14

Beate bog, mit zwei schweren Tüten beladen, in die Neutorstraße ein. Es war dunkel geworden. Sie hatte sich länger im Kaufhaus in der Innenstadt aufgehalten, als sie gedacht hatte. Ihren Wagen stellte sie nicht in der Nähe der Wohnung ab, sie ließ ihn meistens an der Talstraße oder sogar noch ein Stück weiter unten in der Nähe der Kirche stehen. Die anderen brauchten nicht zu wissen, dass sie einen Wagen besaß. Lange würde sie ihn wahrscheinlich ohnehin nicht mehr halten können.

Aber heute Abend wollten sie feiern. Sie und Josch hatten die anderen eingeladen, und Beate hatte eingekauft. Schinken und Brot, Käse und Wein.

Sie hatten Grund zum Feiern. Josch hatte sich von Berlin aus um einen Studienplatz an der hiesigen Universität beworben, weil er am Institut von Professor Goldmann, dem renommierten Fachmann für politisches Recht, an seiner Dissertation arbeiten wollte. Goldmann hatte sich bereiterklärt, Josch als Doktoranden zu nehmen, falls die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen ihm einen Platz zur Verfügung stellte.

Der Brief mit der Bestätigung war an diesem Morgen, nur drei Tage, nachdem er der ZVS seine neue Adresse mitgeteilt hatte, gekommen. Josch war am Nachmittag zur Universität hinausgefahren, um sich einzuschreiben und mit Professor Goldmann zu sprechen. Beate war gespannt, was Josch berichten würde.

Sie blickte an der Fassade hinauf, sah die erleuchteten Fenster, und sie hoffte, dass die anderen bereits in der Küche säßen. Beate konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt in der Gesellschaft anderer so wohl und geborgen gefühlt hatte wie in den letzten vier Tagen zusammen mit Klara und Jan, Christian, Hebbie und den anderen. Und natürlich Josch. Wahrscheinlich nie, überlegte sie. Seit sie endgültig mit ihrem Vater gebrochen hatte, hatte sie endlich das Gefühl, zu leben.

Sie sprang die Stufen zum Eingang hinauf. Die Tür stand wie immer offen. Zwei acht- oder neunjährige Jungen, die im ersten Stock wohnten, kamen ihr lärmend aus dem Dunkel des Treppenflurs entgegen. Lächelnd machte sie ihnen Platz. Sie stürmten auf die Straße.

Im Hausflur versuchte sie, mit dem Ellbogen das Licht einzuschalten, gab den Versuch aber bald auf. Entweder konnte sie den Knopf nicht erreichen, oder die Beleuchtung war nicht in Ordnung. Sie ging auf die Treppe zu.

Ihr Hals wurde plötzlich eng, als sie im Dunkeln hinter der Treppe ein helles Oval sah. Im ersten Moment war sie sich nicht einmal sicher, ob es das Gesicht eines Mannes oder einer Frau war, bis sie die Stimme hörte. Es war die Stimme eines Mannes.

»Hallo, Beate!«

Verdutzt blieb sie stehen, spähte in das Gesicht, das langsam heranschwebte wie ein Lampion. Sie kannte es nicht. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Der Mann war noch vier oder fünf Schritte entfernt, genug, um vor ihm her nach oben zu laufen.

Ihr Fuß tastete nach der ersten Treppenstufe, als sie einen Luftzug hinter sich spürte. Bevor sie herumfahren konnte, wurde sie zurückgerissen. Ein Arm legte sich wie ein Balken um ihren Hals und drückte ihr die Luft ab. Eine harte Hand presste ihr ein weiches Tuch über Mund und Nase. Als sich der Druck des Armes an ihrem Hals ein wenig lockerte, holte sie gierig Luft. Ein süßlicher, ekelerregender Geruch strömte in ihre Lungen.

Das helle, konturlose Gesicht verschwand aus ihrem Blickfeld. Im nächsten Moment wurden ihr die Füße unterm Körper weggerissen. Sie verlor den Halt, wollte schreien, aber sie bekam keine Luft, während sie von zwei Männern in die finstere Ecke unter der Treppe geschleppt wurde. Die Tüten fielen zu Boden. Glas splitterte. Beate konnte genau hören, wie einer der Männer die Tüten mit dem Fuß unter die Treppe schob.

Ihr Schädel schien aufzuquellen wie ein Hefeteig. Immer noch saugte sie mit jedem verzweifelten Atemzug den süßlichen Gestank in ihre Lungen. Wild schlug sie um sich. Ihre Faust prallte gegen die Treppenwange. Der jähe Schmerz drängte die herannahende Ohnmacht noch einmal zurück.

Unsanft wurde sie auf den Boden gesetzt. Sie spürte Hände, die ihre Taschen absuchten, hörte einen gezischten Ausruf, »ich habe sie!«, dann strich kalte Luft über ihr Gesicht, und sie wusste, dass einer der Männer durch die Hintertür nach draußen gelaufen war.

Nur einer. Der andere war noch bei ihr und presste ihr das stinkende Tuch über Mund und Nase, bis sie nichts mehr spürte.

Chloroform, war ihr letzter Gedanke.