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Ralf Eggert wusste nicht, ob er als Ursache für den dumpfen Druck im Brustkorb das lange Sitzen im Streifenwagen verantwortlich machen sollte. Aber zum Teufel, er war doch kein altes Weib, das an Vorahnungen glaubte!
Immerhin war die Nacht bisher ruhig verlaufen, und er hielt nach einer Möglichkeit Ausschau, wo er den Funkstreifenwagen einige Zeit ungestört abstellen konnte.
Die Hamburger Innenstadt war auch in der Nacht zugeparkt. Eggert rangierte den Streifenwagen in eine Garageneinfahrt am Johanniswall und schaltete die Scheinwerfer aus.
Sein Kollege, Polizeiobermeister Bruno Wittek, löste den Sicherheitsgurt, reckte die Schultern und klinkte die Beifahrertür auf. Er sah Eggert an.
»Was soll ich dir mitbringen?«, fragte er.
»Nur 'ne Tüte Milch«, antwortete Eggert.
Bruno Wittek hob die Schultern und stieg aus. Eggert sah ihm nach, wie er in die Altstädter Straße einbog. In der Imbissbude gleich hinter der Ecke versorgten sich die Kollegen vom 9. Revier mit Getränken und Essbarem, wenn sie Nachtschicht fuhren.
Polizeihauptmeister Ralf Eggert war 31 Jahre alt. Seit sieben Jahren machte er schon Dienst im 9. Revier, das zum Schutzbereich Innenstadt II gehörte. Manchmal hatte er das Gefühl, als hätte er sein ganzes Leben hier verbracht zwischen Brooktorhafen, Rathausmarkt und St. Georg.
Seit einem Jahr wollte er hier raus. Schluss machen mit dem Schichtdienst, der einen Mann kaputtmachte. Der seine sozialen Bindungen zerstörte wenn sie überhaupt vorhanden waren.
Vor einem Jahr war ihm Helga davongelaufen. Von einem Tag auf den anderen. Ohne Erklärung. Damals hatte er den gleichen dumpfen Druck verspürt, lange bevor er in die leere Wohnung kam. Der Verlust schmerzte immer noch. Wie eine Wunde, die nicht heilen wollte.
Bruno Wittek kam auf den Wagen zu. Mit beiden Händen balancierte er die Tüte Milch und die Plastikschale mit den Pommes frites und einem großen Kotelett darauf. Egger stieß die Beifahrertür auf. Wittek ließ sich auf den Sitz fallen. Eggert nahm ihm die Tüte ab.
»Danke«, sagte er. Er riss die Tüte auf und nahm einen langen Schluck.
»Dass du nachts nie was isst«, wunderte sich Wittek mit vollem Mund.
Früher hatte er auch nachts gegessen, irgend etwas Scharfes oder Herzhaftes in sich hineingestopft, um den stumpfen Geschmack im Mund zu bekämpfen, der sich unweigerlich einstellte. Der Körper wehrte sich auf alle mögliche Weise gegen den unnatürlichen Lebensrhythmus. Und er, Eggert, wehrte sich gegen die Mahnungen seines Körpers. Damals war die Welt für ihn noch in Ordnung gewesen.
Weil Helga auf ihn wartete.
»Meine Versetzung kommt durch«, sagte Eggert überzeugt. Solange er Wechselschicht fuhr, war er unfähig, eine neue Bindung einzugehen. Das wusste er genau. Die Angst, noch einmal einen Menschen verlieren zu können, saß zu tief.
Bruno Wittek schüttelte ungläubig den Kopf. »Das bringst du nicht, Ralf, 'nem älteren Kollegen den Platz wegnehmen. Einem, der schlechter dran ist als du. Oder hast du schon Hämorrhoiden? Oder Sehstörungen?«
»Hör auf«, sagte Eggert unwillig.
Er nahm Bruno den Einwand nicht übel. Bruno Wittek war sein Freund, Bruno kannte ihn wie sonst niemand im Revier, und außerhalb des Reviers hatte er ohnehin keine Freunde. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er wieder davon angefangen hatte. Er wusste selbst, dass er zu jung war für einen Innendienstposten mit regelmäßiger Arbeitszeit von acht bis vier. Er hatte keine physischen Beschwerden, jedenfalls keine, die über das Normale bei einem Polizeibeamten hinausgingen. Und solange er nicht durchdrehte, gab man im Polizeidienst auch nicht viel auf psychische Probleme. Und wer welche hatte, versuchte sie sowieso zu verbergen, solange es ging
»Es gibt auch Jobs mit Tagdienst für Jüngere«, sagte er stur. Himmel, was war nur in ihn gefahren, weil er das Thema immer noch nicht wechselte! »In einer Ermittlungsgruppe zum Beispiel, oder . . .«
Der Funkton und die blecherne Lautsprecherstimme aus dem Dunkel unter dem Armaturenbrett schnitten ihm das Wort ab.
»Norderstraße 10, ruhestörender Lärm. Wer fährt?«
»Das ist für uns«, sagte Eggert und faltete die Milchtüte sorgfältig zu.
Wittek fluchte, als er den Hörer des Funktelefons aus der Halterung nahm und dabei ein paar Fritten auf den Boden fielen.
»Michel 97 fährt«, sagte er.
»Verstanden, 97. Der Anrufer wartet vorm Haus auf Sie.«
Eggert fuhr bereits an. Wittek grinste, als er Senf von seinen Fingern leckte.
»Wer weiß, was das wieder für 'n Lärm ist«, meinte er. Er musste an das Liebespärchen denken, das sie vor einigen Tagen in einem Hausflur überrascht hatten. Die Frau hatte ihre Umgebung völlig vergessen und vor Lust gekreischt, bis ein Hausbewohner die Polizei rief, weil er glaubte, da unten werde eine Frau umgebracht.
Der Mann, der auf den ausrollenden Streifenwagen zulief, trug einen Schlapphut, einen alten Regenmantel und Pantoffeln. Die Polizisten stiegen aus.
»Sie haben angerufen?«, fragte Eggert, während er den Wagen abschloss. Wittek rannte um die Haube herum auf den Hauseingang zu.
»Ja, ich, mein Name ist Töpfer«, sagte der Mann aufgeregt. »Die sind immer noch dran, das gibt Mord und Totschlag, gut, dass Sie so schnell kommen . . .«
Töpfer lief neben Eggert her. Die Lampe über der offenen Haustür brannte, auch das Treppenhaus war erleuchtet.
»Das ist 'ne Nuttenwohnung da oben«, berichtete Töpfer. »Die Telefonnummer steht immer in der Zeitung.«
Wittek wandte sich um. »Steht die Adresse auch dabei?«, wollte er wissen.
»Die Adresse? Nee, wieso?«
»Woher wollen Sie denn wissen, dass das 'ne Nuttenwohnung ist?«, fragte Eggert.
»Das weiß doch jeder hier im Haus! Die Wohnung hat 'n Zuhälter gemietet, der bringt hier immer irgendwelche Weiber unter!«
Eggert betrat das Treppenhaus. Lauschend neigte er den Kopf, aber er konnte nichts hören. Wittek studierte die Namensleiste neben den Klingelknöpfen.
»Studio«, sagte er.
Eggert nickte unwillkürlich. Töpfer hatte also recht, obwohl er kaum daran gezweifelt hatte, dass Töpfers Darstellung den Tatsachen entsprach. Studio oder Atelier stand meistens an den Wohnungen der Mädchen, die per Zeitungsannonce Freier suchten.
»Einen Aufzug gibt es nicht«, sagte Töpfer, der das Abwarten der beiden Polizisten falsch deutete.
»Wir sind fit«, sagte Wittek.
Er schob sich an Eggert vorbei und sprang die Stufen hinauf. Eggert hetzte hinterher. Bruno versuchte stets, der Erste zu sein. Das war sein einziger Fehler, jedenfalls in Eggerts Augen. Bruno war erst 26, und er wollte es noch zu was bringen. Deshalb war er bemüht, in jeder Situation die Nase vom zu haben.
Hinter dem Treppenknick über der zweiten Etage hörten sie es. Eine Frauenstimme. Schrill vor Angst oder Zorn, und die dunklere Stimme des Mannes, wütend und scharf.
Während die Polizisten die restlichen Stufen hinaufsprangen, krachte eine Tür, und dann schrie die Frau erneut. Der Schrei brach unvermittelt ab, als hätte jemand ein Radio ausgeschaltet.
Bruno Wittek erreichte den Stockwerksflur als Erster. Drei Türen mündeten auf den Treppenabsatz. Eine stand offen. Eine ältere Frau in einem weißen Bademantel sah den Polizisten entgegen.
»Nicht zum Aushalten ist das!«, sagte sie empört.
»Gehen Sie bitte hinein«, forderte Eggert sie auf. Als die Frau sich nicht rührte, schob er sie einfach in die Wohnung und schloss die Tür mit einem energischen Ruck.
Bruno klingelte an der mittleren Tür, an der ein großes Messingschild mit der Aufschrift STUDIO befestigt war. Hinter der Füllung aus Riffelglas war es dunkel. Undeutlich hörten die Polizisten einen dumpfen Laut, und dann schrie die Frau wieder.
Nicht mehr so laut und schrill wie zuvor. Es war ein erbärmlicher, verzweifelter Schrei, lang gezogen und unter die Haut gehend.
Wittek schlug mit der Faust gegen die Tür. »Polizei! Machen Sie sofort auf!«
Der Lärm in der Wohnung riss ab. Hinter der Glasfüllung wurde ein Lichtstreifen sichtbar, und eine Männerstimme brüllte so laut, dass die Türscheibe klirrte.
»Verschwindet! Das hier ist privat . . .«
Der Lichtstreifen wurde schmaler, als der Mann die Tür drinnen in der Wohnung wieder zuschlug. Bevor es dunkel wurde, hörten es die beiden Polizisten draußen ganz deutlich.
»Hilfe . . .«
Der Hilferuf erstarb sofort. Ein dumpfer Laut wie von einem Fall drang nach draußen.
Wittek wandte den Kopf, sah Eggert an, seine Lippen formten einen Satz.
Der bringt sie um!
Eggert machte eine gebieterische Kopfbewegung. Wittek, glitt zur Seite. Eggert hob den Fuß und trat genau über dem Schloss gegen das Holz. Das Glas der Füllung fiel aus dem Rahmen. Mit einem berstenden Knall sprang die Tür auf.
Eine der Türen, die in die Diele mündeten, wurde aufgerissen, aber sofort wieder zugestoßen. Im Spalt sah Eggert für einen winzigen Moment ein Gesicht. Das Gesicht eines Mädchens, dessen Anblick sich wie eine Blitzlichtaufnahme in sein Hirn brannte. Das Gesicht war schön, obwohl es vor Angst verzerrt war.
Bruno Wittek hechtete über die Schwelle in die dunkle Diele. Im selben Moment, in dem er sich gegen die Tür warf, in der eben das Gesicht des Mädchens erschienen war, erlosch das Treppenhauslicht.
Witteks Schulter krachte gegen das Holz, und dann knallte es.
Die Tür, dachte Eggert, die Tür. Unter dem Aufprall seines Partners sprang sie auf und flog mit ihm nach innen in ein Zimmer, in dem schwaches rötliches Licht glomm wie von einem Kaminfeuer.
Aber Bruno machte seltsame Bewegungen, er torkelte, und dann knallte es noch einmal.
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Das waren Schüsse.
Schüsse!
Eggert spürte einen Krampf, ein trockenes Würgen im Hals, aber er überwand seine tierhafte Furcht und warf sich nach vorn, in die Diele hinein.
»Bruno!«, schrie Eggert. Und dann: »Polizei! Hier ist die Polizei!«
Das glimmende Licht, eben noch so etwas wie Orientierung ermöglichend, erlosch jetzt ebenfalls. Eggert prallte gegen einen Körper, und er packte zu.
Er wusste, dass es Bruno Wittek war, der keuchend in seinen Armen hing und immer schwerer wurde. Eggert wollte etwas tun, er musste etwas tun, er war verzweifelt, denn er wusste auch, dass alles schieflief, was nur schieflaufen konnte.
Herrgott, Bruno, warum musst du immer der Erste sein?
Unmittelbar vor ihm wurde eine Tür aufgerissen. Sein Inneres verkrampfte sich. Im Treppenhaus ging das Licht wieder an. Licht fiel durch die offene Wohnungstür in die Diele. Eggerts Halsmuskeln waren zum Zerreißen gespannt. Eggert sah ein Gesicht neben sich.
Dunkle starre Augen, kurzgeschorenes Haar, gespannte blasse Lippen.
Eggert tastete nach der Pistole an seiner Seite. Bruno glitt röchelnd an seinem Körper hinab. Er spürte, wie Brunos Hände sich in seinen Gürtel krallten. Die Pistole, die verdammte Pistole. Endlich bekam er den Griff zu packen.
Die Faust kam aus dem Nichts. Sie krachte gegen sein Kinn und schleuderte seinen Kopf in den Nacken. Der Hinterkopf knallte gegen die Wand. Seine Knie wurden weich. Brunos Gewicht zerrte an seiner Hüfte.
Die Wohnungstür schlug zu, und er fiel auf die Knie. Bruno rutschte über seine Schulter weg und prallte auf den Boden.
Ralf Eggert wartete auf die Ohnmacht. Er hätte sie begrüßt, aber sie kam nicht. Etwas Furchtbares war geschehen. Er wusste es genau.
Er schob Bruno zur Seite, versuchte, sich aufzurichten. Was musste er jetzt tun? Sein Schädel dröhnte. Ein Fuß knickte weg. Er wollte sich irgendwo festhalten, aber es gab nirgendwo Halt. Eine Kommode stürzte um. Seine suchende Hand streifte einen Lichtschalter. Die Deckenlampe flammte auf. Ihr Licht spiegelte sich in Brunos weit geöffneten Augen.
Eggert taumelte. Keuchend lehnte er sich mit dem Rücken gegen eine Wand. Bruno lag auf der Seite. Seine Uniform war voller Blut. Sein Gesicht zuckte, die Lippen bewegten sich, aber kein Wort kam aus Brunos Kehle.
O Gott, warum Bruno?
»Bruno!«, schrie Eggert. »Bruno!« Er torkelte zur Wohnungstür. Glassplitter der zerbrochenen Türscheibe knirschten unter seinen Schuhen. »Den Notarzt!«, schrie er durch das Loch in der Tür. Seine Stimme warf ein hohles Echo im hohen Treppenhaus. »Rufen Sie den Notarzt! Schnell!«
Er würde nicht mehr rechtzeitig kommen. Ralf Eggert wusste es.
Er hörte ein ersticktes Wimmern. Seine Nackenhaare sträubten sich. Er tastete nach der Pistole. Mit schweißnasser Hand umklammerte er den Griff, als er sich in das Zimmer schob, aus dem das Wimmern kam. Er schaltete das Licht ein und sprang zur Seite.
Das rötlich schimmernde Licht der verhängten Lampen und die wandhohen Spiegel boten ein verwirrendes Bild. Eggerts Blick glitt über das große Rundbett, und dann duckte er sich unwillkürlich und riss die Pistole heraus, als er die Gestalt hinter dem Bett bemerkte, genau gegenüber. Die Gestalt bückte sich, riss eine Pistole heraus und schob den Kopf vor.
Eggert ließ die Pistole sinken und stieß den angehaltenen Atem aus. Um ein Haar hätte er sein eigenes Spiegelbild nicht erkannt.
Das blonde Mädchen kauerte in einer Ecke. Ihr blaues Kleid war zerfetzt, das blonde Haar klebte strähnig in dem schönen Gesicht. Erst jetzt bemerkte er, dass die Unterlippe aufgeplatzt war und blutete. Und dort, wo unter dem zerfetzten Kleid die nackte Haut sichtbar war, bemerkte er die Spuren schwerer Schläge.
Sie verbarg ihr Gesicht hinter den erhobenen Händen, als Eggert auf sie zuging. Dann versuchte sie, vor ihm davon zu kriechen, sich tiefer in die Ecke zu pressen.
»Es ist ja alles gut«, sagte er begütigend. Er blieb stehen, steckte die Pistole ein, sah hilflos auf sie hinab. »Sie brauchen keine Angst mehr zu haben . . .«
Schritte polterten durchs Treppenhaus, verharrten in der Diele, dann sah Eggert im Spiegel das Gesicht eines jungen Arztes, der seinen Blick suchte.
»Sind Sie in Ordnung, Mann?«, fragte der Arzt.
»Ja, ja.«
Der Arzt schob ihn aus dem Weg. Vor dem blonden Mädchen ließ er sich auf die Knie nieder.
»Warum kümmern Sie sich nicht um meinen Kollegen?«, fragte Eggert. Seine Stimme klang zu laut.
»Hat sie es gesehen?«, fragte der Arzt, ohne Eggerts Frage zu beantworten. »Sie steht unter Schock.«
Bruno war tot.
Eggert stützte sich irgendwo ab. Er fühlte sich wie betäubt, ausgelaugt. Diese verdammten Vorahnungen!
Seine brennenden Augen wanderten suchend über das Chaos. Er konnte die Tatwaffe nicht entdecken. Er schloss die Augen einen Moment und versuchte, sich das Gesicht des Mannes ins Gedächtnis zurückzurufen, der aus dem Zimmer gestürzt war und ihn niedergeschlagen hatte.
Er öffnete die Augen wieder, weil ihm schwindlig wurde. Neben seiner Hand lag eine Handtasche. Der Bügel stand offen, der Inhalt war zum Teil herausgefallen und lag auf der Kommode verstreut. Rechtzeitig widerstand Eggert dem Impuls, den Kram in die Handtasche zurückzuschieben. Er hatte schon genug angefasst und verschoben in diesem Zimmer.
Sein Blick fiel auf ein Foto, das in einem grünen Lederrähmchen steckte. Es zeigte das kantige Gesicht eines jungen Mannes mit ernsten Augen. Eggert blinzelte. Er nahm das Foto in die Hand, und er musste genau hinsehen, um sicher zu sein, dass er sich nicht irrte.
Der junge Mann trug eine Polizeiuniform!
Der Arzt richtete sich auf und rief nach einer Trage. Ralf Eggert wusste nicht, warum er das Foto einsteckte.