20
Vohsen knallte den Hörer auf den Apparat. Beate nahm nicht mehr ab. Sie bluffte nicht. Ihre Bemerkungen wegen Vera und der 30 000 Mark hatten ins Schwarze getroffen. Vergeblich kämpfte Vohsen gegen das Gefühl der Panik an, das seine gewohnte Tatkraft zu lähmen drohte.
Dabei konnte er nichts tun. Nichts.
Vera meldete sich immer noch nicht. Jedes Mal schaltete sich der idiotische Anrufbeantworter ein.
Beate lief jetzt mit einem Koffer voller brisanter Unterlagen herum, die eine Menge Leute ruinieren konnten. Nein, sie bluffte nicht. Den Weg nach Hause konnte er sich sparen. Beate hatte den Schlüssel gefunden. Und den Safe im Apartment leergeräumt. Der Ersatzschlüssel hatte er bei seinem Anwalt hinterlegt. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb eins. Sollte er den Schlüssel holen und sich vergewissern? Vielleicht lag alles noch im Safe, und Beate hatte ihm nur einen Schuss vor den Bug geknallt.
Er stand auf. Irgendetwas zu tun war besser als untätig herumzusitzen.
Er riss die Tür zum Vorzimmer auf. Dr. Nießen saß im Wartesessel. Er sprang auf. Die Sudhoff lächelte.
»Herr Dr. Nießen wartet immer noch, Herr Vohsen«, sagte sie.
»Ich habe jetzt keine Zeit!«, sagte Vohsen laut. »Ist das denn so schwer zu begreifen!«
Er rannte an dem verwirrten Dr. Nießen vorbei, dessen weiches Gesicht sich mit hektischen roten Flecken überzog.
*
»Warten Sie hier auf mich«, sagte Vohsen eine knappe Stunde später zu Otto Gerlach, seinem Chauffeur, als der den Mercedes vor dem Apartment anhielt.
Vohsen hatte Gerlach kommen lassen, weil er unfähig gewesen wäre, sich aufs Fahren zu konzentrieren, während sein Hirn sich mit einem Dutzend anderer Dinge beschäftigte, die nicht zusammenzupassen schienen und doch auf eine fatale Weise miteinander verwoben sein mussten.
Als er ausstieg, bemerkte er Beates Golf auf der anderen Straßenseite, und unwillkürlich blickte er an der Fassade des Hauses hinauf.
Sein Herz machte einen Sprung. Vielleicht war sie doch da!
Er fuhr hinauf. Er klingelte, bevor er die Tür mit dem Reserveschlüssel aufschloss und die Wohnung betrat.
»Beate!«, rief er. »Beate, bist du da?«
Er spürte, dass die Wohnung leer war, bevor er in jeden Raum blickte. Auf dem Tisch im Wohnzimmer standen die leeren Gläser und das angebrochene Päckchen Brot. Er sah aus dem Fenster hinab auf den Park und die Straße, wo Beates weißer Golf stand. Sie hatte entdeckt, dass die Polizei nach ihrem Wagen fahndete und ihn deshalb voller Zorn von hier aus angerufen.
Als Vohsen die Reserveschlüssel bei Dr. Schoenke, seinem Anwalt, abholte, hatte er ihm von dem Besuch des Kriminalbeamten erzählt, und als Schoenke vorschlug, gegen die Fahndung nach Beate zu protestieren, hatte er ihm freie Hand gelassen. Das bereute er jetzt. Beate befand sich in einem Zustand, in dem sie unberechenbar war. Es war denkbar, dass sie die Papiere bereits unter die Leute brachte, wenn die Polizei sie und diesen heruntergekommenen Kommunarden aufgriff.
Er hätte die Maßnahme besser Kallberg überlassen. Kallberg schien über die geeigneteren Kanäle zu verfügen, um Beate suchen zu lassen, sie aber aus Schwierigkeiten herauszuhalten.
Hatte Kallberg wirklich den Einfluss?
Wie auch immer, er war nicht zu erreichen. Vohsen wusste nicht, wie er den Teufelskreis durchbrechen konnte.
Er schloss den Safe auf. Er war leer bis auf die pralle Ledertasche. Er warf einen Blick hinein, stellte fest, dass das Geld noch da war. Er hatte nichts anderes erwartet.
Wirklich nicht? Hatte er nicht im stillen gehofft, dass dieser Hippie-Typ es an sich gerafft und damit verschwunden wäre? Knapp eineinhalb Millionen wären allerdings selbst für Vohsens Verhältnisse ein mehr als stolzes Lösegeld gewesen.
Er schloss den Tresor ab und brachte die Schrankwand wieder in die ursprüngliche Position. Er ließ sich in einen Sessel fallen und versank in dumpfes Nachdenken, bis das Läuten des Telefons ihn aufschreckte.
Beate, war sein erster Gedanke. Er nahm den Hörer ab.
Es war nicht Beate, aber als er die Stimme des Anrufers erkannte, fühlte er im ersten Moment doch so etwas wie Erlösung.
»Mein Mitarbeiter sagte mir, dass Sie mich sprechen wollten. Als ich Sie im Büro und bei Ihnen zu Hause nicht erreichte, konnte ich mir denken, wo Sie waren ...«
»Kallberg, was ist eigentlich los?« Vohsen konnte nichts dagegen tun. Angst und Ungewissheit ließen ihn brüllen. »Sie lassen mich hier hängen.«
»Beruhigen Sie sich erst einmal, Herr Vohsen«, sagte Kallberg in seiner glatten Art. »Und können Sie mir dann erklären, was geschehen ist?«
»Zum Teufel, ich weiß es nicht, was geschehen ist. Ich dachte, Sie wüssten etwas!«
»Wieso ich? Das Ding in der Neutorstraße haben doch Sie eingefädelt, oder? Ich habe gehört, dass es einen Mord in der Wohngemeinschaft gegeben hat, Herr Vohsen. Es ist aber nicht dieser Ehlers, soviel ich weiß.«
»Verdammt noch mal, Kallberg! Es ist völlig egal, wer es ist! Ich habe doch keinen Mord bestellt!«
»Ich weiß nicht, was Sie bestellt haben«, sagte Kallberg ruhig.
Vohsens Nackenmuskeln verkrampften sich. Natürlich wusste Kallberg nicht, was er mit Vera ausgemacht hatte.
Er hatte ihr diesen Ehlers beschrieben. Besonders seinen unverwechselbaren ärmellosen Fellmantel. Aber nicht, um ihn umbringen zu lassen! Die Typen, die Vera an der Hand hatte, sollten ihm Kokain unterschieben. Nicht mehr und nicht weniger.
Wie aus weiter Ferne erreichte Kallbergs Stimme sein Ohr.
»Wie auch immer, Herr Vohsen, ich hätte da eine Bitte. Oder besser eine Empfehlung. Aber erst sollten Sie sich beruhigen.«
»Ich werde schon nicht durchdrehen«, versicherte Vohsen mit einem grimmigen Unterton in der Stimme.
»Davon bin ich überzeugt«, bestätigte Kallberg. »Ich möchte Sie bitten — oder Ihnen empfehlen, heute Abend dem Empfang des Herrn Ministerpräsidenten fernzubleiben.«
»Habe ich plötzlich Aussatz bekommen? Oder gehöre ich schon nicht mehr dazu?«, fragte Vohsen kalt. Dabei schwoll ein Dröhnen in seinem Schädel an, wie eine Sirene, die näher kam. Er presste eine Faust gegen die Schläfe.
»Nichts dergleichen, Herr Vohsen. Es ist nur — Sie könnten ihn, ungewollt natürlich, kompromittieren.« Kallberg wartete, aber als Vohsen schwieg, fuhr er fort: »Ich werde Ihnen ein Gespräch mit dem Herrn Ministerpräsidenten vermitteln, Herr Vohsen, das verspreche ich Ihnen. Sowie sie Ihre ... privaten Schwierigkeiten gelöst haben.«
Das Dröhnen in Vohsens Schädel riss ab und hinterließ eine Leere. »Private Schwierigkeiten? Was wissen Sie von meinen privaten Schwierigkeiten?«
»Mein Einfluss reicht bei Weitem nicht aus, um Ihre Tochter aus einer Morduntersuchung herauszuhalten, Herr Vohsen. Nicht, dass ich an wirkliche Schwierigkeiten denke, es genügt aber, wenn Ihr Name in der Presse erscheint. Treten Sie ein paar Tage kürzer, Herr Vohsen, und sorgen Sie dafür, dass Ihre Tochter sich bedeckt hält. Dann kommt alles in Ordnung.«
»Ich weiß nicht, wo Beate ist«, sagte Vohsen dumpf. »Sie zieht mit diesem Burschen herum. Sie schützt ihn.«
»Die Polizei wird ihn bald aufgreifen«, meinte Kallberg. »Machen Sie sich keine Gedanken.« Kallberg wartete erneut, um dann beunruhigt fortzufahren: »Oder gibt es da etwas, das ich wissen müsste, Herr Vohsen?«
»Beate war hier in der Wohnung, Kallberg«, sagte Vohsen.
»Ja?« Kallbergs Stimme klang vorsichtig.
»Ich hatte Ihnen erzählt, dass ich den Safeschlüssel in ihrem Zimmer versteckt habe. Ich hielt ihn dort für sicher. Sie war ja ausgezogen.« Vohsen atmete schwer. »Sie hat ihn gefunden.«
Vohsen glaubte, die jähe Kälte durch den Hörer hindurch zu spüren. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Ihre Tochter ...«
»Sie hat den Safeschlüssel gefunden ...«
»Was hat sie mitgenommen? Ihr Geld?«
»Nein. Die Aufzeichnungen.«
Das Schweigen lastete einige Sekunden, wurde abgrundtief.
»Suchen Sie Ihre Tochter, Herr Vohsen«, sagte Kallberg. Der metallische Klang seiner Stimme verdeckte kaum den drohenden Unterton. »Und finden Sie sie. Ich rufe Sie morgen wieder an.«
Vohsen legte den Hörer auf. Mein Gott, was hatte er da gesagt? Er selbst hatte Beate gewarnt.
Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Die Papiere betreffen Leute, die vor nichts zurückschrecken.
Als er Beate warnte, hatte er allerdings nicht an Kallberg gedacht.