Montag, 23. Februar, 11.30 Uhr
Stille hing über dem Konferenzraum der Staatsanwaltschaft. Kristen holte tief Luft. »Das war’s ungefähr.« Sie betrachtete die etwa zwanzig Gesichter der Menschen, die sich im Raum befanden, und sah in den meisten Schock und Entsetzen. Greg und Lois wirkten vor allem besorgt.
John, am Kopf des Tisches, seufzte müde. Er war es, der Kristen gebeten hatte, sie über die vergangenen Ereignisse zu informieren: der Angriff auf sie am Freitagabend, die Entdeckung des Skinner-Pakets, die Conti-Kiste, die zwei Jungen, die die Päckchen gebracht hatten, und der Überfall der vorherigen Nacht. Sie hatte die privateren Aspekte ausgelassen – insbesondere, wie Abe Reagan ihr in mehr als einer Hinsicht zu Hilfe gekommen war.
»Und du bist sicher, dass du nicht weißt, wer dieser Kerl ist?«, fragte Greg. In seiner Stimme lag so viel Zweifel, dass es Kristen vorkam, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen.
»Willst du damit sagen, dass ich es für mich behalte?«, erwiderte sie scharf.
»Du weißt genau, dass ich das nicht sagen will. Ich meine doch nur, dass der Mörder dich kennt. Das alles hört sich an, als ob er manchmal nah genug bei dir wäre, um dich zu berühren.«
»Danke, dass du Kristen das in so lebhaften Farben ausmalst«, sagte Lois trocken, und vereinzeltes Gelächter erklang.
Kristen brachte ein kleines Lächeln zustande, obwohl ihr plötzlich eiskalt war. »Greg hat nichts gesagt, was ich nicht auch schon gedacht habe.«
John räusperte sich. »Die Polizei hat einen Zeitrahmen erarbeitet, innerhalb dessen die Morde stattgefunden haben. Weil sie annimmt, dass der Killer Zugang zu vertraulichen Gerichtsdaten hat, wird jeder von Ihnen in den folgenden Tagen befragt werden, wann er sich wo aufgehalten hat. Ich habe Lieutenant Spinelli zugesichert, dass wir ihm uneingeschränkt zur Verfügung stehen.«
Verärgertes Murmeln ging durch die kleine Menschenmenge, und Kristen hielt die Hand hoch, um Ruhe zu erbitten. »Wir haben die Polizei so oft kritisiert, dass sie bestimmte Faktoren vernachlässigt, und in diesem Fall versucht sie, dies gerade nicht zu tun. Die Detectives müssen jeden, der Zugang zu ebendiesen vertraulichen Daten hat, überprüfen, und daher bitte ich Sie zu kooperieren, wenn sie kommen, um mit uns zu sprechen.«
John hob ebenfalls eine Hand. »Zu Ihrer Information bin ich bereits am Samstag aus demselben Grund von Spinelli befragt worden. Wenn man Sie nach Ihrem Aufenthaltsort zu den ermittelten Zeitpunkten fragt, dann antworten Sie bitte. Und vergessen Sie nicht, dass alles vertraulich ist. Sie werden außerhalb dieses Raumes nicht darüber reden. Und das war alles. Sie können jetzt gehen.« Er deutete auf Kristen. »Sie brauche ich noch hier.«
Er wartete, bis alle anderen gegangen waren und nur noch er und Kristen am Tisch saßen. Dann fuhr er sich mit den Händen über das Gesicht und seufzte tief. »Wie war die Anhörung heute Morgen?«
Kristen zog überrascht die Brauen hoch. John kümmerte sich niemals um die Anhörung, es sei denn, es ging um einen wichtigen Fall, aber heute Morgen waren es nur Routinedinge gewesen. »Angespannt.« Das war eine Untertreibung. Die Verteidiger hatten sich am Ende ihres Tisches geschart, als ob die Luft um Kristen Mayhew verseucht gewesen wäre. »Ich habe es überstanden.«
»Sie überstehen es immer. Aber das hier wird Ihnen nicht gefallen.«
Kristens Nackenhärchen richteten sich auf. »Was?«
»Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich mich dagegen gewehrt habe, und zwar an höchster Stelle.« Kristen sah Resignation in seinen Augen, und ihr Magen zog sich zusammen. »Milt hat das ganze Wochenende Anrufe bekommen, als die Nachricht von Skinners Tod die Runde gemacht hat.« Milt war Johns Chef. Er trat nur auf den Plan, wenn es eine Beförderung gab oder eine Rüge ausgesprochen werden musste. Kristen war nicht naiv genug, um eine Beförderung zu erwarten. »Sie werden für die Dauer dieser Sache freigestellt.«
Kristen erstarrte. Sie konnte nicht fassen, was sie da hörte.
»Wie bitte?«
John seufzte erneut. »Kein Verteidiger in dieser Stadt will noch mit Ihnen im gleichen Gerichtssaal auftreten. Alle würden Gefahr für Leib und Leben für sich selbst und ihre Klienten anführen. Milt befürchtet, dass jeder Fall, an dem Sie beteiligt sind, in Berufung gehen könnte. Sie werden alles, was Sie haben, bis vier Uhr nachmittags zur Übergabe bereitmachen. Wir teilen uns Ihre Fälle untereinander auf.«
Kristen saß da wie vom Donner gerührt. Sie brachte kein Wort heraus.
John erhob sich. »Es tut mir Leid, Kristen. Ich habe Milt gesagt, dass er einen Fehler macht, dass es nicht fair ist, aber im Grunde war mein Einspruch vergeudet. Ich fühle mich dafür verantwortlich, aber ich kann leider nichts dagegen unternehmen.« Er legte ihr zögernd eine Hand auf die Schulter. Sie spürte sie kaum. »Betrachten Sie es als den Urlaub, den Sie sich schon längst verdient haben«, sagte er schwach. Dann fügte er hinzu: »Nein, ich denke, das können Sie wohl nicht.«
Der verdiente Urlaub. Das war reiner Hohn. Sie stand auf, obwohl es sie immense Kraft kostete, aber sie hatte sich im Griff – wie immer. »Ich hole meine Sachen.«
»Kristen –« John wollte nach ihr greifen, aber sie wich ihm aus. Seine Hand fiel an seine Seite, und er seufzte ein weiteres Mal. »Lassen Sie mich wissen, wenn Sie Hilfe brauchen.«
»Das werde ich nicht.«