16
Um beweglich zu sein, hatte sich Jochen kurz nach seiner Versetzung nach Hamburg einen gebrauchten Polo gekauft. Den Wagen hatte er an der Thiedestraße abgestellt.
Ralf Eggert blieb an seiner Seite. Er setzte sich einfach mit in den Wagen, und Jochen wusste, dass er den Kollegen weder abschütteln noch mit Ausflüchten hinhalten konnte.
Während der Fahrt nach Harvestehude erzählte er Eggert, was er wusste. Eggert hörte schweigend zu. Er brauchte Zeit, um das Gehörte zu verdauen.
»Mann, Mann«, sagte Eggert ratlos. »Mann, Mann . . . Wir kommen in Teufels Küche!«
»Du brauchst dich bloß raus zu halten. Sie ist meine Schwester.« Jochens Stimme klang feindselig.
»Was willst du machen, wenn du auf Reimers stößt?«, fragte Eggert.
»Ich weiß es nicht. Du weißt jetzt Bescheid. Mach Meldung, oder lass es.«
Eggert schüttelte langsam den Kopf. »Hast du das alles auf dich genommen, um die Entscheidung jetzt abzuwälzen?«
Jochen warf Eggert einen schnellen Seitenblick zu. Eggerts kantiges Gesicht verriet keine Regung.
»Wenn Reimers geschnappt wird, kommt alles raus«, überlegte Eggert. »Dass du aus persönlichen Gründen wie ein Geier hinter Klein und diesem Böhme her warst.«
»Und dass Maria . . .«
»Wenn Sie noch lebt«, unterbrach Eggert ihn.
»Was sollen wir also tun?«, fragte Jochen. »Nicht dran rühren? Meinst du das?«
»Nein, das meine ich nicht.«
Jochen begriff, und er spürte ein hohles Gefühl im Magen. »Nein, das kann nicht dein Ernst sein«, sagte er heiser.
Eggert blickte starr geradeaus. »Ich lege ihn um, wenn ich die Gelegenheit kriege. Und bis dahin passe ich auf dich auf. So 'nen Jungen aus der Heide, den fressen die hier zum Frühstück.«
Ich glaube, dachte Jochen, ich muss eher auf dich aufpassen.
Aber der Gedanke, Reimers umzulegen und zu versuchen, damit durchzukommen, war ihm auch schon gekommen.
Das riesige Apartmenthaus, das Klein ihm beschrieben hatte, ragte wie ein schimmernder Turm in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Die Straßen rings um die Wohnanlage waren hoffnungslos zugeparkt.
Jochen stellte den Polo in die Einfahrt einer geschlossenen Tankstelle und stellte den Motor und die Beleuchtung ab.
»Du kannst nicht mit dem Kopf durch die Wand«, sagte Eggert. »Die Sache mit dem Klein, die geht in Ordnung, die Geschichte haut hin, weil der Klein das Maul halten wird, jedenfalls bei der Kripo und vorm Haftrichter. Aber wenn du in die Wohnung einer Luxusnutte oder einer Ganovenbraut eindringst, dann bist du erledigt.«
»Willst du mich festhalten?«, fragte Jochen. Wieder klang seine Stimme feindselig.
»Jeder muss selbst wissen, was er tut«, sagte Eggert. »Ich bleibe hier. Einer muss ja die Trümmer einsammeln.«
Jochen stieg aus und ging auf das Apartmenthaus zu. Die Zufahrtstraße mündete direkt in die Abfahrt zur Tiefgarage und endete vor einem Rollgitter. Über dem Gitter funkelte ein rotes Licht wie ein krankes Auge.
Jochen trat unter das vor ragende Dach über dem Eingang. Die Glastüren waren verschlossen. Überall brannte Licht. In der Halle entdeckte er lange Reihen mit Briefkastenklappen. Hier draußen waren einige hundert Klingeln mit Namensschildchen in eine lackierte Blechplatte eingelassen.
Jochen bückte sich und begann, die Namen in den schmalen Ausschnitten zu lesen.
Sein Vorhaben kam ihm plötzlich abenteuerlich vor. Mehr als das. Wahnsinnig.
Wahnsinn war es, mitten in der Nacht bei einer fremden Person in die Wohnung eindringen zu wollen. Man würde ihn aus der Polizei feuern. Zu Recht. Schon die Sache mit Klein würde ihn die Uniform kosten, wenn es den Kollegen nicht gelang, den Mann festzunageln.
Der Verdacht, dass es sich bei dem Klein um denselben Hamburger Johnny handelte, der von der Staatsanwaltschaft Stade wegen vorsätzlicher Körperverletzung gesucht wurde, genügte immerhin, um den Mann bis zu einer Gegenüberstellung mit Zeugen aus Stade festzuhalten.
In der Zwischenzeit würden andere Kollegen versuchen, das Versteck der Drogen, die Klein an Prostituierte verkaufte, zu finden.
Jochen brauchte also nicht zu fürchten, dass Klein den Harry Böhme oder diese Renate Graulich, bei der sich der Strolch versteckte, zu früh warnte.
Trotzdem brannte er darauf, Böhme ein weiteres Mal Auge in Auge gegenüberzutreten. Dieses Mal würde er nicht lockerlassen, bis der Ganove sagte, was er von Maria wusste.
R. Graulich stand auf dem kleinen Namensschildchen. Der Hamburger Johnny hatte ihn also nicht angeschmiert. Zumindest der Name stimmte. Jochen hob die Hand. Der Finger, den er auf den Klingelknopf drücken wollte, zitterte. Und hing dann in der Luft.
Er ließ die Hand sinken und lehnte sich gegen den kalten Beton an der Seite des Eingangs. Ein Ehepaar kam auf den Eingang zu. Die Frau warf ihm verstohlen ängstliche Blicke zu. Der Mann schloss die Tür auf. Blitzschnell verschwanden beide im Haus. Der Mann knallte die Tür zu.
Räuber und Gendarm. Cops and Robbers. Bullen und Ganoven. Verdammt, ich habe die Grenze bisher immer für eine dicke gerade Linie gehalten, dachte Jochen.
Er wollte Polizist sein und Polizist bleiben.
Aber er wollte auch seine kleine Maria nicht im Stich lassen. Sie hatte doch sonst niemanden.
Als ein Funkstreifenwagen langsam über die Parallelstraße heran glitt, wich Jochen in den Schatten neben dem Eingang zurück. Geduckt lief er zu seinem Wagen.