10
Nach einer Freischicht am Mittwoch wechselten Jochen Teske und Hermann Gropp am Donnerstag in die Frühschicht.
Katterbach, der Dienstgruppenleiter ihrer Schicht, fing Jochen ab, als er von seinem Spind kam.
»Ihr neuer Funkwagen ist da, Sie Glückspilz!«, sagte er überschwänglich. »Fahren Sie demnächst etwas vorsichtiger, wenn ich bitten darf, der Etat verträgt keinen weiteren Bruch.«
»Sonst noch Beschwerden?«, erkundigte sich Jochen.
»Muffig, der Herr Polizeiwachtmeister? Nicht zufrieden mit den Zeitungsberichten?«
»Quatsch!«
»Unser Chef ist sehr stolz auf Sie, weil Sie ein so bescheidener Beamter sind.« Katterbach zog einen Zettel unter dem Pult hervor. »Die Kripo in Sennefeld möchte gern Ihre Zeugenaussage auf nehmen. Man erwartet Sie heute um 15 Uhr. Machen Sie ein freundliches Gesicht, der Herr Staatsanwalt wird auch dort sein.«
»Mist«, sagte Jochen.
»Haben Sie etwas Anderes vor, Herr Teske?«, erkundigte sich Katterbach.
»Um zwei habe ich dienstfrei!«
»Ich schreibe Ihnen die Überstunden gut. Das ist doch ein Angebot!« Katterbach stützte sich mit den Ellbogen auf den Tresen. Breit grinste er den Jüngeren an. »Kommen Sie, Teske, es ging nicht anders. Die Ganoven werden morgen früh nach Hamburg überstellt. Die Hamburger haben nämlich ältere Rechte. Gegen den Brecht liegt dort ein Haftbefehl wegen bewaffneten Raubüberfalls mit Körperverletzung vor. Und der andere, Kloss, wird von der Staatsanwaltschaft Hamburg wegen diverser Kleinigkeiten gesucht. Unter Anderem Einbruch in ein Waffengeschäft. Freuen Sie sich, dass Sie nicht nach Hamburg müssen.«
»Ich freue mich riesig«, sagte Jochen.
Er nahm sein Streifenbuch aus dem Fach und ging in den Aufenthaltsraum. Wenn sie Frühschicht hatten, hatte er stets Mühe, Gropp vom Kaffeeautomaten weg zu lotsen.
»Ist was?«, erkundigte sich Gropp, als Jochen wenig später um den ihnen zugeteilten Funkwagen herumging. Es war wieder ein Passat.
»Nee«, antwortete Jochen. »Katterbach hat uns reingelegt.«
»Wieso?«
»Das ist kein neuer Wagen. Den will kein Anderer mehr haben. Das ist eine alte Kiste!«
Gropp setzte sich hinein. »Kommen Sie schon! Wir haben einen Wagen zu Bruch gefahren. Wieso und warum, danach fragen die in der Verwaltung nicht. Die müssen erst wieder Vertrauen zu uns fassen.«
Jochen startete den Motor. Argwöhnisch lauschte er dem leisen Brummen, und erst, als er nichts daran auszusetzen fand, lenkte er den Funkwagen vom Platz bei der Wache.
Gropp nahm den Hörer des Funktelefons. »Heide 1 von Heide 42, sind auf Empfang.«
»Verstanden, 42«, bestätigte die Zentrale.
Eine andere Stimme kam aus dem Lautsprecher.
»Auf zu neuen wilden, verwegenen Jagden!«
Die Einsatzleitstelle fuhr sofort dazwischen.
»Hier Heide 1! Halten Sie Funkdisziplin!«
Jochen fuhr durch die Stadt.
»Wie haben Sie die Geschichte verarbeitet?«, erkundigte sich Gropp, nachdem sie einen leichten Verkehrsunfall auf der Uelzener Straße aufgenommen hatten und wieder unterwegs waren.
Jochen hob die Schultern. »Keine Probleme, glaube ich. Meine Mutter war ziemlich aufgeregt. Irgend jemand hatte sie angerufen . . . Und Sie?«
»Es war knapp, denke ich. Wenn Sie mich nicht weggestoßen hätten, wäre ich wohl die Wand runter gesegelt. Ich hatte mich so auf den gezielten Schuss konzentriert . . .« Gropp wischte über sein Gesicht. »Ich habe noch nie auf einen Menschen geschossen. Ich habe wohl zu lange gezögert. Es kostet verdammte Überwindung.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Jochen.
»Ich habe in meinen Bericht geschrieben, dass Sie mir durch Ihren besonnen und selbstlosen Einsatz möglicherweise das Leben gerettet haben.«
»Es war einfach ein Reflex«, sagte Jochen unbehaglich.
»Mag sein«, räumte Gropp ein. »Sie hätten auch zur anderen Seite wegspringen können. — Hat Stöcker mit Ihnen gesprochen?«
»Nein. Mit mir redet er nur, wenn er was zu meckern hat.«
»Er hat bei mir gemeckert.«
»Über mich?«
»Es betrifft uns beide. Die Einsatzleitstelle hatte angeordnet, wir sollten auf Verstärkung warten, als feststand, dass die Verdächtigen sich im Kiesgrubengelände aufhielten. Erinnern Sie sich?«
»Die Durchsage habe ich nicht gehört. Als Sie mir sagten, ich solle anhalten, war es zu spät. Da schlingerte der Ascona ja schon auf uns zu. Ich musste einfach Gas geben!«
»Das habe ich Stöcker auch erklärt. Wie auch immer, er stuft unser Vorgehen als leichtsinnig ein.«
»Von mir aus.«
Jochen bog in die Marienstraße ein, fuhr bis zum Ende und hielt an der Seite der Hauptschule. Wenn er sich vorbeugte, konnte er durch die Zaunstäbe hindurch das Tor und den Kiosk an der Rektor-Füger-Straße sehen.
»Wenn er einen Vermerk in Ihrer Personalakte macht, sollten Sie dagegen angehen«, sagte Gropp.
»Mal sehen«, meinte Jochen. Er ließ sich tiefer in seinen Sitz rutschen und nahm die Mütze ab. Die Sonne spiegelte sich blass in den Scheiben des Schulgebäudes.
Gropp verfiel in Schweigen, und auch Jochen war nicht nach Reden zumute. Er versuchte, nicht an Bettina zu denken. Insgeheim hatte er gestern den ganzen Tag auf ihren Anruf gewartet. Bettina wusste, dass er dienstfrei gewesen war.
»Was macht die Rothaarige?«, fragte Gropp unvermittelt. «Oder ist es wieder eine Andere?«
»Keine Andere, aber mit der Rothaarigen läuft nichts mehr«, sagte Jochen, wobei er starr zur Schule hinübersah.
Die große Pause begann. Einige der älteren Schüler gingen einfach durch das Tor und zum Kiosk, obwohl das Verlassen des Schulgeländes während der Schulstunden und der Pausen streng verboten war.
»Schade«, meinte Gropp. »Sie war bestimmt nett.«
»Ja«, sagte Jochen.
»Helden sind eben einsam, und die Polizisten ganz besonders . . .«
»Sie haben gut reden!«
»Sie sind nicht der erste Schutzmann, dem das Mädchen weggelaufen ist«, sagte Gropp überzeugt. »Sogar die Ehefrauen haben schon damit angefangen, den Polizisten wegzulaufen. Es ist wie eine Epidemie. Wissen Sie, dass die Scheidungsquote unter Polizeibeamten sehr hoch ist und immer noch steigt?«
»Nein«, antwortete Jochen.
Er verdrehte den Kopf, um die größer werdende Ansammlung an dem kleinen Kiosk besser beobachten zu können. Einige Jungs rauchten. Jochen vermutete, dass auch eine Schnapsflasche kreiste.
»Eigentlich ist es doch blöd, dass wir immer noch beim Sie sind«, sagte Gropp dann. »Wir sind doch Kollegen und Partner. Was meinen Sie?«
Jochen spürte genau, wie schwer es dem Älteren fiel, ihm, dem Jüngeren, zu zeigen, dass er ihn mochte. Auch er, Jochen, war nicht der Typ, der seine Gefühle offen zur Schau stellte. Vorgestern Abend hätte er es tun müssen . . .
Er sah Gropp an und lächelte. »Ich werde mich bestimmt ein paar Mal versprechen«, meinte er.
»Nicht, nachdem wir zusammen ein paar Bier gezischt haben.« Er hielt Jochen die Hand hin. »Du weißt ja, wie ich heiße. Hermann. Gut deutsch. Hermann.«
»Ich heiße Jochen.«
Gropp stieß Jochen an und deutete mit dem Kopf nach draußen.
»Sieh mal an, den kennen wir doch!«
Er stand zwischen den Schülern neben dem Kiosk, von denen er die meisten überragte. Sein schmaler Vogelkopf mit dem ungepflegten Haar zuckte unruhig. Dann schob er sich zwischen ihnen her und stakste davon.
Er trug noch dieselben abgewetzten Jeans und die ausgelatschten Turnschuhe wie vor ein paar Tagen, abends unter den Platanen am Markt. Unter seinem Arm klemmte ein zerkratzter schwarzer Vollsichthelm.
»Verdammich, verdammich«, stieß Gropp verwundert hervor. »Du hast recht, Jochen. Wie, sagte der Jansen- Junge, heißt der Bursche?«
»Harry. So nannte ihn jedenfalls der Andere.«
Harry trottete mit vor geneigtem Oberkörper davon. Jochen tastete nach dem Zündschlüssel.
»Warte«, sagte Gropp gelassen.
»Mit dem stimmt doch was nicht!«
»Was du nicht sagst!«, spottete Gropp.
»Der hat Hasch verkauft!«, sagte Jochen. Als Harry seinen Blicken entschwand, fügte er hitzig hinzu: »Also greifen wir ihn uns und filzen seine Taschen!«
»Aber doch nicht jetzt, und nicht hier, Jochen«, sagte Gropp. »Der hat seine paar Joints verscheuert. Wenn wir ihn jetzt packen und nichts finden, stehen wir im Regen. Der soll sich erst wieder die Taschen füllen.«
Jochen blies gegen die Windschutzscheibe. »Dann müssen wir ihn den Kollegen in Sennefeld schenken«, meinte er enttäuscht.
»Das überlass mal mir«, sagte Gropp. Er nahm den Hörer des Funktelefons aus der Halterung und drückte die Sprechtaste in der Hörerbrücke. »Heide 1 von Heide 42 kommen.«
»Ja, 42?«
»Haben Sie einen Wagen in der Nähe Uhlenbecker Straße?«, erkundigte sich Gropp.
»13 steht am Kauf-Zentrum.«
»Da kommt in etwa zehn Minuten ein Mann mit einem Mofa oder Mokick her. Hager, schwarzer Sturzhelm, abgetragene Jeans und Turnschuhe. Können Sie den Fahrer überprüfen?«
»Gibt es einen besonderen Anlass?«
»Personalienfeststellung«, sagte Gropp.
»Verstanden. 13 setzt sich direkt mit Ihnen in Verbindung, 42.«
Zufrieden klemmte Gropp den Hörer in die Halterung. Zu Jochen sagte er: »Fahr mal um die Ecke.«
Jochen startete und stoppte gleich wieder vor dem Kiosk. Er und Gropp stiegen aus und bauten sich vor dem winzigen Schalter-Fenster auf. In dem Rechteck schwebte ein schwammiges Gesicht.
»Wie geht es Ihnen, Herr Lüth?«, erkundigte sich Gropp jovial. Er stützte sich auf das Brett vor dem Fenster, auf dem Kästen mit Comic-Heften und Gläser mit Süßigkeiten standen. Angewidert betrachtete er die feuchten Ringe, die von einem Flaschenboden stammten.
»Guten Morgen«, sagte Lüth unsicher. »Sie heißen Gropp, ja?«
»Getroffen!«
»Kann ich etwas tun? Für Sie und Ihren Kollegen?«
»Schlagen Sie was vor.«
»Ich habe frischen Kaffee da.«
»Wie wär's mit einem Schnaps?«, fragte Gropp.
»Schnaps? Ich darf hier doch keinen Schnaps ausschenken!«
»Aber verkaufen dürfen Sie ihn.«
»Ja . . .«
»Auch an Jugendliche?«
»Ich verkaufe keinen Alkohol an Jugendliche!«, sagte der Kiosk-Pächter entrüstet.
Gropp deutete über seine Schulter. »Wir haben während der Pause dort drüben gestanden. Wir sind ziemlich sicher, dass da eine Schnapsflasche rundgegangen ist. Wir können die Schüler mal rauskommen lassen, wenn Sie dabei bleiben, keinen Alkohol an Jugendliche abgegeben zu haben.«
»Da war Einer, der war über 18«, behauptete Lüth. »Zumindest sah er so aus«, schränkte er hastig ein, als er Gropps hartem Blick begegnete.
»Wieso durfte der denn hier trinken, und ich nicht?«
Lüth wand sich. »Was kann ich denn gegen diese Burschen machen! Wenn ich ihnen den Schnaps nicht verkaufe, holen sie ihn sich im Supermarkt.«
Gropp schüttelte missbilligend den Kopf. »Das Ordnungsamt wird nicht erfreut sein, wenn es erfährt, dass Sie nicht in der Lage sind, in Ihrem Verantwortungsbereich für die Einhaltung der Vorschriften und Auflagen zu sorgen. Hinzu kommen Verstöße gegen die Bestimmungen des Gesetzes zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit. Die Schulaufsichtsbehörde wird darauf bestehen, dass Ihr Laden geschlossen wird, Herr Lüth.«
Das teigige Gesicht hinter dem Schalter-Fenster überzog sich mit einem dünnen Schweißfilm.
»Herr Gropp, ich werde aufpassen! Ich brauche doch das Einkommen hier! Von meiner Rente kann ich nicht leben!«
»Was wollte Harry hier?«, fragte Gropp überfallartig.
»Harry?«
»Wenn Sie den Kasper mit mir machen wollen, kann ich auch andere Töne anschlagen! Wir können uns zum Beispiel in der Wache unterhalten!«
»Sie sagten, Harry?«
»Das ist der große dürre Bursche, der jeden Donnerstag herkommt. Oder kommt er auch an anderen Tagen?«
»So genau kriege ich das nicht mit. In den Pausen drängeln immer viele hier rum. Da muss ich auf mein Geld aufpassen.«
»Sie haben uns immer noch nichts über Harry erzählt.«
»Was soll ich Ihnen denn erzählen? Der kommt manchmal her, trinkt 'ne Cola . . .«
»Und 'n Bier . . .«
»Nee, Bier trinkt der nie.«
»Also ein Antialkoholiker. So Leute soll es ja noch geben. Er kommt immer, wenn drüben Pause ist. Komisch, wie?«
»Wieso?«
»Weil er nicht auf diese Schule geht, nie hingegangen ist. Warum kommt er also?«
»Keine Ahnung, Herr Gropp.«
»Wie heißt er?«
»Harry. Mehr weiß ich auch nicht.«
Gropp sah den Kiosk-Pächter durchdringend an.
»Herr Gropp, ich will doch keine Schwierigkeiten!« beteuerte Lüth.
»Ich sehe aber eine Menge auf Sie zukommen. Ich weiß, dass Harry Geschäfte macht.«
Zu Gropps Überraschung nickte Lüth. »Ja, ja. Er hat schon mal so Sachen dabei. Uhren oder Messer oder Feuerzeuge. Einmal hat er mir einen Kassettenrecorder angeboten. Aber was soll ich mit so einem Ding.«
Gropps Blick fiel auf ein Brett in der Auslage. Darauf waren Taschenmesser und Gasfeuerzeuge befestigt. Lüths Gesicht lief rot an.
»Jetzt bekommen Sie es sogar mit dem Diebstahldezernat zu tun«, seufzte Gropp.
Als er hörte, dass sein Funkname gerufen wurde, wandte er sich noch einmal an Lüth.
»Wenn Sie innerhalb der nächsten Stunde auf die Idee kommen sollten, zu telefonieren, sind Sie weg vom Fenster, Mann, und das meine ich wörtlich!«
Er setzte sich in den Streifenwagen, knallte die Tür zu und nahm den Hörer. Jochen setzte sich hinter das Lenkrad.
»Die betreffende Person fährt ein Leichtkraftrad älterer Bauart«, meldete der Streifenführer von Heide 13. »Kennzeichen SEF—CC 416. Name Böhme, Vorname Harald, geboren am 5.4.63 in Celle, jetzt wohnhaft in Ortwinstraße 23 in Sennefeld. Wir haben den Fahrer nach mündlicher Verwarnung wegen einer schadhaften Auspuffanlage weiterfahren lassen.«
»Danke, 13.« Gropp wandte sich an Jochen. »Diese kleine Beutelratte handelt mit Diebesgut . . .«
»Und mit Drogen«, behauptete Jochen. »Zumindest mit Haschisch.«
Gropp sah den jüngeren Kollegen skeptisch an. »Na schön. Wenn wir danebengreifen, dann gemeinsam. Fahr schon mal los. Nach Sennefeld.« Er nahm den Hörer und rief die Einsatzstelle.
»Können Sie eine Fahndungsstreife zu der eben genannten Anschrift schicken?«, fragte er.
»Sofort?«
»Gefahr im Verzuge«, behauptete Gropp forsch.
»Brauchen Sie Unterstützung von der K-Wache?«
»Lieber einen Hundeführer mit Rauschgifthund«, antwortete Gropp.
»Ihr habt es wohl groß vor!«
Diese Bemerkung konnte sich der Kollege in der Einsatzleitstelle nicht verkneifen.
»Ein kleiner Fisch«, wiegelte Gropp ab. »Wir kommen rüber.«
»Sie leiten die Aktion, 42. Treffpunkt in 20 Minuten Ortwinstraße Ecke Burgmauer an der Gärtnerei.«
Jochen Teske und Hermann Gropp ließen ihren Funkwagen hinter der Gärtnerei stehen. Die Kollegen von der Fahndungsstreife trugen Zivil. Ihr neutraler Audi stand bereits in der Ortwinstraße. Ein Kollege saß am Funk.
Jochen und Gropp begrüßten die beiden anderen mit Handschlag.
»Ich bin Konrad Matheis«, sagte der Ältere, »das ist mein ständiger Partner Heinz Döring.«
Döring war ein schlaksiger junger Mann. Er trug einen dichten Oberlippenbart, der sein Gesicht älter erscheinen ließ.
Gropp setzte die Kollegen kurz ins Bild.
»Wir haben den Verdacht, dass Harald Böhme in der Umgebung der Hauptschule Uhlenbeck entweder Haschisch oder andere Drogen oder Diebesgut vertreibt oder heute morgen welches angeboten hat. Wir halten es für möglich, dass er umgehend nach Hause gefahren ist, um sich mit neuer Ware zu versorgen.«
Matheis nickte. »Wenn wir ihn auf der Treppe antreffen oder er uns in die Wohnung lässt, brauchen wir keinen Durchsuchungsbeschluss.« Matheis reichte Gropp ein Handfunkgerät. »Wir haben nur noch dieses übrig«, sagte er.
»Wo bleibt der Rauschgifthund?«, fragte Jochen.
»Der Hundeführer ist benachrichtigt. Er kommt aus Lüneburg, wird aber in etwa einer Viertelstunde eintreffen. Wollen wir warten?«
»Unser junger Kollege Teske ist ungeduldig«, sagte Gropp. »Gehen wir einfach mal rüber und schauen uns die Bruchbude an, in der Freund Harry wohnt.«
An der Ortwinstraße standen einige heruntergekommene Mehrfamilienhäuser, die in der Nachkriegszeit für Flüchtlinge und Umsiedler erbaut worden waren. Zu jedem Haus gehörten ein enger Hof und ein Schuppenanbau, in dem die Bewohner damals Brennholz lagern oder Kleintiere halten konnten.
Matheis führte die Kollegen durch den schmalen Gang auf den Hof. Das Leichtkraftrad mit dem Kennzeichen SEFCC 416 stand gleich neben der Hintertür. Hinten im Hof lagen Bretter, verbogene Kinderwagengestelle und anderes Gerümpel. Im Nachbarhof spielten ein paar Kinder, Frauen mit Kopftüchern standen an der Teppichstange.
»Bleiben Sie hier am Hinterhaus«, sagte Gropp zu Döring. »Wir wollen vorn hineingehen, wie es sich gehört. Lassen Sie den Mann nicht weg!«
»Klar«, sagte Heinz Döring.
Jochen bückte sich und zog die Kappe mit dem Stecker von der Zündkerze.
»Für alle Fälle«, meinte er.
Döring grinste.
Vorne führten drei ausgetretene Zementstufen zur Haustür. Die Tür war nicht verschlossen. Während Gropp sie bereits öffnete, studierte Jochen die Namensschildchen neben den sechs Klingeln. Sein Gesicht wurde lang, als er den Namen Böhme nicht entdeckte.
»Er wohnt als Untermieter bei den Noldens«, sagte Gropp. Er grinste und deutete auf einen verbeulten Briefkasten an der Wand des Treppenflurs. Im Schriftfeld des Briefkastens steckte ein Stück Pappe, auf dem der Name Nolden stand. Darunter war, mit einem spitzen Gegenstand ein gekratzt, der Name H. Böhme zu lesen.
»Zweiter Stock, vermute ich«, sagte Matheis. Er hob das Handfunkgerät an den Mund. »Wir gehen jetzt hoch. Zielperson wohnt anscheinend bei Nolden, zweiter Stock.«
»Verstanden«, bestätigte der Kollege, der im Wagen zurückgeblieben war und dort für die Koordinierung sorgte.
Die Treppe war so eng, dass die Männer nur hintereinander gehen konnten. Auf dem ersten Absatz begegnete ihnen eine alte Frau, die sich am Treppengeländer festklammerte, während die Polizeibeamten wortlos an ihr vorbeigingen.
Auf den letzten Stufen bewegten sich die Männer möglichst lautlos. Matheis deutete auf eine braune Tür auf der rechten Seite. NOLDEN stand unter der Klingel. Einen Türspion gab es nicht. Gropp klingelte zwei Mal.
Der Spalt unter der Tür wurde hell, ein Schatten bewegte sich auf der hellen Linie, dann wurde die Tür aufgerissen.
Eine Frau starrte die Männer sprachlos an. Sie war Ende Dreißig. Der speckige Kittel machte sie plump. Die dicken Füße steckten in formlosen Hausschuhen.
»Frau Nolden? Wo ist Herr Böhme?«
»Was wollen Sie von Harry? Der hat jetzt keine Zeit!« Die Stimme der Frau klang schrill.
»Wir wollen ihn nicht lange aufhalten«, sagte Gropp. »Nur ein paar Fragen.«
Sie zögerte, gab die Tür frei. Gropp und Jochen schoben sich als erste an ihr vorbei. Eine Wolke undefinierbarer Gerüche schlug ihnen aus der offenen Küchentür entgegen. Dort am Tisch saß Harry Böhme. Lustlos rührte er in einem Teller Suppe herum. Sein strähniges Haar hing ihm über die Augen. Er strich es mit einer nervösen Bewegung zurück. Von unten herauf sah er Jochen an. Jochen konnte den Blick nicht deuten, aber er fragte sich, warum der Bursche ihn anstarrte, ausgerechnet ihn!
Schnell ging er um den Tisch herum und baute sich hinter dem Mann auf. Dabei sah er sich aufmerksam um.
Häufig versuchten Verdächtige, rasch noch irgendwelche Beweisstücke verschwinden zu lassen, wenn sie von der Polizei aufgesucht wurden.
Unter dem Stuhl oder dem Tellerrand lag nichts Verdächtiges.
»Können wir uns in Ihrem Zimmer unterhalten?«, fragte Gropp, als sich Frau Nolden hinter ihm in die Küche quetschte.
»Ich bin seine Tante! Und außerdem wird seine Suppe kalt!«
»Stellen Sie sie warm«, entschied Gropp. »Kommen Sie, Herr Böhme.«
Harry Böhme stand auf. »Ich hab' nichts angestellt«, sagte er.
»Das hat bisher auch niemand behauptet.«
Böhme öffnete seine Tür. Sein Zimmer war schmal und nicht aufgeräumt, das Fenster geschlossen. Die Luft roch abgestanden, aber Jochen, der unauffällig schnüffelte, konnte keinen verdächtigen Geruch wahrnehmen.
Das lief so glatt, dachte er. Er schwitzte leicht. Er hatte danebengehauen ...
»Welche Geschäfte machen Sie mit Herrn Lüth und den Schülern der Hauptschule in Uhlenbeck?«, erkundigte sich Gropp. Er ging zum Fenster und lehnte sich dort gegen die Kante.
»Geschäfte? Ich mache überhaupt keine Geschäfte!«
»Wovon leben Sie? Ich meine, was sind Sie von Beruf? Und wo sind Sie beschäftigt?«
»Ich bin arbeitslos«, sagte Harry Böhme. »Zuletzt habe ich im Tiefbau gearbeitet.«
Gropp stieß sich von der Fensterkante ab. Ein Regal erregte seine Aufmerksamkeit. Dort standen ein tragbares Fernsehgerät, eine neue Stereoanlage aus modernen Mini-Bausteinen und ein Paket original verpackter Videobänder.
Gropp schnalzte mit der Zunge. »Teuer, teuer«, sagte er. Seit wann sind Sie arbeitslos?«
»Seit dem vorigen Winter . . .«
Gropp drehte die Geräte um. Matheis schob sich heran. Er notierte die Fabriknummern und gab sie über Funk an den Kollegen unten im Wagen weiter.
Seit die Seriennummern von gestohlenen Gegenständen bundesweit im Polizei-Computer-System POLCOM gespeichert wurden, war eine schnelle Abfrage dieser Daten direkt von jeder Polizeidienststelle, die über ein Datengerät verfügte, möglich.
Harry Böhme begann zu schwitzen.
»Die Kaufunterlagen zu diesen Geräten haben Sie sicher noch«, meinte Gropp.
»Ich brauche nichts zu sagen!«
»Natürlich nicht. Wenn Sie sich damit selbst belasten.«
»Ich habe die Sachen von einem Bekannten gekauft«, sägte Harry Böhme.
»Name?«
»Den kenne ich nicht.«
»Wenn die Gegenstände gestohlen sind, werden wir Ihr Zimmer mit dem feinen Kamm durchsuchen.«
Matheis bedeutete den Anderen zu schweigen, als die Stimme des Kollegen aus dem Funkgerät kam.
»Treffer«, sagte die Stimme. »Vier der angegebenen Positionen stammen aus einem Einbruch in ein Elektrogroßlager in Hamburg. Die Hamburger Kripo sucht dringend nach Hinweisen. Bei dem Einbruch wurde ein Wachmann verletzt.«
»Verstanden . . .«
»Der Kollege aus Lüneburg ist eingetroffen.«
»Schick ihn rauf«, sagte Matheis.
Gropp baute sich vor Harry Böhme auf. »Sie sind vorläufig festgenommen, Herr Böhme. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass alles, was Sie von jetzt an sagen, gegen Sie verwendet werden kann. Alles weitere wird man Ihnen auf der Kriminalwache sagen. — Leeren Sie jetzt bitte Ihre Taschen.«
Böhme beförderte ein Taschenmesser, mehrere teure und neue Feuerzeuge, Schlüssel und eine dicke Brieftasche auf den Tisch.
Matheis klappte die Brieftasche auf. Er stieß einen leisen Pfiff aus und deutete auf das dicke Banknotenbündel.
»Das ist sicher das Arbeitslosengeld für die letzten Monate, was, Harry?«
»Das Geld gehört mir nicht«, sagte Böhme mürrisch.
»Ist das alles, was Sie bei sich haben?«, fragt Gropp.
Als Böhme nickte, griff Jochen Teske in die Brusttasche der Jeansjacke. Seine Finger stießen auf ein flaches Päckchen. Er zog es heraus.
In Aluminiumpapier eingewickelt enthielt das Päckchen vier sehr dünne zigarettenartige Gebilde. Jochen schnupperte.
»Haschisch«, stellte er fest. Er konnte seinen Triumph nur schlecht verhehlen, obwohl der Besitz von nur wenigen Joints kaum ausgereicht hätte, eine weitere Wohnungsdurchsuchung oder gar eine Festnahme zu begründen.
»Die rauche ich selbst«, sagte Harry Böhme auch prompt.
»Wo haben Sie die Joints her?«, fragte Matheis.
»Die kaufe ich in Hamburg am Bahnhof! Das weiß doch jeder, wo man Joints kaufen kann!«
Matheis packte einen von Harry Böhmes Armen und schob den Arm in die Höhe.
»Ich fixe nicht!« sagte Böhme.
Auch der andere Arm wies keine Einstichstellen auf.
Es klingelte an der Wohnungstür. Matheis öffnete die Zimmertür. Frau Nolden stand einem großen bärtigen Polizeibeamten in Uniform gegenüber, der einen Schäferhund an der kurzen Leine führte.
»Kommen Sie hier herein, Herr Kollege!«, rief Matheis.
Mit dem großen Polizisten und dem Hund wurde es noch enger in Harry Böhmes Zimmer. Der Hund witterte sofort die Haschischzigaretten. Der Hundeführer ließ den Hund im Raum herum stöbern, aber das Tier spürte kein weiteres Haschisch auf.
Gropp schob sich in den Flur. Frau Nolden rang die Hände. »Ich weiß von nichts, bestimmt nicht! Was dieser Junge mir schon alles angetan hat . . .«
»Haben Sie oder hat er Zugang zu dem Schuppen unten?«
»Nein. Da wohnen Türken drin.«
»Geben Sie mir Ihren Kellerschlüssel!«, verlangte Gropp.
Die Hände der Frau zitterten, als sie den Schlüssel aus der Kommode im Flur nahm und Gropp gab.
Die ganze Gruppe kletterte im Gänsemarsch nach unten. Im Keller gab es mehrere düstere Lattenverschläge. Weil Harry Böhme verstockt schwieg, musste Gropp das Schloss, auf das der Schlüssel in seiner Hand passte, suchen. Als die dünne Lattentür nach innen schwang, ließ Gropp dem Hundeführer den Vortritt.
Harry Böhme blieb im Gang unter der trüben Lampe zurück, bewacht von Polizeimeister Matheis, während sich der Hund jaulend durch einen Stoß alter Teppiche wühlte. Neugierig trat Jochen näher.
Der Hundeführer zerrte eine Plastiktasche unter den Teppichen hervor. Er öffnete sie und ließ Jochen einen Blick hineinwerfen.
In der Tüte befanden sich sechs in Aluminiumfolie eingeschlagene Tafeln, von denen jede etwa doppelt so groß und so dick war wie eine Tafel Schokolade. Obwohl die Platten gut verpackt waren, verströmten sie einen intensiven Geruch.
»Frische, gute Ware, würde ich sagen«, sagte der Hundeführer. »Letzte Woche erst hatten wir in Lüneburg eine große Menge Schwarzer Afghane aufgespürt. Die Platten waren genau so groß und genau so verpackt.« Der Hundeführer streichelte seinen Hund.
Jochen drehte sich um. Harry Böhme stand im Rahmen der Lattentür. Mit einer Hand packte er in die Latten, und mit einem Ruck zog er die Tür zu.
Dann fuhr er herum. Matheis bewegte sich, war aber zu überrascht, um dem Schlag ausweichen zu können. Harry Böhmes Faust knallte an sein Kinn, und der Beamte rutschte an der Wand entlang zu Boden.
Harry Böhme war bereits auf der Treppe nach oben, wobei Gropp ihm im Weg stand und der Hund ihm, unruhig geworden, grollend in die Beine fuhr.
Oben knallte die Tür zum Treppenhaus zu. Knirschend drehte sich der Schlüssel im Schloss.
»Mein Gott, Döring . . .«, keuchte Matheis. Sein Funkgerät war zu Boden gefallen.
Jochen sprang die Stufen hinauf. Oben warf er sich gegen die Tür. Das alte Holz gab beim ersten Anprall nach. In einem Splitterregen landete Jochen im Flur.
Die Tür zum Hof stand offen. Jochen hörte, wie der Starter des Leichtmotorrades getreten wurde, aber der Motor gab keinen Laut von sich."
Jochen sprang auf den Hof. Polizeimeister Döring wälzte sich stöhnend am Boden.
Harry Böhme hockte auf seiner Maschine. Tückisch sah er Jochen an. Auf der Jochen abgewandten Seite wollte er absteigen.
Jochen war schneller. Er flitzte um die Maschine herum, packte Harry Böhme und riss ihn aus dem Sattel. Das Motorrad kippte um.
Harry Böhme hob die Arme vors Gesicht. »Nicht schlagen!«, wimmerte er. »Nicht schlagen!«
»Reden Sie keinen Mist!«, schrie Jochen ihn an.
Böhme ließ die Arme sinken. »Ich bin doch nur ein kleiner Fisch . . . Lassen Sie mich doch laufen!«
Jochen stieß den Ganoven gegen die Hauswand und nestelte die Handfessel von seinem Gürtel.
»Was haben Sie eigentlich gegen mich? Kümmern Sie sich lieber um Ihre Schwester. Wie die sich das Zeug besorgt . . .«
Jochen spürte ein Kribbeln in seinem Nacken.
»Was wissen Sie von meiner Schwester?«, fragte er flach.
Böhmes kleiner Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. »Sie sind doch die Polizei! Kriegen Sie's doch raus!«
In Jochens Hirn schien etwas zu platzen. Ein roter Schleier senkte sich über seine Augen. Verschwommen sah er das eingefallene Gesicht vor sich, den höhnisch verzerrten Mund, die verschlagenen Augen.
Er riss die Rechte zurück. Die Finger krümmten sich um den Stahl der Handfessel.
Da feuerte er die Faust ab.
Sie kam nie an. Gropp stürzte aus dem Keller. Er schrie etwas, was Jochen nicht hörte. Er fiel Jochen in den Arm und hielt ihn fest, bis der Schleier vor Jochens Augen verschwand.