24
»Das muss er sein«, sagte Vogel. Er deutete durch die Windschutzscheibe nach vorn, wo eben ein brauner Toyota Kombi um die Ecke bog. Langsam kam der Wagen näher, rollte durch den Lichtkegel der Straßenlaterne, und Dattner konnte einen flüchtigen Blick auf das fleischige Gesicht des Mannes am Steuer werfen. Sein Magen zog sich zusammen, obwohl er das Gesicht nie gesehen hatte.
Die Polizei hatte darauf verzichtet, ihm auch diesen Mann gegenüberzustellen, nachdem er schon bei dem anderen, wie es schien, versagt hatte.
Dattner verdrehte den Kopf, um dem Toyota nachzusehen. Er saß hinten in seinem Granada. Vogel hatte ihm angeboten, seinen Porsche zu benutzen, aber Dattner hatte dankend abgewunken. Vogel hatte ihn zuerst nach Hause gefahren. Dattner hatte Vogel den Namen des Mannes genannt, den sie »besuchen« wollten, und Vogel hatte die Wartezeit genutzt und sich umgehört. Als Dattner nach zwei Stunden wieder heruntergekommen und hinten eingestiegen war, wusste Vogel eine Menge über Konrad Thiemann zu berichten. Es war nichts Gutes dabei, was Dattner auch nicht erwartet hatte. Allerdings hatte Vogel in der kurzen Zeit nicht erfahren können, wer der schmächtige Freund gewesen sein könnte, mit dem zusammen er Dattner vor elf Tagen überfallen hatte.
Thiemann hatte eine Lücke für seinen Wagen gefunden, und umständlich rangierte er ihn hinein. Die Lichter erloschen. Thiemann stieg aus und ging das kurze Stück zu dem Mietshaus, in dem er wohnte, zurück. Wieder musste er den Lichtkreis der Laterne durchqueren. Dattner bemerkte den mächtigen Bauch und die kurzen, schlenkernden Arme und die Hände, die er auf seinem Mund gespürt hatte.
»Ruhig, Herr Dattner«, sagte Vogel, der Dattners rasselnde Atemzüge richtig deutete. »Wir warten jetzt ein paar Minuten, und dann gehe ich rauf.«
»Ich komme mit.«
»Das sollten Sie nicht, Herr Dattner.« Vogel drehte sich um. Sein Gesicht war nur ein heller Fleck. Vogel roch nach einem herben Rasierwasser.
»Er hat einen Sohn«, sagte Dattner. »Ich möchte es zuerst mit Geld versuchen.«
»So einem Schwein dürfen Sie kein Geld geben. Wenn ich dem was in den Wanst stoße, geht dem die Luft aus. Pfft!«, machte Vogel.
»Lassen Sie zuerst mich reden. Und denken Sie an den Jungen. Er kann nichts dafür.«
»Das ist richtig. Wollen wir gehen? Es ist gleich halb zehn. Entweder lässt er uns nicht mehr rein, oder er geht noch in die Kneipe.«
Dattner stieg aus. Vogel verschloss den Wagen und überzeugte sich, dass alle Türen wirklich geschlossen waren, bevor er neben Dattner die Straße überquerte.
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Vogel hatte sich schon gleich nach ihrer Ankunft in der Schindelstraße im Haus umgesehen. Er wusste genau, in welchem Stock Thiemanns Wohnung lag. Einen Aufzug gab es nicht.
Dattners Atem ging schon im zweiten Stock pfeifend, und Vogel machte eine Pause.
»Lassen Sie sich Zeit, Herr Dattner«, sagte er ruhig, wobei er immer wieder witternd den Kopf wandte. Zu hören waren die unbestimmten Geräusche eines großen Hauses, eine laute Männerstimme, die von der keifenden Stimme einer Frau übertönt wurde, ein laut gedrehter Fernsehapparat, ein schreiendes Kind.
Als das automatische Treppenhauslicht erlosch, begann Dattner zu zittern. Vogel fand einen Knopf, und es wurde wieder hell. Vogel nahm Dattners Arm.
»Wollen Sie nicht doch lieber unten warten?«
Dattner schüttelte verbissen den Kopf. Ächzend stieg er höher.
Im vierten Stock deutete Vogel auf die mittlere von drei Wohnungstüren. Er wartete, bis das Treppenhauslicht wieder erlosch, um es sofort wieder anzustellen. Dattner klammerte sich am Treppengeländer fest. Er spürte sein Herz im Hals, sein Mund war trocken, und ein Gefühl der Übelkeit wühlte in seinen Eingeweiden.
War das Hass?
Oder Furcht?
Vogel wartete geduldig, bis Dattner sich vom Treppengeländer löste und zwei schlurfende Schritte auf die Tür zuging. Er nickte Vogel zu, und Vogel drückte auf den Klingelknopf.
In der Wohnung bimmelte es schrill. Dattner blickte starr auf die Tür. Einen Spion gab es nicht. Was war, wenn er eine Kette vorgelegt hatte und sie nicht hereinließ? Vogel wollte gerade noch einmal läuten, als die Tür geöffnet wurde.
Thiemann, nur mit einer alten Hose und einem Unterhemd bekleidet, in der Hand ein Butterbrot und mit vollen Wangen, stand im Spalt. Als er Dattner erkannte, wollte er die Tür wieder zuschlagen.
Vogel war schneller. Er wirbelte aus der Deckung hervor, warf sich mit der Schulter gegen die Tür und drehte sich vor Thiemann her in die Wohnung. Thiemann wollte etwas sagen, was schwierig war mit vollgestopftem Mund, aber Vogel hätte ihn so oder so nicht zu Wort kommen lassen.
Wortlos schlug er seine Faust in den schwammigen Bauch, die darin versank wie in einem Federbett. Thiemann ließ das angebissene Butterbrot fallen, sein Unterkiefer klappte herab, und das Gesicht überzog sich mit fahler Blässe.
Dattner hatte dagestanden, unfähig, sich zu rühren, bis irgendwo im Haus eine Tür klappte. Rasch trat er über die Schwelle und schloss die Wohnungstür.
Vier Türen mündeten auf die rechteckige Diele, in der Kleidungsstücke, Kartons, Farbdosen und Folienrollen ein wüstes Durcheinander bildeten. Zwei der Türen waren mit Glasfüllungen versehen. Eine, hinter der Licht brannte, stand halb offen, und Vogel stieß den benommenen Mann darauf zu.
Die Wohnküche starrte vor Schmutz. Im Waschbecken stapelte sich das benutzte Geschirr. Von den drei Stühlen war nur einer frei. Vogel stieß den fülligen Thiemann auf den Stuhl.
»Wo ist dein Sohn?«, fragte er Thiemann.
Thiemann würgte. Als Vogel drohend die Faust ballte, beeilte er sich mit der Antwort. »Nicht da ... Der fährt immer rum, mit seinem Mokick.«
»Wie alt ist er?«
»Siebzehn.«
Das schien sich mit Vogels Informationen zu decken, denn er nickte und sah Dattner auffordernd an. Sein Blick verriet, dass er nicht an einen Erfolg von Dattners Bemühungen glaubte.
»Sie waren bei dem ersten Überfall auf mich nicht dabei«, begann Dattner. »Das war der andere. Ich will nur seinen Namen.«
»Ich weiß doch überhaupt nicht, wer Sie sind!« Thiemann warf einen schrägen Blick zu Vogel hinauf. Vogel schien beschlossen zu haben, auf seine Stunde zu warten.
»Warum haben Sie dann bei meinem Anblick so erschreckt reagiert? Ich will von Ihnen nur den Namen Ihres Komplizen. Ich weiß, dass er meinen Sohn nicht getötet hat. Aber er weiß, wer es getan hat. Ich will es doch nur wissen.«
Dattner wusste genau, dass seine Stimme jetzt larmoyant klang, und er hasste sich dafür, dass er vor dieser Kreatur kroch. Er zerrte ein Geldbündel aus seiner Tasche und warf es auf den Tisch, zwischen leere Margarinebecher, vertrocknete Wurstabfälle und krumme Käsescheiben.
»Das sind zweitausend Mark«, stieß er hervor.
Thiemann schüttelte den Kopf. Sein rundes Kinn wackelte, und er verengte die Augen zu kleinen Schlitzen.
»Ich kann nichts sagen ...«
Er sah den Schlag nicht kommen, der ihm die Luft aus dem Leib trieb. Es gab einen dumpfen Laut, als sich Vogels Faust tief in Thiemanns Leib wühlte. Die Stuhlbeine quietschten auf dem Linoleumboden, als der Stuhl zurückrutschte. Vogel setzte nach. Thiemann versuchte, auf die Füße zu kommen und den nächsten Schlag abzublocken, aber Vogel gab dem Mann keine Chance. Der Stuhl kippte nach hinten, und Thiemann landete auf dem Boden, wo er wie ein verletzter Käfer umherkroch.
Dattner starrte auf das unwürdige Bild. So hatte er am Boden gelegen, und dieser Kerl und sein jüngerer Komplize hatten ihn mit Fußtritten traktiert.
»Hören Sie auf«, stieß Dattner rau hervor.
Vogel wandte sich um. »Ich gehe mit ihm nach nebenan«, sagte er.
Dattner schüttelte den Kopf. Es war keine sehr überzeugende Geste. Vogel zerrte Thiemann in die Höhe. Das feiste Gesicht war schweißüberströmt, die Wangen zitterten. Flehend sah er in Dattners Richtung.
Dattner wandte den Blick ab. Er machte einen Stuhl frei, indem er die Dosen und Päckchen, die darauf lagen, von der Sitzfläche wischte. Dann ließ er sich einfach fallen.
Vogel schloss die Tür zur Diele hinter sich. Dattner sah noch einen Moment den Umriss der beiden Männer auf der Mattglasscheibe, bevor sich die Schatten auflösten.
Dattner lauschte angestrengt. Einmal glaubte er, einen unterdrückten Schrei zu hören, dann einen dumpfen Fall.
Er fühlte sich leer, und er schloss die Augen, weil er müde war. Er versuchte, nicht an das zu denken, was Vogel jetzt mit dem massigen Thiemann anstellte.
Hatte er etwa Mitleid?
Oder war es der nagende Zweifel, der Gedanke, es könnte der falsche sein, den Vogel irgendwo in einem anderen Raum auseinandernahm?
»Herr Dattner?«
Dattner schreckte auf. Er hatte Vogel nicht zurückkommen hören. Das glatte Gesicht des Schlägers zeigte keine Empfindungen. Dattner suchte nach irgendwelchen Anzeichen von Gefühlen. Es gab keine. Oder doch? War da nicht ein besorgter Schimmer in den schmalen Augen?
»Sind Sie in Ordnung, Herr Dattner?«
»Ja, ja.« Er sah Vogel an.
»Alles klar«, sagte Vogel.
»Ist er ... war er ...«
»Ja. Der Dicke hat Sie überfallen. Sein Kumpel heißt Karl Hanke. Ich habe auch die Adresse.«
Dattner stand ächzend auf. »Gehen wir zu ihm«, sagte er und schlurfte auf die Tür zu.
Vogel nahm rasch die Geldscheine an sich, die Dattner auf den Tisch geworfen hatte, dann folgte er dem älteren Mann.
Hinter der Bahnunterführung bog Vogel rechts ab. Die hellen Lichter der Bars und Striplokale hinter dem Bahnhof blieben zurück.
Dattner, der bisher schweigend aus dem Seitenfenster gesehen hatte, richtete sich auf und blickte durch die Frontscheibe auf die dunkle Straße hinaus, die auf beiden Seiten mit Fahrzeugen zugeparkt war. Weiter vorn erkannte er das Transparent einer Kneipe.
»Wo sind wir hier?«, erkundigte er sich beklommen.
»In der Puffgegend«, antwortete Vogel. »Er ist Zuhälter. Im Moment hat er allerdings keine Pferdchen laufen. Vielleicht zieht es ihn gerade deshalb in diese Gegend. Hier sind die Buden billig, und hier ist er auf der Szene.«
Vogel hielt an, um einen anderen Wagen, der mit aufgeblendeten Scheinwerfern hinter ihnen herfuhr, vorbeizulassen. Dann deutete er in die enge kurze Straße, wo auf der Ecke die Kneipe ihr gelbes und grünes Licht verströmte.
»Da muss es irgendwo sein«, sagte er. Er rangierte den Granada in eine Einfahrt und schaltete dann den Motor und die Lichter aus. »Was jetzt?«, erkundigte er sich.
Was jetzt? Dattner legte den Kopf gegen die Nackenstütze. »Wenn der andere ihn gewarnt hat, ist er jetzt weg«, vermutete er.
»Thiemann kann im Moment niemanden warnen«, sagte Vogel.
Dattner schüttelte seine Benommenheit ab. »Ich will wissen, wer damals dabei war.« Er räusperte sich, um seiner Stimme mehr Festigkeit zu verleihen. »Es waren zwei, außer ihm. Er muss die Namen sagen. Ich gebe ihm Geld. Ich bezahle ihm die Zeit, die er ins Gefängnis muss ...«
»Warum wollen Sie immer für etwas bezahlen, das Sie auch umsonst bekommen können? Ich rede mit ihm. Dieses Mal bleiben Sie aber hier. Ich muss rumfragen, verstehen Sie? Da genügt es, wenn ich meine Nase zeige. Mich kennt man hier. Wenn es rau wird, wird nachher niemand zugeben, mich gesehen zu haben.«
Dattner bewegte sich unbehaglich. »Gehen Sie!«, stieß er hervor.
Vogel bewegte sich nicht. »Es kann sein, dass ich ihn mitbringen muss. Ein Freund von mir hat eine Hütte im Bergischen. Da kann ich ihn für einige Zeit unterbringen.«
Dattner fuhr herum. »Sie wollen ihn mitbringen? Verschleppen?«
»Überlegen Sie doch mal, Herr Dattner. Sie wollen doch einen ganz bestimmten Kerl. Nehmen wir mal an, der Kerl, den Sie haben wollen, hält sich in Köln auf. Oder am Lago Maggiore. Man muss ihn erst suchen. Verstehen Sie?«
Dattner nickte.
»Und außerdem braucht er vielleicht Pflege, bis wir ihn den Bullen vorführen können.«
Dattner bemerkte ein hartes Lächeln, das ganz kurz die Lippen des Schlägers spannte, dann stieg Vogel aus.
Dattner hatte das Empfinden, nicht mehr seinem eigenen Willen unterworfen zu sein. Es waren Gefühle, Emotionen, Augenblickseingebungen, die sein Handeln bestimmten.
Und ein Mann wie Vogel.
Willig überließ er sich der Führung dieses jüngeren Mannes, der seinen Sinnen und seiner Kraft vertraute. Doch bald, beim nächsten oder übernächsten Schritt, würde er wieder selbst Entscheidungen treffen müssen. Er hatte sich auf einen Weg begeben, dessen Ende er nicht kannte. Was würde ihn dort erwarten?
Oder wer?
Eine dunkle Gestalt schlurfte am Wagen vorbei, ohne hineinzusehen. Dattner drückte schnell die Stifte nieder, die die Schlösser verriegelten. Angestrengt spähte er in die schmale Gasse. Vor der Kneipe steckten zwei Männer ihre Köpfe über der Flamme eines Feuerzeugs zusammen, bis die Zigaretten brannten. Ein Scheinwerferpaar kam langsam näher. Dattner bemerkte die blaue Kuppel auf dem Dach, bevor er die Schrift POLIZEI auf der Seitentür erkannte. Der Streifenwagen glitt vorbei.
Dattner sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb eins. Er wusste nicht, wann Vogel ausgestiegen war, und er hatte nicht das geringste Empfinden dafür, wie viel Zeit vergangen sein mochte, als Vogel wie ein Schatten heranglitt und an der verriegelten Fahrertür rüttelte. Dattner beugte sich hinüber und zog den Stift in die Höhe. Vogel öffnete die Tür und stieg ein.
»Er ist nicht da«, sagte Vogel. »Er arbeitet nachts auf dem Gemüsegroßmarkt.«
Dattner spürte plötzlich die Schwere seiner Glieder. War es Erleichterung, einer Entscheidung, wie immer sie ausfallen mochte, erst mal, wenn auch nur für wenige Stunden, enthoben zu sein?
»Ich will nach Hause«, sagte er.