15

Ihr ganzer Körper vibrierte, in ihren Ohren dröhnten tausend Maschinen, und ihr Kopf schlug in kurzen Abständen gegen etwas Hartes. Sie spannte die Halsmuskeln an, und da spürte sie die würgende Übelkeit.

Sie versuchte, den Kopf zu heben. Er stieß unsanft gegen einen Widerstand, und schmerzhaft wurde ihr bewusst, dass sie irgendwo eingekeilt auf dem Boden lag.

Auf dem Boden eines Wagens, der mit heulender Maschine durch die Nacht raste.

Sie rührte sich nicht, atmete langsam durch den weit geöffneten Mund. Das Gefühl der Übelkeit blieb, wurde jedoch nicht stärker. Das Gefühl der Angst nahm dagegen zu.

Sie zog die Beine an, bewegte vorsichtig die Schultern, bis es ihr gelang, sich an der hinteren Sitzbank hochzuschieben.

Sie konnte die Schultern des Fahrers erkennen, und etwas von seinem Gesicht. Das flache Kinn, die platte Nase. Angespannt blickte er nach vorn.

Hinter ihnen fuhr ein anderer Wagen. Das Licht seiner Scheinwerfer füllte den Innenraum. Den Innenraum dieses Wagens kannte sie. Ihr umnebeltes Hirn brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass es ihr eigener Wagen war.

Sie hielt den Atem an. Langsam schob sie sich höher. Der Fahrer rührte sich kaum. Bäume flogen vorbei. Lichter waren nicht zu sehen.

»Legen Sie sich auf die Bank!«

Sie erschrak vor der barschen Stimme.

»Legen Sie sich hin! Es hat keinen Zweck, wenn Sie wie ein Affe Zeichen geben. Der Wagen hinter uns gehört meinem Kumpel.«

Beate ließ sich zur Seite fallen. »Was wollen Sie?«, fragte sie. Ihre Stimme klang undeutlich.

»Keine Fragen!«

Eine Erinnerung zuckte durch ihren Kopf. Der Mann kannte ihren Namen! Er hatte sie angesprochen, als sie ins Haus gekommen war, und sie glaubte zu begreifen.

»Mein Vater zahlt kein Lösegeld für mich!«, sagte sie.

Der Mann am Steuer antwortete nicht. Unsicherheit und Angst schnürten ihr die Kehle zu.

Der Wagen verlangsamte seine Fahrt, dann riss der Fahrer das Lenkrad herum. Sie wurde jäh durchgerüttelt, als der Wagen zu schnell über einen unebenen Weg rumpelte. Für Augenblicke wurde es dunkel um sie herum, bis der nachfolgende Wagen ebenfalls abbog und auf schloss.

Sie blickte zwischen den Vordersitzen zum Fahrer hinauf. Der Mann trug eine Mütze, deren Schirm er tief in die Augen gezogen hatte. Würde sie ihn wiedererkennen?

Der Wagen hielt an, alle Scheinwerfer, auch die des zweiten Wagens, erloschen. Der Fahrer ihres Golf stieß die Tür auf. Feuchte Waldluft strömte ins Wageninnere und milderte den Nachgeschmack des Chloroforms auf ihrer Zunge.

Was kam jetzt?, fragte sie sich zitternd. Die Angst lähmte sie, nur ihre Sinne waren überscharf. Sie hörte genau, wie der Fahrer den Schlüssel abzog und weit ins Gebüsch schleuderte. Aber der Mann war noch da, er stand neben der offenen Fahrertür. Sie krümmte sich zusammen. Wenn er den Sitz vorklappte, würde sie um sich schlagen, und falls er es wagen sollte, sie zu berühren, würde sie ihn beißen.

Die Stimme des Mannes klang gewöhnlich, und es hörte sich so an, als ob er einen auswendig gelernten Text auf sagte.

»Du kannst hingehen, wo du willst, Süße, nur halte dich von dem Haus in der Neutorstraße fern!«

Sie wimmerte, als sich die Schritte entfernten. Das war es also. Ihr Vater steckte dahinter. Er lieferte sie solchen Strolchen aus, um ihr Angst zu machen!

Der Anlasser des anderen Wagens zerriss die Stille. Sie richtete sich auf und sah aus dem Rückfenster. Sie erkannte den Umriss eines Wagens, schimmernden Lack, die glänzende Scheibe. Im nächsten Moment flammten die Scheinwerfer auf. Ihre Lichtstrahlen trafen sie wie Faustschläge. Sie schlug die Hände vor das Gesicht, bis das Motorengeräusch verklang.

Immer noch geblendet, entriegelte sie die Lehne des Vordersitzes. Sie fiel fast aus dem Wagen, taumelte, klammerte sich an der Tür fest, während sie sich übergab.

Erschöpft ließ sie sich auf den Fahrersitz fallen. Mit zitternden Fingern tastete sie nach dem Lichtschalter. Die blasse Armaturenbeleuchtung erschien ihr heimelig wie Kerzenlicht. Ungläubig starrte sie auf die Zeiger der Uhr.

Es war zehn Uhr! Zweiundzwanzig Uhr! Kurz vor sieben war sie zurückgekommen, nach Hause, hatte das Haus betreten, wo sie von diesen Männern erwartet wurde!

Josch! Mein Gott, was hatten sie mit Josch vor?

Sie tastete nach dem Zündschloss. Sie hatte sich nicht verhört. Der Schlüssel war nicht mehr da.

Sie stieg aus und tastete am Wagen entlang nach hinten. Sie fand die Stelle unter der Radabdeckung, wo sie den Reserveschlüssel mit Hilfe eines kräftigen Magneten befestigt hatte. Ihr Vater hatte ihr dazu geraten, als er ihr den Wagen schenkte. Ein guter Rat, wie sie jetzt zum ersten Mal feststellen konnte.

Sie stieg ein. Der Motor sprang sofort an. Sie stieß bis zur asphaltierten Straße zurück. Es war eine schmale Straße, die mitten durch einen dichten Kiefernwald führte.

Sie entschied sich für eine Richtung und folgte ihr, bis ein Ortsschild im Licht der Scheinwerfer erschien.

Sie kannte den Namen des Ortes nicht. Sie fuhr an dem Schild vorbei bis zur nächsten Kreuzung. Dort stand eine hell erleuchtete Telefonkabine, aber sie hatte kein Geld bei sich. Keinen Pfennig. Ihre Geldbörse mit allen Papieren hatte sie in eine der Einkaufstüten gesteckt.

An der Kreuzung stand ein Wegweiser. Sie hielt an und studierte die Angaben, bis sie ungefähr wusste, wo sie war. Sie wendete und gab Gas.

*

Sie bemerkte sofort die fremden Wagen, als sie in die Neutorstraße einbog. Die Scheinwerfer brannten noch. Ein PKW stand auf dem Gehweg, ein geschlossener Kastenwagen rollte eben am Straßenrand in der zweiten Reihe aus, und aus zwei anderen Fahrzeugen sprangen vier oder fünf Männer in Zivil und ein uniformierter Polizist.

Beate trat auf die Bremse. Sofort war das Gefühl der Übelkeit wieder da. Dieser Einsatz wirkte ungleich verstohlener und damit bedrohlicher als der massierte Polizeiaufmarsch vor knapp einer Woche hinter der alten Waggonfabrik.

Der uniformierte Polizist öffnete die Klappe eines Kombi und ließ zwei Hunde heraus, die er sofort an die kurze Leine nahm.

Rauschgifthunde. Waren es dieselben? Wahrscheinlich.

Sie ließ ihren Golf schräg auf den Gehweg rollen und sprang heraus. Voller Angst rannte sie an den gaffenden Türken vorbei, die reglos vor ihrer Teestube standen. Die Beamten in Zivil und der Uniformierte mit den beiden Hunden verschwanden im Haus.

Der letzte Beamte hörte ihre Schritte. Im Eingang drehte er sich um. Von oben sah er auf sie herab. Sein Gesicht hatte sie schon einmal gesehen, sie konnte sich nur nicht erinnern, wann und wo.

»Ich wohne hier«, sagte sie.

»Sie bleiben besser hier unten«, meinte der Beamte.

Beate schüttelte stumm den Kopf. Oben aus dem dunklen Flur heraus rief jemand: »Bandisch! Wo bleiben Sie?«

Bandisch zuckte die Achseln und lief ins Haus. Beate blieb dicht hinter ihm.

Das Licht brannte nicht. Beate hörte das Hecheln der Hunde und die Schritte der Männer auf den Stufen. Beate zählte weder die Stufen noch die Stockwerke. Sie kannte das Ziel der Polizisten. Es war die große Wohnung im vierten Stock. Ihre Angst machte einem Gefühl der Resignation Platz. Später, das ahnte sie, würde es sich in Hass verwandeln.

In Hass auf ihren Vater.

Eine Handlampe sandte einen gebündelten Lichtstrahl gegen die Tür. Beate blieb auf dem Treppenabsatz darunter stehen. Einer der Beamten trat mit voller Wucht in Höhe des Türschlosses gegen die Tür. Mit einem scharfen Knacken brach das Schloss. Die Tür flog nach innen und krachte gegen die Wand. Es klang in der nächtlichen Stille wie ein Schuss. Die Hunde jaulten ungeduldig.

Die Polizeibeamten stürmten in die Wohnung. Irgendwo war Licht, als eine Tür geöffnet wurde.

Der Einsatzleiter rief mit lauter, durchdringender Stimme: »Dies ist eine Polizeiaktion! Bleiben Sie in Ihren Zimmern! Ich wiederhole — dies ist eine Polizeiaktion!«

Beate stolperte die letzten Stufen hinauf. Im Korridor der Wohnung wurde die Beleuchtung eingeschaltet. Die Polizisten rannten über den langen Flur. Nacheinander stießen sie die Zimmertüren auf. Die Toilettentür war abgeschlossen. Ein Mann warf sich mit der Schulter gegen das Holz. Die Tür sprang auf.

Klara, den gleichgültigen Blicken des Beamten preisgegeben, versuchte, ihre Hose hochzuziehen. Ihr Gesicht war schneeweiß, die Augen unnatürlich geweitet.

»Raus hier!«, fuhr der Beamte sie an. Er zog sie in den Flur und spähte in die WC-Schüssel.

Die Hunde zerrten ihren Führer in den Winkel hinter der Wohnungstür, die die Tür zu der kleinen Abstellkammer verdeckte. Der eine Hund winselte, der andere begann zu bellen.

»Hier!«, rief der Hundeführer. »Hierher!«

Der Einsatzleiter drängte sich zwischen den anderen Beamten her. Er rempelte Beate mit der Schulter aus dem Weg. Sie sah, dass er eine Pistole in der Hand hielt. Die Mündung wies zur Decke. Ein zweiter Beamter, ebenfalls mit der Waffe in der Hand, presste sich mit dem Rücken neben der Tür gegen die Wand. Er streckte die freie Hand aus, drückte die Klinke nieder und riss die Tür auf. Der Polizist mit dem Handscheinwerfer richtete den Lichtstrahl in die enge Kammer.

Putzeimer und Besen, ein zerbrochener Stuhl, Vorhangschienen, Koffer und alte Teppiche bildeten ein wildes Durcheinander.

Ungläubig starrte Beate auf Joschs langen Fellmantel, der quer über dem Krempel lag, bis ihr Hirn registrierte, dass der Mantel einen Körper umhüllte. Unten ragte ein Paar Füße heraus, und dort, wo ein großes Messer bis zum Griff im Rücken steckte, hatte sich das Leder mit Blut verfärbt.

Beates Herzschlag setzte einen Moment aus. Ein kleiner, zitternder Schrei stieg in ihre Kehle, brach wie eine Explosion daraus hervor. Sie schrie, als sie sich abwandte, sie schrie, als sie in Joschs Gesicht starrte, der plötzlich hinter ihr stand, mit einem verstörten Ausdruck in den Augen. Erst als er sie an sich zog und ihren Kopf gegen seine Schulter presste, erstickte der Schrei, und ihr ganzer Körper begann zu zucken.

*

»Verdammt, schaffen Sie die Hunde raus!«, schrie Moll, der Einsatzleiter. Er war Oberkommissar im Rauschgiftdezernat und hatte allenfalls mit verstecktem Kokain und Haschisch gerechnet. Und jetzt lag da ein Toter. »Gibt's hier kein Telefon? Bandisch, gehen Sie runter! Alarmieren Sie die K-Bereitschaft und die Mordkommission!«

Niemand achtete in dem allgemeinen Durcheinander auf Beate und Josch. Sie wurden auf den Treppenvorplatz hinausgedrängt, wo andere Hausbewohner zusammengelaufen waren.

Beate klammerte sich an Josch fest. Er streichelte ihren Rücken.

»Es ist Jan«, sagte er tonlos. »Er sollte Zigaretten holen. Ich habe ihm meinen Mantel gegeben. Er kam nicht wieder. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Er wollte den Mantel so gern haben ...«

Beate hob den Kopf. Joschs Gesicht war fahl, die Augen lagen tief in den Höhlen.

»Josch, Josch!«, stammelte sie. »Es war mein Vater ... Er wollte dich umbringen lassen!«

Seine Augen zuckten. »Lass uns hier verschwinden«, sagte er heiser.

Niemand hielt sie auf, als sie die Treppe hinuntergingen. Im Dunkeln kamen ihnen die Bewohner der unteren Etagen entgegen. Einige hatte Kerzen und Taschenlampen. Ein Junge leuchtete Josch ins Gesicht und wollte wissen, was oben los sei. Josch hielt eine Hand über seine Augen. Wortlos schob er sich an dem Jungen vorbei.

Im Erdgeschossflur befreite Beate sich aus Joschs Griff. Die beiden Einkaufstüten lagen noch unter der Treppe. Die Tüte mit der zerbrochenen Weinflasche ließ sie liegen. Ihr Geld steckte zusammen mit dem Brot und dem Käse in der anderen.

Josch glitt neben sie in den Schatten, als Bandisch wieder hereinkam. Als seine Schritte über ihnen verklangen, schlüpften sie hinaus.

Sie rannten zu Beates Golf und sprangen hinein. Als sie in die Talstraße einbogen, kamen ihnen die ersten Streifenwagen mit zuckendem Blaulicht entgegen.