Freitag, 20. Februar, 13.50 Uhr

Abe stellte eine Tüte auf den Schreibtisch. »Hast du Hunger?«

Mia schaute auf und schnupperte. »Kommt drauf an. Was ist da drin?«

»Gyros und Burger.« Er spähte in die Tüte. »Und Baklava.«

Mia leckte sich die Lippen. »Ich nehme alles Üble zurück, was ich je über dich gesagt habe.«

Abe grinste. »Das glaube ich dir nicht.«

Sie nahm einen Burger. »Hast du etwas von dem Taxifahrer erfahren?«

»Er sagt, er hätte einen weißen Lieferwagen mit einer großen Blume auf der Seite gesehen, kurz nachdem er Littleton gestern Morgen in aller Frühe abgesetzt hat.«

Mias Brauen flogen hoch. »Ein Floristik-Lieferwagen? Hat er sich den Namen merken können?«

»Er meinte, es war irgendwas mit ›Blumen‹«, antwortete Abe trocken, während er sein Gyros auswickelte. Er sog genießerisch den Duft ein. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie hungrig er tatsächlich war.

»Tja, damit können wir die Auswahl stark einschränken.«

»Genau. Auf vierhundertsechzig Geschäfte in Chicago. Ich habe mich schon erkundigt.«

»Hat Jack irgendetwas in dem Zeug in Kristens Wagen gefunden, das mit Blumen oder Floristik zu tun hat?«

»Nein, und das macht ihm schwer zu schaffen. Denn wenn der Killer einen Wagen von einem Blumenlieferdienst verwendet hat, müssten wir seiner Meinung nach wenigstens etwas an den Kleidungsstücken gefunden haben. Pollen oder so etwas.« Er deutete auf die gefaxte Liste von Kunden im Großraumgebiet Chicago, die Sandstrahlausrüstungen gekauft hatten. »Wie kommst du weiter?«

Verärgert schob sie das Papier zur Seite. »Es wäre hilfreich, wenn ich wüsste, wonach ich überhaupt suche. Hier stehen Hunderte von Kunden. Todd Murphy lässt die Namen auf Vorstrafen untersuchen, aber irgendwie glaube ich nicht, dass unser Bursche schon vorher aktenkundig geworden ist.«

Abe war ihrer Meinung. »Nun ja, sehen wir mal, ob einer von diesen Leuten in einem Floristikunternehmen arbeitet, das das Wort ›Blumen‹ im Namen führt. Gib mir mal ein paar Seiten.«

Sie reichte ihm einen Stapel und fuhr zusammen, als aus Spinellis Büro ein lautes Gebrüll kam. »Er ist gar nicht glücklich.«

Abe sah hinüber zu Spinelli, der, den Hörer am Ohr, wild gestikulierend durch sein Büro lief. »Was – Lampenfieber wegen der Pressekonferenz?« Die war für drei Uhr angesetzt.

»Nie im Leben. Er versucht gerade, dem Chef zu erklären, dass die undichte Stelle, aus der Richardson den Brüller für heute Abend hat, nicht bei uns liegen kann.« Sie neigte den Kopf und runzelte die Stirn, als er sie nur verständnislos ansah. »Oje, ich dachte, du wüsstest es.«

Er spürte einen scharfen Schmerz im Nacken, ein sicheres Zeichen für wachsenden Stress. »Was?«

»Richardson weiß, dass auch Kristen Briefe erhalten hat und dass fünf Tote im Leichenschauhaus liegen. Die Ziege hat ihr aufgelauert, als sie ins Gericht wollte. Kristen hat Spinelli sofort angerufen. Ich dachte, dass sie dir auch Bescheid gesagt hätte.«

Sein Appetit schwand rapide. »Nein, hat sie nicht.« Tatsächlich hatte sie es kaum erwarten können, aus seinem Auto zu steigen. Die Fahrt vom Haus der Restons zu ihrer nächsten Adresse – eine der Familien der Kinder, die von den Blades erschossen worden waren – war, gelinde gesagt, angespannt verlaufen. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen und nichts mehr gesagt, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Danach war alles durch Professionalität bestimmt gewesen. Sie hatten mit den Familien der getöteten Kinder gesprochen, sich erneut Wutausbrüche und Anschuldigungen anhören müssen, zwei weitere Briefe von dem »ergebenen Diener« eingesteckt und waren schließlich in zähem, erdrückenden Schweigen zum Gericht zurückgekehrt. Und sie hatte ihn kein weiteres Mal mehr Abe genannt.

Nun zeigte sich, dass sie ihm anscheinend nicht einmal genug vertraute, um ihn wegen Richardson zu informieren. Das tat weh. Aber es war Interesse gewesen, das er in ihren Augen gesehen hatte, als sie vor dem Haus der Restons gesessen hatten. Interesse und … Verlangen? Er hätte sie beinahe dort geküsst, direkt vor dem Haus der Restons, was vollkommen unpassend gewesen wäre, unpassend und unprofessionell und inakzeptabel. Und wahrscheinlich wundervoll.

Aber dann war sie wieder ausgewichen. Sie hatte Angst, das wusste er. Das habe ich auch. Aber Kristens Angst wurzelte tief, und er wagte nicht, über die Ursache nachzudenken, weil er sie zu ahnen glaubte. Und wenn seine Ahnung richtig war, dann hatte er ein verdammt hartes Stück Arbeit vor sich.

Ich muss verrückt sein, nur darüber nachzudenken, mit Kristen Mayhew ein hartes Stück Arbeit vor mir zu haben, dachte er. Also warum tue ich es? Weil sie Mumm in den Knochen hatte. Weil sie grüne Augen und einen schönen Körper hatte. Weil sie einen scharfen Verstand und eine stille Anmut besaß. Und weil ihr Lachen ihm den Atem verschlug.

Vielleicht lag es nur daran, weil sie ein netter Mensch war. Vielleicht war es nicht komplizierter, als dass Kristen Mayhew eine wunderschöne Frau und ein netter Mensch war.

Bullshit. Es war viel, viel komplizierter.

Mia aß ihren Burger in nachdenklichem Schweigen. Sie wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und faltete sie dann zu einem kleinen Quadrat. »Ich kenne Kristen schon eine ganze Weile und wahrscheinlich so gut wie jeder andere auch«, sagte sie schließlich. Er schaute auf, sah Verständnis in Mias blauen Augen und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. »Aber niemand kennt sie wirklich gut«, fuhr sie fort. »Sie ist immer ein wenig einsam.« Sie runzelte die Stirn. »Man nennt sie auch die Eiskönigin, aber ich finde das ziemlich unfair.«

Abe dachte an die Pein in ihren Augen, als die Mutter in Restons Wohnzimmer zusammengebrochen war. Er dachte daran, dass sie kein einziges Wort zu ihrer Verteidigung gesagt hatte, als die Anschuldigungen auf sie niedergeprasselt waren. Und er dachte daran, wie sie gesagt hatte, dass die Opfer niemals vergessen konnten. Niemand, der gesehen hatte, was er gesehen hatte, konnte sie ernsthaft als kalt oder eisig bezeichnen.

»Ja, das ist wirklich unfair.« Seine Stimme war ruhig. Weit ruhiger, als er sich fühlte. Kristen Mayhew hatte etwas in ihm geweckt, das er seit Jahren nicht mehr empfunden hatte – den Wunsch nämlich, einen Menschen zu beschützen, auf ihn aufzupassen und dafür zu sorgen, dass niemand ihm etwas antun konnte.

Der Killer empfindet dasselbe. Die Erkenntnis traf ihn so plötzlich, dass sein Puls sich beschleunigte. Deshalb hat er sie als Empfänger seiner »Geschenke« auserkoren, deshalb beobachtet er sie in ihrem Haus.

»Der Killer kennt sie«, sagte er.

Mia sah ihn verdutzt an. »Das wissen wir schon.«

»Nein, er kennt sie. Er hat gesehen, wie sie mit den Leuten, den Opfern umgeht.« Ihr Mitgefühl. Die Pein. »Und er macht ihr keine Vorwürfe.«

»Was meinst du denn damit?«

Abe beugte sich angespannt vor. »Ich habe sie mit all den Opfern und ihren Familien gesehen. Im besten Fall sind diese Leute distanziert, im schlimmsten begegnen sie ihr rundheraus feindselig.«

»Wie Stan Dorsey.«

»Genau. Kein Einziger benahm sich ihr gegenüber herzlich oder sogar bewundernd.« Nicht einmal Les Littleton, der ihr eigentlich zu Dank verpflichtet gewesen wäre, sie jedoch in seinem Selbstmitleid für sein Elend verantwortlich machte.

Mias Augen leuchteten auf. »Also hat sie ihn entweder nicht vertreten, oder sie haben nicht verloren.«

»Doch, er hat verloren«, sagte Abe, »ob Kristen ihn nun vertreten hat oder nicht. Vergiss nicht, was Westphalen gemeint hat. Und mein Gefühl sagt mir, dass er mit Kristen auf irgendeine Weise verbunden ist – sie also nicht ausschließlich in den Medien gesehen hat. Er kennt sie persönlich, dessen bin ich mir sicher. Es wäre gut, wenn wir ein Opfer finden könnten, das zwar vor Gericht verloren hat, aber dafür nicht sie verantwortlich macht.«

Mia legte nachdenklich den Kopf schief. »Sie hat uns eine Liste der Fälle erstellt, die sie verloren hat. Vielleicht hat sie ja in ihrer privaten Datenbank bei jedem Fall den Grad der Kundenzufriedenheit vermerkt.«

Abe nahm den Telefonhörer auf. »Ich weiß, wie wir das herausfinden können.«

Chicago Reihe 03 - Des Todes liebste Beute
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