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»Soll ich den Safe schließen, Herr Dattner?«, fragte die Frings.

»Nein, lassen Sie nur. Danke.«

Else Frings nahm ihren Mantel aus dem Garderobenschrank. Sie sah auf Dattner hinab, der groß und unförmig hinter seinem Schreibtisch hockte.

»Es ist sechs Uhr, Herr Dattner«, sagte sie.

Dattner nickte nur.

»Schönes Wochenende, Herr Dattner.« Sie sah ihn an, lächelte in die leuchtend blauen Augen, die sie nicht wahrzunehmen schienen und die manchmal so nackt und unglaublich kalt blicken konnten. Sie ging, und er nahm nicht wahr, dass sie verschwand.

Sie ging durch den Vorraum, in dem nur ein einfacher Tisch unter tiefhängenden Lampen stand, und sie öffnete die Tür zum Treppenflur. Die Tür bestand aus zwei Schichten Stahlblech, deren Außenseite mit einer scheußlichen Holzimitation beklebt war.

Else Frings, vierundfünfzig Jahre alt, eine alleinstehende Person mit unbestimmten Sehnsüchten und schwachen Nerven, zuckte zusammen. Da war ein Schatten, der sich in den Umriss eines Mannes verwandelte. O nein, dachte sie noch, als eine große Faust auf sie zuschoss. Dann war da, einen Moment nur, ein unvorstellbarer Schmerz in ihrem Kopf, der sich gleich darauf in einer wohltuenden Ohnmacht auflöste.

Dattner stemmte sich in die Höhe, um die schmale Schachtel mit den beiden Diamanten, die er am Morgen gekauft hatte, in den Safe zu legen. Er ächzte leise, weil er wieder seinen Rücken spürte. Heute war es der Rücken. Neulich hatte ihm der Magen zu schaffen gemacht. Ein anderes Mal die Leber. Oder die Beine. Sie machten ihm neuerdings auch öfter Schwierigkeiten. Vor Kurzem war er einundsechzig geworden. Er hatte das Empfinden, dass die meisten dieser Jahre doppelt zählten. Er fühlte sich wie hundert.

Er hätte Brehm nicht fortschicken sollen, überlegte er. Aber heutzutage konnte er es einem Angestellten nicht mehr zumuten, an einem Freitagabend um sechs noch zu arbeiten. Auf einen alten Mann aufzupassen, der nichts weiter vorhatte, als mit Freunden zu reden und ein Bier zu trinken wie an jedem Freitag.

Achtlos legte er die Schachtel in den Safe zu den vielen Dutzend anderen Schachteln und Seidenhüllen, die kostbare Brillanten und Diamanten enthielten. Sein Blick fiel auf die kleine Tür des Innentresors. Auf dem lackierten Stahl klebte ein Foto. Es zeigte ein schmales Jungengesicht. Die vollen Lippen lächelten, doch die großen dunklen Augen blickten ernst, zu ernst. Max war immer ein ernster Junge gewesen. Es war seine Schuld gewesen, dass der Junge so wenig gelacht hatte. Er, Dattner, hatte seinen Sohn um dessen Jugend betrogen. Weil er nicht hatte vergessen können. Er konnte nicht und nichts vergessen.

Er stand einfach da und betrachtete das Gesicht. Es war sehr still um ihn herum. Dieses Haus mitten in der Stadt verwandelte sich an jedem Freitag in ein Totenhaus.

Totenhaus. Ein Haus mit düsteren Erinnerungen.

Dattner spürte ein Ziehen in der Brust und eine jähe Leere im Hirn, als alles Blut nach unten sackte. Etwas war anders und doch vertraut, weil er es schon einmal erlebt hatte. Jeder Nerv seines Körpers wusste es.

Er drehte sich nicht um. Er konnte sich nicht bewegen, nicht einmal den Kopf wenden. Seine Waden verkrampften sich, der Nacken wurde steif. Die offenstehende Tresortür verdeckte den kleinen Monitorbildschirm auf Else Frings Schreibtisch. Draußen im Gang, in der Ecke über der Tür, hing die Kamera, die jeden Besucher wie ein böses Auge anstarrte. Frau Frings hatte den Bildschirm stets im Blickfeld. Nur wenn sie einen Besucher kannte oder er auf andere Weise Gnade vor ihrem strengen Blick fand, drückte sie den elektrischen Türöffner und ging in den Vorraum.

Die Frings hatte Feierabend gemacht. Vor zwei Minuten. Oder erst vor einer? Dattner konnte seine Hand nicht bewegen, um die Uhr aus der Westentasche zu ziehen und sich zu vergewissern. Eine Minute nach sechs, zwei Minuten nach sechs?

Es war sehr still, Dattner wusste jetzt, was seinen Körper lähmte.

Die Tür, die Außentür — sie war nicht zugeschlagen.

Seine Sehnen und die schlaff gewordenen Muskeln reagierten wieder auf die Befehle des Hirns. Er zog an der Safetür. Langsam schwang sie herum. Der Bildschirm geriet in sein Blickfeld.

Der Monitor zeigte ein Stück des Flurs vor dem Aufzug und die Außenseite der Tür mit einem Teil seines Firmenschildes.

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Das Bild flimmerte blass. Der Flur war leer. Hätte er die Frings noch sehen müssen? Und die Tür ... stand sie nicht einen kleinen Spaltbreit offen? Die Frings zog sie stets geräuschvoll ins Schloss.

Immer noch kein Laut.

Die Stahltür des Safes verschmolz geräuschlos mit der Doppelwandung des Stahlkörpers.

Dattners Hand fuhr über das kalte Metall, die Finger berührten den vorstehenden Handgriff, der die Tür automatisch verriegelte und das Zahlenkombinationsschloss sperrte.

Er machte einen Schritt auf seinen Schreibtisch zu, wo das Telefon stand. Vielleicht war Brehm noch in der Garage. Manchmal saß er stundenlang dort und unterhielt sich mit dem Tankwart. Brehm war nicht verheiratet. Hatte er eine Freundin? Dattner wusste es nicht. Er wusste nichts von den Leuten, mit denen er täglich zu tun hatte. Sie interessierten ihn nicht.

»Frau Frings! Sind Sie noch da?« Seine Stimme klang unsicher. Er nahm den Telefonhörer ab. Das Freizeichen klang wie ein Signal aus einer vertrauten Welt.

Er hielt den Hörer in der halb erhobenen Hand. Schweiß perlte aus den Poren seiner Kopfhaut und feuchtete das dünne Haar.

Die Verbindungstür zum Vorraum bewegte sich, der Spalt wurde größer, und dann sah er sie.

Zwei Männer. Beide trugen blaue Wollmützen, die sie über die Gesichter gezogen hatten. Hinter den grob herausgeschnittenen Löchern glitzerten die Augen. Der eine, der jetzt einen Schritt in den Raum hinein machte, war groß und füllig, mit einem Bauch, der über den Gürtel der Jeans herabhing. Sein massiger Körper verdeckte fast den zweiten Mann, der kleiner war und schmächtig neben dem Großen wirkte. Vielleicht versuchte er auch, sich zu verstecken. Die hochgezogenen Schultern und der schief gelegte Kopf verrieten Unsicherheit, vielleicht Angst.

Langsam legte Dattner den Hörer zurück.

»Sehr vernünftig«, sagte der Große flach.

Dattner sah an ihm vorbei in den Vorraum. Auf dem Tisch lag die Frings. Reglos und mit verdrehten Gliedern. Ein Bein war angewinkelt, das Kleid hochgerutscht, den mageren Schenkel bis zum Gesäß Dattners Blicken preisgebend. Er hatte nie bemerkt, dass die Frings Strumpfhosen trug.

Sein Blick kehrte zu dem Großen zurück, der jetzt, nur durch die Breite des einen Schreibtisches von ihm getrennt, vor ihm stand. Die beiden Schreibtische bildeten so etwas wie eine Barriere zwischen der Tür und dem großen Safe.

Der Mann deutete auf den Safe. Seine Pranke steckte in einem schwarzen Lederhandschuh. In der anderen, locker herabhängenden Hand trug er eine flache Pistole. »Machen Sie das Ding auf, dann sind wir gleich wieder weg.«

Dattner rührte sich nicht. Er starrte in die Augen hinter den Löchern. Der Schmächtige trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Pfeifende Atemzüge waren zu hören. Dattner war nicht bewusst, dass sie aus seinem Mund drangen. Sekunden verstrichen, die Zeit schien keine Bedeutung mehr zu haben. Der Schmächtige wollte etwas sagen, doch der andere stieß ihn leicht mit dem Ellbogen an. Dattner richtete den Blick auf den Schmächtigen. Er sah ein Stück weiße Haut über dem runden Ausschnitt des T-Shirt, wo der Hals begann. Ein paar Haare waren dem Scherblatt des elektrischen Rasierapparates entgangen. Es waren lange, weiche, schwarze Haare.

Der Große hob die Hand mit der Pistole.

»Aufmachen!«

Langsam schüttelte Dattner den Kopf.

Der Schmächtige zog scharf die Luft ein. Der Große stieß ihn erneut an, dann kam er mit einer schnellen Bewegung um den Schreibtisch herum. Dattner blickte starr geradeaus. Er spürte, wie der Mann ihm die Pistolenmündung unter den Kieferknochen presste. Er gab dem Druck ein wenig nach und legte den Kopf in den Nacken.

»Vielleicht wollen Sie den Helden spielen, aber denken Sie auch an Ihre Angestellte! Mein Freund hier, das ist ein ganz rabiater Junge. Der reibt das Gesicht der Alten so lange über die Wand, bis entweder die Tapete oder die Haut in Fetzen geht.«

Der Kloß in Dattners Kehle löste sich auf. »Nein«, sagte er. Seine Stimme klang nicht besonders fest, überhaupt nicht überzeugend.

»Sie wollen das späte Mädchen doch nicht über die Klinge springen lassen?«, zischte der Große ungläubig. »Wenn die Presse das breittritt, sehen Sie aber ganz alt aus, Mann!«

»Sie ist meine Angestellte. Sie bekommt ein Gehalt, sie ist sozialversichert ...«

Der Druck unter seinem Kiefer ließ plötzlich nach, und sein Kopf sank nach vorn. Er sah den Schlag nicht kommen, er spürte nur den Schmerz, als der Große ihm den Pistolengriff auf den Wangenknochen schlug.

Seine Beine wurden weich, aber der scharfe Schmerz hatte auch etwas Reinigendes, Vertrautes. Er schwankte leicht, fing sich, stützte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte. Blut rann über seine Wange. Er ließ den Kopf hängen. Ein Tropfen platschte auf ein sauberes weißes Papier.

Die Stimme des Großen drang an sein Ohr. Sie hatte ihre Gelassenheit eingebüßt. »Sie können es haben, wie Sie wollen. Ich tue es nicht gern, aber ich tue es. Machen Sie die Kiste jetzt auf.«

Dattner starrte auf das Papier, auf dem jetzt der vierte rote Fleck erschien. Der Schmerz — wo blieb der Schmerz?

»Los, los! Verpass ihm eins!«, hechelte der andere. »Worauf wartest du? Ich sage dir, er ...«

»Halt die Schnauze!«

Dattner wurde gepackt, herumgerissen und mit dem Rücken gegen die Wand gestoßen. Er spürte den Atem des Mannes in seinem Gesicht.

»Warum, Mann? Sie machen das Ding ja doch auf!«

Dattner schüttelte den Kopf.

Sein Schädel schien zu bersten. Der Schmerz war da. Wie hatte er auch nur einen Augenblick annehmen können, dass der Schmerz ihn verschonen würde? Was geschah mit seinem Kopf? Eine Pranke presste ihn gegen die Wand. Der Druck, dieser Druck, wie lange konnte der Knochen standhalten? Stimmte es, dass es sehr schwer war, ein gekochtes Ei mit der Hand zu zerquetschen?

Dattner spürte den Schrei, der aus seiner Kehle quoll, doch bevor er sich zu einem Laut formte, war da eine breite Hand, die den Schrei erstickte.

»Wenn Sie uns helfen wollen, brauchen Sie nur zu nicken«, sagte die Stimme, jetzt wieder flach und sicher.

Dattner bekam keine Luft. Sein Körper zuckte. Der Mann lockerte den Druck der Hand, und als Dattner nicht schrie, gab er den Mund vollends frei. Dattner keuchte. Er konnte seinen Peiniger nicht genau erkennen, weil Tränen seinen Blick verschleierten. Zuletzt hatte er vor zwei Jahren geweint.

Max, dachte er, Max ...

»Ich habe mehr Schmerzen ertragen, als ihr euch vorstellen könnt«, hörte er sich sagen. »Ich habe mehr erlebt, als ihr in tausend Jahren erleben könnt.«

Der Mann schüttelte ihn wütend. Dattners Kopf schlug gegen die Mauer.

»Man hat mir die Finger gebrochen und die Zähne herausgerissen«, sagte Dattner unbeirrt. »Ich habe gesehen, wie man meinen Bruder und meine Mutter ermordete ... Ich habe Auschwitz überlebt. Was könnt ihr mir antun, was ich nicht schon erlebt hätte ...«

Sein Kopf wurde erneut mit unglaublicher Rohheit gegen die Wand gepresst. Er holte tief Luft, bevor die große Hand seinen Mund verschloss. Der Kopf mit der Mütze zerfloss wie ein Spiegelbild im Wasser, wenn der Wind darüberstreicht, dann bekam er ein Gesicht. Ein Gesicht ... Einen winzigen Moment nur hielt das Trugbild stand, bevor es sich auflöste, und doch hatte er das Gesicht erkannt, weil er es oft sah in seinen Träumen, am Tag und in der Nacht, weil es mit Schmerzen verbunden war, mit allen Schmerzen, die ein Mensch einem anderen zufügen konnte. Nie hatte er den Namen erfahren, der zu diesem Gesicht gehörte. Nur das Gesicht hatte sich in seine Erinnerung gegraben, weil es dem Mann gehörte, der seinen Bruder erschlagen hatte — vor achtunddreißig Jahren in Auschwitz.

Dattner konnte nicht und nichts vergessen.

Auch nicht den Tag vor zwei Jahren, als an dieser Stelle ...

Er stöhnte, weil der andere irgendetwas mit ihm machte. Er fand sich auf Händen und Knien am Boden wieder. Eine Schuhspitze krachte in seine Rippen.

»Es kann so einfach sein«, lockte die Stimme.

So einfach. Er brauchte nur am Kombinationsschloss zu drehen, und die Schmerzen würden aufhören. Er keuchte. Jemand jaulte wütend. Das war der Schmächtige. Woher wusste er, dass es der Schmächtige war? Dieses ungeduldige, wütende Jaulen ...

»Ich habe keine Angst vor euch. Und ich habe keine Angst vor dem Tod. Ihr habt nichts, womit ihr mich beeindrucken könnt. Nichts ...«

Nichts und niemanden. Nicht einmal Max. Max lebte nicht mehr. Für ihn hatte er einmal den Safe geöffnet. Es hatte Max nicht gerettet.

Ein wütender Tritt erschütterte seinen Körper. Er kippte auf die Seite. Schützend legte er die Arme vor sein Gesicht und krümmte sich zusammen.

»Nicht! Bring ihn nicht um«, sagte der Große.

»Warum tut er es nicht? Warum? Er hat es ...«

Die Stimme riss eine Wunde auf. Ein unbeschreiblicher Schmerz quoll heraus.

»Sei still, du Narr! Sei still!«

Er kannte die Stimme. Er hatte sie schon einmal gehört. Er wusste es, weil er nicht und nichts vergessen konnte. Der unstillbare Schmerz verdeckte alle anderen Empfindungen. Max, Max ...

»Du Schwein! Warum machst du das Ding nicht auf?«, kreischte der Schmächtige jetzt mit schriller Stimme. Seine Fußtritte trieben Dattners unförmigen Körper über den glatten Boden. Dattner hörte seine Rippen knacken, aber er spürte keinen Schmerz mehr, auch nicht, als sein künstliches Gebiss zerbrach und Blut seinen Mund füllte. Nur die Stimme war in seinem Kopf. Diese Stimme ...

Endlich riss der Große den Schmächtigen zurück und schleuderte ihn gegen den Schreibtisch. Dattner zuckte zusammen, und er zitterte, als Hände über seinen Leib strichen und ihm die Brieftasche abnahmen. Dann knirschten Schritte, die Außentür schlug laut in den Rahmen, und er war wieder allein mit der quälenden Erinnerung an einen anderen Freitag, an dem drei Männer hereingekommen waren und Max getötet hatten.

Drei Männer mit Karnevalsmasken. Mickymaus, Frankenstein und ein hässliches Gummigesicht. Auch da hatte er den Safe bereits abgeschlossen. Aber er hatte ihn wieder geöffnet. Für Max ...

Er und Max hatten einander gegenübergesessen und über das Geschäft in New York gesprochen, das Max führen sollte. Sie hatten sich gut verstanden. Max war ein guter und gehorsamer Sohn gewesen. Die Männer hatten Max zwischen sich genommen. Mickymaus hatte ihm das Messer an die Kehle gesetzt, und er, Dattner, hatte den Safe geöffnet.

Unauslöschlich hatte sich die Szene in sein Gedächtnis gegraben, ständig hatte er sie vor Augen, und trotzdem konnte er nicht verstehen, nicht begreifen, was die panikartige Reaktion des Mannes mit dem Messer ausgelöst hatte. War es seine, Dattners, Schuld gewesen? Hatte er sich zu schnell bewegt, als er vom Safe zurücktrat? Hatte der Mann mit der entsetzlich lustigen Mickymaus-Maske vor dem Gesicht annehmen müssen, dass er, Dattner, einen unsichtbaren Alarmknopf berührt hatte oder berühren wollte?

Max, Max ...

Dattner krümmte sich stöhnend zusammen. Der Schmerz in der alten Wunde brannte. Max am Boden, mit dem Messer in der Kehle. Er hatte sich auf seinen Sohn geworfen und ihn festgehalten, während die Mörder blindlings an sich rafften, was sie erreichen konnten. Und dann davonrannten.

Nur einer von ihnen hatte noch etwas gesagt, gerufen. Der Mann mit der Frankenstein-Maske.

»Warum haut ihr ab? Warum? Hier ist doch noch mehr ...«

Das Frankenstein-Gesicht war zu groß für den schmächtigen Burschen gewesen. Frankenstein war jung und unbeherrscht. Und gierig?

Zu gierig. Er war zurückgekehrt.