Montag, 23. Februar, 21.00 Uhr

Abe betrat die Küche seiner Mutter und sog genießerisch den Duft ein. Was immer seine Mutter zum Abendessen gemacht hatte – es roch köstlich. Er konnte nur hoffen, dass etwas übrig geblieben war.

»Na?«

Er hörte Kristens Stimme hinter sich, und plötzlich war Essen das Letzte, was ihn interessierte. Er wandte sich um und sah sie in der Tür zum Wohnzimmer seiner Eltern stehen. Sie sah so schön aus, dass sich alle Gedanken an die neuste Kiste, die man auf ihrer Veranda gefunden hatte, in nichts auflösten. Er warf einen Blick über ihre Schulter und sah eine grinsende Rachel.

»Hi, Abe.«

Er griff um Kristen herum, legte seiner Schwester die flache Hand aufs Gesicht und schubste sie sanft. Er spürte ihr Kichern an seiner Handfläche. »Mach dich vom Acker, du lästiges Gör.«

Kristens Lächeln war ein wenig schief. »Wir haben Mathe gemacht. Oder besser – Rachel hat Mathe gemacht, und ich habe mich alt und blöd gefühlt.« Lautlos formte sie Rette mich bitte mit den Lippen.

Zu Rachels Vergnügen legte Abe Kristen einen Arm um die Schulter. »Ich meine es ernst, Rach. Kristen und ich müssen über die Arbeit sprechen. Los, mach deine Hausaufgaben.«

»Okay.« Rachel zwinkerte übertrieben. »Dann redet ihr mal über die Arbeit.« Kichernd und feixend trat sie den Rückzug an, und Abe verdrehte die Augen.

»Noch mal dreizehn sein«, bemerkte Kristen.

Abe schaute auf sie herab. »Würdest du das wirklich gerne? Noch mal dreizehn sein?«

Sie machte ein so angewidertes Gesicht, dass er lachte. »Nie und nimmer.« Doch dann wurde sie wieder ernst. »Was gibt’s?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht hier. Rachel hat Ohren wie eine Fledermaus.« Er führte sie in die Waschküche und schloss die Tür, damit niemand aus dem Haus sie mehr hören konnte. Dafür rumste der Trockner regelmäßig und laut, als würden sich ein paar Laufschuhe mit Eigenleben darin befinden.

»Jetzt sag’s mir«, forderte sie ihn auf, aber er schüttelte den Kopf. Er wollte die Realität so lange wie möglich außen vor lassen. »Zuerst das.«

Er senkte den Kopf, rieb seine Nase an ihrem Hals und ließ sich von ihrem Duft betören. Sie seufzte, entspannte sich und sank gegen ihn, als habe sie den ganzen Abend nur darauf gewartet. Er legte sich ihre Arme um den Nacken und hätte am liebsten ebenfalls geseufzt, als ihre Hände seine Haut berührten und mit dem Haar in seinem Nacken zu spielen begannen. Sie hob ihr Gesicht, und er ließ sich nicht zweimal bitten. Ihre Lippen schmeckten genau so, wie er sie in Erinnerung hatte. Nein – besser.

»Wie geht’s dir?«, hauchte er an ihrem Mund, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

»Du hast mich vor weiteren Matheaufgaben bewahrt. Was glaubst du denn?«

Er küsste sie wieder, dann löste er sich von ihr und sah ihr in die Augen. Die Beurlaubung heute musste ein weiterer Schlag für sie gewesen sein, doch sie wirkte nicht am Boden zerstört. Nun, jedenfalls nicht an der Oberfläche, aber sie hatte auch noch keinen Augenblick für sich allein gehabt, seit er sie und Rachel vier Stunden zuvor zu seinen Eltern gebracht hatte. Vielleicht war es gut so gewesen. Rachel hatte ein Talent dafür, Menschen gründlich abzulenken. »Was gab’s zum Essen?«

»Eintopf mit Fleisch.« Sie leckte sich die Lippen, und sein Körper erwachte mit einem Satz zum Leben. Er wich ein winziges Stück zurück, um etwas Abstand zu bekommen und sie nicht zu erschrecken. Früher oder später würde sie sich schon an ihn und die prompte Art und Weise, wie sein Körper auf sie reagierte, gewöhnen. Hoffentlich eher früher als später. »Mit solchen kleinen roten Tomaten«, fügte sie hinzu. »Deine Mom hat dir etwas übrig gelassen.« In ihren Augen tanzten Funken. »Dein Vater hat beim Essen lustige Geschichten erzählt.«

Abe stöhnte. »Oh, nein, das kann ich mir vorstellen.« Als er Kristen vorhin in der Obhut seines Vaters gelassen hatte, hatte dieser keine einzige Frage gestellt, aber Abe wusste, dass Kyle eine recht genaue Vorstellung von dem hatte, was gerade vor sich ging. Kyle Reagan war zwar pensioniert, aber seine Verbindungen waren noch genauso funktionstüchtig wie an dem Tag, als er die Truppe verlassen hatte. »Was für lustige Geschichten? Oder will ich es lieber nicht wissen?«

»Oh, alle möglichen lustigen Geschichten.« Sie streichelte seinen Nacken, und sein Körper versteifte sich. Ihre Augen verengten sich ganz leicht, und sie streichelte ihn wieder, wobei sie ihn diesmal genau beobachtete. Er legte seine gespreizten Finger auf ihren Rücken und zwang sich, sie nicht so zu berühren, wie er es am liebsten getan hätte. Sie probierte aus, erkannte er, testete, welche Macht sie ausüben konnte.

»Das fühlt sich gut an«, murmelte er und sah, wie ihr Selbstvertrauen mit jeder Sekunde wuchs. Nun legte sie ihre Hände auf seine Brust und schob ihm den Mantel von den Schultern. Er ließ seine Arme sinken, und der Mantel fiel zu Boden. Sie machte eine Bewegung, um ihn aufzuheben, doch er zog sie rasch wieder an sich. »Lass ihn liegen.«

In ihre Augen trat ein warmes, schelmisches Licht, und er sog tief den Atem ein, als sie an seiner Krawatte zupfte. Nachdem sie den Knoten gelöst hatte, zog sie sie unter dem Kragen seines Hemdes hervor und ließ sie ebenfalls zu Boden fallen.

»Dein Vater hat erzählt, dass Sean und du euch dauernd gestritten habt.« Ihre Stimme war ein wenig heiser, und ihre Finger mühten sich mit seinem obersten Hemdknopf ab. Abe zwang sich weiterzuatmen. Zwang seine Hände, auf ihrem Rücken zu verharren.

»Ständig und immer«, sagte er. »Meine Mom ist wahnsinnig darüber geworden.« Sie hatte den ersten Knopf endlich gelöst, und er ließ seine Arme an seine Seiten sinken und ballte die Fäuste. Hier ging es um Macht, ihre Macht über ihn, und er wollte verdammt sein, wenn er ihr auch nur ein Quäntchen ihrer Show stahl.

»Hmm.« Sie zog konzentriert die Brauen zusammen, während sie sich auf den nächsten Knopf konzentrierte. »Meine Lieblingsgeschichte war die von dir und Sean auf der Rückbank des alten Wagens deiner Mutter, als du die brillante Idee hattest, den Gurt nach ihm zu werfen.«

Der nächste Knopf löste sich, und es fiel ihm schwer, sich an seinen eigenen Namen zu erinnern, ganz zu schweigen an den Vorfall, von dem sie sprach. »Ja, meine Lippe musste mit vier Stichen genäht werden, als der Gurt zurückschnellte und mir ins Gesicht schlug.«

»Du Armer«, murmelte sie, und er war sich nicht sicher, ob sie den siebenjährigen Jungen meinte, der wegen seiner eigenen Dummheit genäht werden musste, oder den erwachsenen Mann, der die Folter ihrer Hände ertrug. Aber es spielte keine Rolle. Der nächste Knopf war befreit, und ihre Fingerspitzen glitten über das Haar, das die Hemdöffnung enthüllt hatte. Dann sah sie überrascht zu ihm auf. »Das ist ja ganz weich.«

Schweißperlen traten auf seine Stirn. »Was?«

Ihre Finger fuhren fort, dieselbe Stelle zu streicheln, während ihr Blick sein Gesicht fixiert. »Ich habe mich gefragt, ob es rau oder weich ist. Das Haar auf deiner Brust.«

Ohne seine Augen von ihren abzuwenden, löste er die verbliebenen Knöpfe, bis das Hemd bis zur Hüfte offen stand. Er nahm ihre Hände, legte sie auf seine Brust und berührte behutsam ihre Finger, bis sie flach auf seiner Haut lagen. Er sah, wie der Puls in der kleinen Mulde an ihrem Halsansatz schneller pochte, als er ihre Hände bewegte und dabei beinahe vor Wonne gestöhnt hätte. Es war so lange her, dass eine Frau ihn so berührt hatte. Sechs lange Jahre. Es war eine Heimkehr der anderen Art. Er schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf das Gefühl ihrer Hände. Er ließ sie los, aber sie fuhr fort, mit ausgreifenden Strichen seine Brust zu liebkosen. Als er die Augen aufschlug, sah er, dass sie ihn begeistert ansah.

»Du magst das«, flüsterte sie. Das Geräusch des Trockners war zu laut, als dass er ihre Worte hören konnte, aber er sah ihre Lippenbewegungen und verstand.

»Viel zu sehr.« Er war hart wie eine Eisenstange, und er wusste, er würde sie zu Tode erschrecken, wenn er sie nun gegen den Trockner presste, wie er es am liebsten getan hätte. Und dann fanden ihre Daumen seine Brustwarzen unter dem dichten Haar, und er konnte sich das Stöhnen nicht mehr verbeißen.

Ihre Zunge erschien, um ihre Lippen zu befeuchten, und ihre Erregung war beinahe fassbar. »Küss mich, Kristen, Bitte.«

Sie stellte sich auf Zehenspitzen und legte ihre Lippen auf seine, ein Hauch von einem Kuss. Er beugte sich vor und stemmte die Hände gegen den Trockner hinter ihr. Sie war nun gefangen zwischen ihm und der vibrierenden Maschine, aber irgendwie gelang es ihm, seine Hüften in zehn Zentimeter Abstand zu ihrem Körper zu halten. »Ich will dich«, presste er hervor. »Ich will dir keine Angst machen, aber ich will dich so sehr …«

Sie hob sich erneut auf die Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Nacken und küsste ihn wieder. Dieser Kuss war wild, drängend, und sie öffnete den Mund, ließ seine Zunge ihre liebkosen, liebkoste die seine. Er legte den Kopf schief, um alles aus dem Kuss herauszuholen, was er kriegen konnte. Ihre Hände legten sich wieder auf seine Brust, fuhren unter das Hemd zu seinem Rücken, und er klammerte sich an die Kanten des Trockners wie ein Ertrinkender an den Rettungsring.

Er war ein Ertrinkender. Und er wollte nie wieder zum Atemholen auftauchen.

Dann ging die Tür von außen auf, und mit Aidan kam frische Luft herein. Aidan riss die Augen auf, und sein Kinn fiel herab, und alle drei starrten sich einen Moment lang wortlos an. Dann wich Aidan rückwärts zur Tür. »Entschuldigung. Ich gehe vorne rum.« Er warf einen Blick über die Schulter, dann wandte er sich grinsend wieder ihnen zu. »Freut euch. Seans und Ruths Van ist gerade vor dem Haus vorgefahren. Und wie es aussieht, haben sie alle fünf Kinder dabei.«

Die Tür schloss sich wieder, aber der Bann war gebrochen. Kristen schaute zu ihm auf, und ihre Finger auf seinem Rücken bewegten sich leicht. Abe schauderte, während er Aidan gleichzeitig verfluchte und dankte. Noch eine Minute länger, und er hätte Kristen den Raum, den sie brauchte, nicht mehr zugestehen können.

»Ihr habt Besuch«, sagte sie. »Wir sollten gehen.«

Ihre Finger streichelten noch immer seinen Rücken. »Nur noch eine Minute. Das fühlt sich einfach so gut an.« Er küsste sie auf die Schläfe, die Stirn, den Mundwinkel. »Du fühlst dich so gut an.«

»Und du bist so geduldig mit mir.«

Er schluckte. »Weil du das Warten wert bist.«

Sie lächelte, ein kleines, trauriges Lächeln, das ihm im Herzen wehtat. »Wir werden sehen«, sagte sie. Sie nahm ihre Hände von seinem Rücken und ließ sich gegen den Trockner sinken. »Auf jeden Fall war das eine interessante Methode, den Kuchen abzutrainieren.«

Abe seufzte innerlich. Für diesen Moment war es vorbei. Mit Bedauern begann er, sein Hemd zuzuknöpfen. »Es gab Kuchen?«

»Kirsch. Besser als Owens, aber du darfst ihm niemals verraten, dass ich das gesagt habe.«

Er lächelte. »Dein Geheimnis ist bei mir sicher.«

Ihre Brauen zogen sich leicht zusammen. »Welches?«

Er spielte mit einer der Nadeln in ihrem Haar. »Jedes. Alle.«

Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Debra muss eine glückliche Frau gewesen sein.«

Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. »Danke«, sagte er schließlich.

»Gern geschehen.« Sie neigte den Kopf und sah ihn ernüchtert an. »Also – was gibt’s Neues?«

Der Anruf war gekommen, als sie sich gerade zum Essen niedergelassen hatten. Truman hatte einen weiteren jungen Burschen aufgegriffen, der ein Paket auf ihrer Veranda abstellen wollte. Wieder hatte der Junge bereits ein stattliches Vorstrafenregister, wie sie bereits erwartet hatten.

Wie aufs Stichwort beendete der Trockner sein Programm, und in der Waschküche wurde es still. »Arthur Monroe diesmal.«

Ihr Blick flackerte. »Die kleine Katie Abrams.«

»Ja. Katie Abrams stand auf dem Stein.« Er nickte.

»Ein ganz besonders übler Fall in meiner Karriere. Ich erwischte den liberalsten Richter auf dieser Erde. Er glaubte tatsächlich, dass ein Mann, der kleine Mädchen missbraucht, vor allem Opfer dieser Gesellschaft ist.« Sie schloss die Augen, und er sah, dass sie sich sammelte. »Was war das P. S.?«

Er presste die Kiefer zusammen, als er wieder den Zorn in sich brodeln spürte. Dieser Hurensohn. Tut, als würde er sich um sie sorgen, wo er es doch ist, der sie in Gefahr gebracht hat. »Er macht sich Gedanken um deine Sicherheit. In meiner Gegenwart.«

Ihre Lider flogen auf, und sie starrte ihn entsetzt an. »Was?«

»Er schrieb ›Sehen Sie sich vor, wem Sie erlauben, des Nachts über Sie zu wachen.‹«

Ihre Augen blitzten auf. »Ich hasse ihn.«

»Ich weiß. Ich will nicht, dass du heute Nacht in deinem Haus schläfst. Komm mit in meine Wohnung.«

Ihre Lippen zitterten. »Ich will ihm aber diese Macht nicht geben«, flüsterte sie. »Ich will mich nicht von ihm aus meinem Haus werfen lassen. Ich weiß, dass du mich für verrückt hältst, aber es ist wichtig für mich. Bitte.«

Es musste mehr dahinter stecken, er wusste es. Es musste einen Grund dafür geben, dass sie so entschlossen war, in ihrem Haus zu bleiben, denn sonst hätte sie niemals das Wort »rauswerfen« benutzt. Sie würde es ihm irgendwann sagen, so wie alles andere auch. »Also gut«, sagte er, »aber dann bleibe ich bei dir.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie wischte sie mit ungeduldiger Geste weg. »Ich hasse das.«

Er zog sie an sich, und sie kam ihm willig entgegen. »Ich weiß.« Sein Handy klingelte in seiner Tasche, und er holte es hervor, während sie sich an seine Brust schmiegte. »Reagan.«

Mias Stimme klang brüchig, aber es lag nicht an der Verbindung. »Abe. Man hat Tyrone Yates gefunden. Er ist tot.«

»Verdammt noch mal. Was ist passiert?«

»Die Blades waren es. Sie haben ihr Zeichen in seine Wange geritzt.«

»Und was ist mit dem anderen? Aaron Jenkins?«

»Noch munter«, erwiderte Mia. »Seine Eltern drehen gerade durch. Wenigstens wird das die Eltern von dem Burschen von heute davon abhalten, uns wegen der Schutzhaft zu belämmern.«

»Vielleicht erreichen wir jetzt, dass Jenkins’ Jugendakte geöffnet wird. Richter Rheinhold hat sich heute mächtig geziert. Wir sollten mal nachhorchen, ob er seine Meinung jetzt nicht ändern will.«

Mia seufzte am anderen Ende der Leitung. »Ich denke, da kommen wir bei Mrs. Jenkins eher weiter. Auf jeden Fall machen die Blades anständig Ärger. Sag Kristen, sie soll sich Urlaub nehmen und am besten nach Jamaica fliegen.«

»Ich sag’s ihr«, erwiderte Abe trocken. Dann ließ er das Telefon wieder in die Tasche rutschen. »Mia lässt grüßen.«

Kristen zog eine Braue hoch. »Und was sonst noch?«

Er erzählte ihr von Tyrone Yates, und ihre Schultern fielen nach vorne. »Ich denke, ich habe jetzt doch nichts mehr gegen Mathe.«

Er küsste sie erneut auf die Stirn. »Wie geht es dir – wirklich, meine ich?«

»Fragst du wegen dem, was heute, oder dem, was gestern passiert ist?«

»Sowohl als auch.«

Sie holte tief Luft und richtete sich kerzengerade auf. »Ich bin, ehrlich gesagt, höllisch sauer. Aber das Ganze hat auch etwas Gutes. Jetzt habe ich mehr Zeit, all die alten Fälle durchzugehen, sodass ich euch vielleicht sagen kann, welche Gemeinsamkeiten es dabei außer meiner Person noch gibt.«

Abe runzelte die Stirn. »Aber –«

Sie grinste ihn selbstzufrieden an. »Ich habe mir rasch noch alles auf CD gebrannt. Ich kann zu Hause arbeiten.«

»Aber das dürfte gegen die Bestimmungen sein.«

Ihr Lächeln wurde ein ganz klein wenig unartig, und sein Herz setzte einen Schlag aus. »Wollen Sie mich festnehmen, Reagan?«

Er lachte reuig. »Verlockende Vorstellung. Gehen wir, bevor ich die Handschellen auspacke.« Er legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie wieder zurück in die Küche, wo inzwischen der Teufel los war, weil Seans und Ruths Kinder um den Tisch herumtobten. Abe küsste erst seine Mutter auf die Wange, dann das Baby auf ihrem Arm, seine jüngste Nichte. »Ich bin wieder da.«

Becca sah ihn amüsiert an, und Abe wusste, dass Aidan gepetzt hatte. »Das sehe ich. Hallo, Kristen.«

Kristen musterte derweil entsetzt die Kinderschar. »Und das sind alles deine?«, fragte sie Ruth.

Ruth grinste und zog den Kopf ein, als sie das Klirren eines zerbrochenen Glases hörte. »Plus ein weiteres, das gerade für den Rest seines Lebens das Taschengeld gestrichen bekommen hat.«

Becca gab Ruth das Baby. »Ich gehe nachsehen. Abe, ich habe dir was übrig gelassen. Schieb den Teller in die Mikrowelle.«

Abe schnaubte. »Von wegen. Ich esse lieber schnell, bevor Aidan Wind davon kriegt, dass noch was da ist.«

Ruth scheuchte ihn mit einer Geste hinaus. »Dann iss im Wohnzimmer. Ich will mit Kristen reden. Kaffee?«

Kristen schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

»Dann setz dich, bitte.« Ruth deutete zum Tisch, und Kristen setzte sich. »Becca hat mir gesagt, dass du heute hier bist. Wir hatten schon Angst, dass du nicht wieder kommen würdest.«

Kristen zog die Brauen zusammen. »Und warum?«

»Na ja, du wirktest ziemlich gekränkt, als du gestern gefahren bist. Du hast zwar versucht, es nicht zu zeigen, aber es war spürbar.«

Gestern Abend und gestern Nacht. Die Nacht, die sie mit Reagan verbracht hatte. In der sie ihn geküsst hatte. Zuvor allerdings war sie in ihrem eigenen Schlafzimmer überfallen worden. Und davor – »Oh. Die Sache mit Debra. Tut mir Leid. Ja, ich war ein bisschen gekränkt. Aber nachdem Abe mich nach Hause gebracht hat …« Sie zögerte. »Jemand ist bei mir eingebrochen und hat mich bedroht. Abe hat ihn vertrieben.«

Ruth ließ die Hände sinken. »War der Typ einer von denen, die dich am Freitag aus dem Wagen gezerrt haben?«

»Wahrscheinlich nicht.« Alle hatten Jacob Conti in Verdacht, aber es ließ sich nicht beweisen. Sie hatten zwar die Hautfetzen, die Jack unter ihren Fingernägeln herausgekratzt hatte, aber ohne einen Verdächtigen, mit dem sie die DNS vergleichen konnten, bedeutete das sehr wenig. Kristen zuckte die Achseln. »Mir ist nichts passiert, wirklich nicht. Ich war nur ziemlich … aufgewühlt.«

»Abe ist dann gestern bei dir geblieben, richtig? Er hat dich nicht allein gelassen.«

Kristen strengte sich an, nicht rot zu werden, aber als sie das Aufleuchten in Ruths Augen sah, wusste sie, dass es ihr nicht gelungen war. »Nein«, sagte sie, um Würde bemüht. »Er hat mich nicht allein gelassen.«

Ruth streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf Kristens. »Gut. Das meine ich ernst, Kristen. Abe ist schon so lange allein. Er ist ein wunderbarer Mensch. Er verdient jemanden, der ihn glücklich macht.«

Kristen ertrug den herzlichen Blick in Ruths Augen nicht. Sie machte Abe im Augenblick glücklich, das wusste sie, aber es würde nicht von Dauer sein. »Ich möchte nicht, dass ihr euch alle solche Hoffnungen macht, Ruth. Abe hält ein Auge auf mich, weil … nun, wegen dieser ganzen Sache jetzt.« Sie machte mit der Hand eine fahrige Bewegung. »Medien, Mörder, Männer mit Pistolen … Ich glaube nicht, dass er bei mir bleibt, wenn die Geschichte vorbei ist.«

Ruth seufzte. »Das ist natürlich eure Sache, Kristen. Deine und Abes. Was immer zwischen euch läuft, es geht nur euch etwas an. Ich wollte dir nur sagen, wie Leid es mir tut, dass ich gestern Abend so reagiert habe. Es war unglaublich taktlos von mir, aber als ich dich lachen hörte, war es, als ob Debra im Wohnzimmer säße.« Sie wiegte das Baby, und der Anblick tat Kristen im Herzen weh. »Es wird schwer für Abe werden, wenn er am Samstag Debras Eltern begegnet.«

Die Taufe. Kristen graute es vor Taufen, und bisher war es ihr immer gelungen, sich vor solchen Zeremonien zu drücken, aber wenn Abe sie fragte, würde sie mitgehen. Es würde zwar weitere alte Wunden aufreißen, aber sie würde bei ihm sein, um ihm beizustehen, und wenn es sie umbrachte. »Abe hat mir erzählt, dass sie mit Debras Pflege nicht einverstanden waren.«

Ruth blickte nachdenklich ins Leere und strich dabei mit den Lippen über den flaumigen Kopf ihres Babys, und wieder spürte Kristen ein Ziehen in ihrer Herzgegend. »Das darf man ihnen nicht verübeln. Meine Tante und mein Onkel wollten nur das Beste für Debra. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es sein muss, eine solche Wahl treffen zu müssen.«

Kristen musterte Ruth, die das Baby an ihre Brust gedrückt hielt, und dachte über die Worte nach. Das Beste für das Kind wollen. Tun, was immer richtig war, und wenn es einem das Herz herausriss. Sie verstand es besser, als sich jeder andere vorstellen konnte.

Ruth räusperte sich. »Jedenfalls dachte ich, dass es wahrscheinlich besser wäre, wenn Abe am Samstag jemanden bei sich hätte. Würdest du vielleicht mitkommen? Ich weiß, es ist ein bisschen kurzfristig, aber …«

Er war für sie da gewesen, wann immer sie ihn gebraucht hatte. Und sie hatte ihn in der kurzen Zeit schon sehr oft gebraucht. »Natürlich. Es ist lieb, dass du mich fragst.«

»Dass du was fragst?« Abe erschien mit Kristens Tasche in der Hand. Er beugte sich herab und küsste das Baby auf den Kopf. »Deine Tasche klingelt.«

Kristen kam auf die Füße. »Mein Handy.« Sie nahm die Tasche und wühlte darin. »Mayhew.«

Abe sah zu, wie sie lauschte, und ahnte Übles, als sie blass wurde. Sie sank auf den Stuhl zurück, und er sah echte Furcht in ihren Augen.

»Geht es ihr gut?«, fragte sie leise. Sie umklammerte das Handy so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Und du bist sicher.« Sie lauschte wieder, während sie tief atmete. »Ich bin ruhig. Muss ich kommen?« Ihr Mund verzog sich. »Ich denke nicht. Hast du die Polizei gerufen?« Sie biss die Zähne zusammen. »Nein, das ist kein verdammter Scherz, Dad … Fass nur weder Brief noch Blume an, okay? Ich rufe jetzt die Polizei. Sie werden die Nachricht sehen wollen und genau nachfragen, wer gestern Abend im Pflegeheim gewesen ist.« Sie schürzte die Lippen und klappte das Handy zu. »Ja«, sagte sie mit Bitterkeit in der Stimme, ohne jemanden anzusprechen. »Was immer du sagst.«

Abe setzte sich auf die Tischkante neben sie. »Geht es um deine Mutter?«

Sie nickte. »Jemand hat eine schwarze Rose und einen Zettel auf ihrem Kopfkissen im Pflegeheim hinterlassen.« Sie warf Ruth einen raschen Blick zu. »Meine Mutter hat Alzheimer. Fortgeschrittenes Stadium.«

Abe umfasste ihr Kinn und spürte ihr Zittern. »Was stand auf dem Zettel?«

»›Wer ist er?‹« Sie sprang auf die Füße. Ihre Miene war ausdruckslos. »Wo ist mein Mantel?«

»Willst du nach Kansas fliegen?«, fragte Abe.

Kristen schüttelte den Kopf, während sie auf die Tür zuging. »Nein. Ich verschwinde. Der Typ von gestern Nacht sagte, dass Menschen, die mir nahe stehen, sterben würden, wenn ich ihm nicht sagte, wer der Killer ist. Und ich denke nicht daran, deine Familie in Gefahr zu bringen. Bring mich nach Hause, Abe.«

Aus dem Augenwinkel sah Abe, wie Ruth instinktiv ihr Baby fester an sich drückte. »Komm, beruhig dich erst mal, Kristen«, sagte er und merkte zu spät, dass dies genau die falschen Worte gewesen waren. Ihr Vater hatte offenbar genau dasselbe gesagt.

»Ich bin ruhig«, sagte sie kalt. »Und ich bin noch ruhiger, wenn du mich nach Hause gebracht hast.«

Resigniert stand Abe auf. »Ich hole deinen Mantel.«

Chicago Reihe 03 - Des Todes liebste Beute
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