16
Wißkirchen und Landauer hatten es eilig, wegzukommen. Reinartz warf Bandisch einen mitleidigen Blick zu, dann verschwand auch er.
Heubel nahm die Sache persönlich. Sein Kopf war rot bis ins lichte Haar.
»Herr Heubel ...«
»Lassen Sie die beiden endlich laufen. Und dann kümmern Sie sich um Herrn Dattner. Guten Abend, Herr Dattner, entschuldigen Sie mich jetzt. Bandisch, wir sehen uns morgen.
Dattner saß auf seinem Stuhl wie ein Gummitier, dem die Luft ausgegangen war.
»Sie haben sicher einen Augenblick Zeit, Herr Dattner?«
Dattner nickte nur. Bandisch lief in das große Gemeinschaftsbüro hinüber. Karl Hanke saß, vom massigen Vogt flankiert, nicht mehr bewacht, neben seinem Schreibtisch. Hanke grinste nervös.
»Du kannst dich um Thiemann kümmern«, sagte Bandisch zu Vogt. »Tu mir den Gefallen.«
Vogt warf Bandisch einen besorgten Blick zu.
»Nun mach schon!«, fauchte er.
Vogt hob die Schultern und verschwand. Bandisch sah Hanke an, bis dessen Gesichtsmuskeln sich verkrampften.
»Kann ich jetzt gehen? Oder was ist?«
»Einen Augenblick noch, Herr Hanke. Können Sie sich vorstellen, weshalb Herr Dattner Sie schützt?«
»Wieso schützt er mich? Er hat mich nicht erkannt, weil er mich nicht erkennen konnte. Jetzt stehen Sie dumm da, was?«
»Herr Dattner setzt alles daran, den Mörder seines Sohnes zu finden.«
Das war ein Tiefschlag, der saß. Bandisch registrierte genau das erschreckte Schlucken und das Zucken der Augen.
»Er hat Sie erkannt«, stieß Bandisch nach. »Vor zwei Jahren, vor einer Woche, heute, er hat Ihre Stimme erkannt. Ich habe es gesehen.«
»Ich habe nichts getan. Ich habe den Mann noch nie ...«
»Sparen Sie sich Ihren Atem. Ich bin nicht das Gericht, und ich bin nicht Dattner. Aber wenn Sie mir etwas zu sagen haben, ich höre zu. Wir gehen davon aus, dass Sie Max Dattner nicht erstochen haben.«
»Richtig. Ich habe den Mann nie gesehen.«
»Dattner ist da anderer Ansicht.«
Hanke leckte sich die Lippen. »Sie haben ihm doch nicht gesagt, wie ich heiße?«
»Nein.«
»Dann ist ja alles in Ordnung. Sagen Sie, kann ich jetzt endlich gehen?«
»Verschwinden Sie.«
Bandisch hielt an sich, bis er Dattner in seinen Dienstwagen gesetzt und hinter dem Steuer Platz genommen hatte.
»Damit kommen Sie nicht durch, Herr Dattner!«, sagte er.
Dattner versank im Polster. »Ich habe mein Bestes getan«, sagte er undeutlich. »Ich bin krank. Meine Rippen ...«
»Soll ich Sie ins Krankenhaus zurückbringen?«
»Nein, nein, schon gut.« Dattner keuchte. »Ich habe mein Bestes getan«, wiederholte er.
»Einen Dreck haben Sie!« Bandisch fuhr den anderen scharf an. Dattner sah betont gleichgültig aus dem Seitenfenster. »Herr Dattner, hören Sie wenigstens zu? Ich reiße mir ein Bein aus, ich renne in meiner Freizeit herum, ich setze mich ein bis an die Grenze des Vertretbaren, und Sie lassen mich dastehen wie einen dummen Jungen!«
»Sie dürfen es nicht persönlich nehmen.«
»Was darf ich nicht? Mann, Sie haben ein dickes Fell! Darf ich denn wenigstens eine Erklärung verlangen?«
»Ich war mir nicht sicher. Das ist alles. Ich bin ein alter Mann. Mir spielen die Sinne schon mal einen Streich ...«
»Ach, auf einmal? Zuerst waren Sie doch so sicher!«
»Ich will nicht, dass ein junger Mann ins Gefängnis kommt, weil er mich in den Mund getreten hat.«
»Sie wollen, dass er wegen Mordes sitzt. Oder was wollen Sie? Auge um Auge, Zahn um Zahn? Wollen Sie das?«
Dattner schwieg.
»Sie wollten den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Ich möchte wissen, warum.«
Dattner schwieg.
»Herr Dattner, was glauben Sie, weshalb Ihr Sohn ermordet wurde? Wenn Sie eine Theorie haben, dann raus damit!«
Dattner sah Bandisch von der Seite an. »Der Mörder ist ein Nazi«, erklärte er schlicht.
Bandisch stieß die Luft aus. Plötzlich tat ihm der alte Mann an seiner Seite wieder leid.
»Ich kann eben nicht vergessen«, fügte Dattner leise hinzu. »Ich kann nichts vergessen.«
»Würden Sie vergessen wollen, wenn Sie es könnten?«
Dattner überlegte. Im Krankenhaus hatten sie ihn vergessen lassen. Da hatte er die Träume vermisst.
»Ich weiß es nicht«, sagte er unsicher.