreckt worden. In die Stirn. Keine Pulverrückstände. Keine Schläge gegen den Kopf wie bei den anderen. Keinerlei Indizien, die auf Gegenwehr schließen lassen.« Sie schaute auf und fing Kristens Blick ein. »Auch hier sollten Sie sich bei den Ballistikern erkundigen, aber aus dem Eintrittswinkel und den Austrittswunden würde ich schließen, dass Ihr Killer von oben geschossen hat. Wenn wir die fehlenden Pulverrückstände berücksichtigen, von sehr weit oben.«
Mia lehnte sich angespannt über den Tisch, um die Fotos genauer zu betrachten. »Wie weit oben?«
Julia zuckte die Achseln. »Neun, zehn Meter vielleicht.«
»Er hat die Pulverreste eventuell abgewischt«, sagte Mia, aber man hörte, dass sie es selbst nicht glaubte.
Kristen stieß den Atem aus. Nun verstand sie Julias besorgte Miene. »Er hat sie nicht niedergeschlagen, also waren sie bei Bewusstsein, als er sie erschoss. Und ich denke, nicht mal ein Nachwuchs-Blade würde sich ohne Kampf ergeben.« Sie schaute auf und sah, dass Reagan sie eindringlich musterte, und sie empfand seinen Blick als seltsam tröstend. »Sie haben ihn gar nicht gesehen«, schloss sie leise. »Er hat sie von einem Dach aus erledigt.«
Reagan nickte ernst und sprach dann aus, was alle dachten. »Wir haben es mit einem Scharfschützen zu tun.«
Mia lehnte sich im Stuhl zurück. »Der seine Opfer zunächst durch Schüsse in die Knie am Weglaufen hindert und sie dann bewusstlos schlägt.«
Kristen schauderte. Ihr war plötzlich eiskalt. »Und er beobachtet mich«, sagte sie leise.
Spinelli steckte die Kappe auf seinen Marker.
»Scheiße.«