2

Wilhelm Vohsen stand am breiten Panoramafenster im 17. Stock und sah auf die Stadt hinunter. Der Morgendunst hatte sich zum Fluss zurückgezogen und das Geäder der Straßen freigegeben. Hochbeladene Gemüselaster kamen über die Brücke. Eine Kolonne gelber Postfahrzeuge kroch vom Bahnhof her auf die Hauptpost zu.

Vor zwei Stunden hatte er unten undeutlich die Einsatzfahrzeuge der Polizei gesehen.

Er presste die Hände gegen das kühle Glas, während er versuchte, nicht an Beate zu denken. Er hörte Kallberg in der kleinen Küche mit den Tassen klappern, und er wandte sich um. Kallberg dachte immer an das Naheliegende.

Kallberg kam mit dem Tablett in den Wohnraum. Er war etwas älter als Vohsen, neunundvierzig oder schon fünfzig. Er war ein zartgliedriger Mann mit einem Gesicht, das für sein Alter etwas zu glatt wirkte. Die großen Gläser der metallgefassten Brille verliehen seinen blauen Augen einen kühlen Glanz, als er Vohsen mit einem schnellen, prüfenden Blick streifte, als ob er fürchtete, Vohsen könne irgendetwas Dummes tun.

»Ich habe Kaffee gemacht«, sagte er. »Ich habe aber keinen Zucker gefunden ...«

»Ich habe vergessen, welchen besorgen zu lassen«, sagte Vohsen. Auch nach der durchwachten Nacht klang seine Stimme noch tief und aggressiv. »Ich nehme keinen Zucker.«

»Ich brauche auch keinen«, sagte Kallberg. Er stellte das Tablett auf den Glastisch, wobei er den schwarzen Aktenkoffer achtlos zur Seite schob. Dabei enthielt er eine Viertelmillion Mark. Eine Viertelmillion in bar. Munition für Kallbergs Freunde in der Regierung und in der Partei.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Herr Vohsen«, sagte Kallberg. »Wenn Sie nachher nach Haus kommen, ist sie schon da. Sie werden es sehen, es läuft alles wie geschmiert.«

Vohsen nickte. Erst vor einer halben Stunde hatte Kallberg zuletzt mit einem Referenten im Innenministerium gesprochen, der wiederum über einen direkten Draht zum Leiter der Bereitschaftspolizei verfügte. Nein, es waren keine Schwierigkeiten oder Überraschungen zu erwarten.

Trotzdem wurde er das Gefühl der Beklemmung nicht los. War Beate eigentlich noch bei ihm zu Hause — drüben in der Villa in Hochheim? Wo sonst! Doch nicht in einem besetzten Haus!

Seine Stadtwohnung in der Residenz am Rosenpark war nicht sein Zuhause, erst recht nicht das von Beate. Sie wusste zwar, dass er die Wohnung besaß, aber sie war nie hier gewesen. Hier verbrachte Vohsen nur hin und wieder ein paar Stunden. Manchmal eine Nacht. Zusammen mit Männern wie Kallberg, der ihn über Bauvorhaben der Landesregierung informierte. Ohne solche rechtzeitigen Insider-Informationen kam man praktisch nicht mehr an Aufträge der öffentlichen Hand heran. Oder er tagte hier mit den Inhabern oder Bevollmächtigten anderer Baufirmen aus allen Teilen der Bundesrepublik, um Quoten und Preise festzulegen. Ohne solche Absprachen untereinander konnte man heutzutage praktisch nichts mehr verdienen.

Er ließ sich in einen Sessel fallen und nahm die Kaffeetasse in die Hand. Vorsichtig trank er einen Schluck. Der Kaffee war heiß und bitter. Über den Rand der Tasse hinweg sah er Kallberg an.

Wie lange kannte er ihn jetzt? Zehn Jahre? Oder waren es schon zwölf? Dabei gab es nur wenige Menschen, die überhaupt ahnten, dass sie sich besser kannten, als die gelegentlichen Begegnungen in der Öffentlichkeit vermuten ließen. Damit sie sich unbemerkt und unbeobachtet treffen konnten, hatte Vohsen Kallberg eine Wohnung hier im Haus, in der Residenz am Rosenpark, überlassen. Geschenkt, wenn man die Dinge beim Namen nennen wollte. Allerdings war es das einzige größere Geschenk, das Kallberg von ihm angenommen hatte. Die Wohnung war nicht auf Kallbergs Namen, sondern auf eine Treuhandgesellschaft registriert. Kallberg war ein vorsichtiger Mann, eine Eigenschaft, die Vohsen wegen der besonderen Art ihrer Beziehungen schätzte.

Seit sie sich besser kennengelernt hatten und einander vertrauten, hatte Kallberg Karriere innerhalb der Partei gemacht, während Vohsens Baufirma einen rasanten Aufstieg zu verzeichnen hatte.

Vohsen gebot heute über einen raffiniert verschachtelten Konzern mit Beteiligungen an Banken und Treuhandfirmen, die es ihm ermöglichten, über beliebige Beträge in bar zu verfügen, ohne befürchten zu müssen, dass irgendjemand — Steuerfahnder oder Staatsanwalt — jemals in der Lage wären, ihre Herkunft nachzuweisen.

Dabei hatte Vohsen niemals das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Im Gegenteil. Er setzte das Geld nur zum Wohle des Staates ein, in dem er lebte und in dem er das Leben für lebenswert hielt, trotz aller negativer Anzeichen der letzten Zeit. Und wenn die Wahlen im nächsten Jahr kein unerwartetes Ergebnis brachten und auch sonst nichts Unerwartetes geschah, würde er sogar seine ganze Kraft und seine ganze Person in den Dienst des Staates stellen.

Ernst Kallberg hatte es eingefädelt. Der Ministerpräsident würde ihn, den parteilosen Wilhelm Vohsen, in sein Kabinett holen. Vohsen, den Mann der Tat.

Vor zwei Jahren hatte es begonnen, als der Ministerpräsident in seiner Rede vor dem Bundesverband der deutschen Bauindustrie die Bauwirtschaft eine der tragenden Säulen des Staates genannt hatte. Und dann hatte der Ministerpräsident ihn, Wilhelm Vohsen, direkt angesprochen, als er ihm im Auftrag des Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz anheftete.

»Männer wie Sie, Wilhelm Vohsen, braucht dieser Staat!«

Zwei Tage später war Kallberg zu ihm gekommen und hatte ihm den Vorschlag des Ministerpräsidenten unterbreitet, in sein nächstes Kabinett als Wirtschaftsminister einzutreten, womit der Ministerpräsident gleichzeitig einen der Schwerpunkte seines Regierungsprogramms unmissverständlich zu verdeutlichen gedachte.

Wilhelm Vohsen, Wirtschaftsminister. Eine schwindelerregende Vorstellung für ihn, der sich mit unvorstellbarer Energie vom Maurer zu einem der größten Unternehmer des Landes emporgearbeitet hatte.

Fast die ganze Nacht lang hatte er mit Kallberg diskutiert und verhandelt und die Marschrichtung für ihre nächsten Schachzüge festgelegt. Wichtig war, dass nichts an die Öffentlichkeit drang, bevor der Ministerpräsident selbst seine Entscheidung bekanntgab. Der Ministerpräsident würde seine Entscheidung, einen parteilosen Unternehmer in seine Regierungsmannschaft zu holen, auch vor seinen eigenen Parteifreunden im Land und im Bund vertreten und verteidigen und erläutern müssen.

»Und nicht zu vergessen die Medien, die sich auf Sie stürzen werden«, hatte Kallberg gesagt. »Diese Hyänen wissen noch zu wenig von Ihnen.«

Vohsen hörte noch sein bellendes Lachen. »Ich habe keine Leichen im Keller, Herr Kallberg! Wenn es das ist, was Sie meinen.«

»Es geht nicht an, dass Ihre Tochter fremdes Eigentum missachtet. Und sagen Sie nicht, dass Beate volljährig ist und Sie nicht für ihre Handlungen verantwortlich sind!«

»Meine Tochter bekomme ich in den Griff«, hatte Vohsen versichert. »Sie glaubt noch, sie kann irgendwelchen armen Teufeln helfen, indem sie in Abbruchbuden friert, oder Kriege verhindern, indem sie sich mit anderen Spinnern auf die Straße setzt.«

Kallbergs kalte Augen im ausdruckslosen Gesicht verrieten nicht, was hinter der hohen Stirn vorging. Sie veranlassten Vohsen nur, sich zu verteidigen, wo es eigentlich nichts zu verteidigen gab. Hemdsärmeligkeit war doch kein Makel! Welcher Unternehmer, der vielen tausend Menschen Arbeit und Lohn gab, hatte nicht andere ruiniert auf seinem Weg nach oben. Auch in der Wirtschaft — und gerade hier — galt das Gesetz des Stärkeren.

Gut, er hatte sich die Firma seines Schwiegervaters unter den Nagel gerissen. Aber er hatte sich auf anständige Weise von seiner Frau getrennt. Sie hatte die kleine Tiefbaufirma behalten, mit der sie beide angefangen hatten und von der sie nichts verstand, die aber dennoch auf unverständliche Weise immer noch existierte, und sie hatte ihren gemeinsamen Sohn behalten, der, als sie geschieden wurden, gerade acht Jahre alt gewesen war.

Er hatte ihr Hans Wilhelm, seinen Sohn, überlassen müssen. Das schmerzte. Auf eine gerichtliche Auseinandersetzung, in der er der Unterlegene gewesen wäre, hatte er es nicht ankommen lassen. Es war das einzige, und, wie er sich selbst immer wieder grimmig versicherte, das letzte Mal in seinem Leben, dass er etwas kampflos weggegeben hatte.

Beate war damals schon vierzehn Jahre alt gewesen. Sie hatte erklärt, bei ihm bleiben zu wollen. Agnes hatte keine Einwände erhoben. Beate hatte immer an ihrem Vater gehangen, während es Agnes nie gelungen war, eine Beziehung zu ihrer Tochter aufzubauen. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie selbst noch ein Kind gewesen war, als Beate geboren wurde. Achtzehn war sie gewesen.

Mein Gott, dachte Vohsen.

Als er sie zum ersten Mal genommen hatte, hinten in einem Bauwagen, in der Mittagspause an einem Freitag, während ihr Vater den Arbeitern unten im Kanalschacht die Lohntüten brachte, war sie gerade siebzehn gewesen, und er schon vierundzwanzig, und er war besessen gewesen von dem Gedanken, mehr aus der Firma des Alten zu machen als eine Klitsche, die Abwasserkanäle ausbesserte oder im Frühjahr Frostschäden auf Landstraßen beseitigte.

Agnes war damals ein unbedarftes, unbeholfenes Mädchen gewesen. Erst in den Jahren ihrer Ehe, in denen er sich kaum um sie gekümmert hatte, hatte sie sich zu einer gescheiten und aufregend reizvollen Frau entwickelt. Er hatte es erst gemerkt, als sie ihn verließ.

»Halten Sie Ihre persönlichen Angelegenheiten in Ordnung«, sagte Kallberg plötzlich, als hätte er Vohsens Gedanken erraten. Es sollte eine Mahnung sein, aber es hörte sich wie eine Drohung an. »Wenn Sie ernste Schwierigkeiten erwarten, Herr Vohsen, scheuen Sie sich nicht, sich mir anzuvertrauen, rechtzeitig. Es gibt immer einen Weg.«

Kallberg, der Parteifunktionär, der Mann, der immer im Hintergrund blieb, konnte alles ausbügeln.

Kallberg warf einen Blick auf die Uhr, dann sah er sich prüfend um. Doch es gab nichts, was außer den beiden Kaffeetassen auf seine Anwesenheit hingedeutet hätte. Er selbst hatte alle Papiere eingepackt und die Whiskygläser, die Flasche und die Teller, von denen sie belegte Brote gegessen hatten, weggeräumt.

Er nahm die Aktentasche und stand auf. »Ich werde jetzt lieber gehen«, verkündete er. »Vielleicht bekomme ich vor der Fraktionssitzung heute Mittag doch noch etwas Schlaf.« Er lächelte, als er Vohsen flüchtig die Hand schüttelte. »Rufen Sie mich in den nächsten Tagen am besten nicht an, außer, wenn etwas schiefgehen sollte. Aber ich wüsste nicht, was.«

»Vielen Dank für Ihre ... Bemühungen«, sagte Vohsen.

»Aber nicht doch, mein lieber Vohsen!« Er hob die Tasche. »Der Schatzmeister dankt. Er bedauert es immer wieder außerordentlich, dass er Ihnen nicht persönlich zum Ausdruck bringen kann, wie hilfreich Ihre Großzügigkeit unserer Sache ist.«

Vohsen begleitete Kallberg zur Tür. Dann ging er zum Fenster zurück. Er war nicht müde. Er konnte, wenn es sein musste, zwei Nächte durcharbeiten.

Heute Morgen hätte er auf keinen Fall schlafen können. Nicht, so lange er Beate dort draußen bei diesen Menschen wusste, die er für Halunken hielt.

Seine Augen brannten, als er zu den unregelmäßig angeordneten Hallen im Südosten hinübersah. Hinter dem alten Güterbahnhof und den aufgegebenen Fabriken lagen zwei Straßenzüge, die für den Abriss freigegeben waren.

Ob Beate wusste, dass eine seiner Gesellschaften die Häuser gekauft und die Bewohner vertrieben hatten, damit er dort Bürotürme und Apartmenthäuser errichten konnte?