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»Haben Sie diese Reden gehört?«, fragte Hubert Landauer. »Das waren reine Provokationen! Die Regierung und die Gewerkschaften stecken unter einer Decke.«

Rudolf Söntgen winkte der Kellnerin und deutete auf die leeren Gläser. »Ich höre mir das alles nicht mehr an, schon lange nicht mehr. Wenn das Wetter nicht so schlecht gewesen wäre, wäre ich rausgefahren wie die meisten Arbeitnehmer, deren Tag der 1. Mai doch ist.«

Hubert Landauer nickte beifällig. »Wer geht schon noch zu den Kundgebungen! Von meinen Leuten keiner.«

Wilhelm Ruda machte ein verdrossenes Gesicht. »Die geben erst Ruhe, wenn alles kaputt ist.« Er schob sein Kinn vor. »Bei dieser Geldmarktpolitik liegt der ganze Grundstücksmarkt am Boden.«

»Dafür verdienen Sie ganz schön an Ölbeteiligungen und anderen windigen Abschreibungsprojekten«, spottete Deugius. »Wer am lautesten schreit, hat es meist am wenigsten nötig.«

Der Anwalt sah seine Stammtischfreunde der Reihe nach an. Trotz des Feiertages waren außer ihm immerhin noch drei Mitglieder des Stammtischs erschienen. Dattner lag im Krankenhaus, und Dr. Botthof, der Augenarzt, hatte es vorgezogen, draußen in Haan zu bleiben, wo er wohnte. Seine Praxis lag nur ein paar Schritte entfernt an der Oststraße.

Wilhelm Ruda, der Immobilien und Finanzmakler, bedachte den Anwalt mit einem schrägen Blick. »Wenn man Sie manchmal so reden hört ...«

»Ich lese auch die Kapitalmarktangebote in den Zeitungen«, sagte Deugius. »Ihr Name ist immer dabei. Apartments in Atlanta, Bohrbeteiligungen in Texas und Oklahoma ... Abschreibungen, Verlustzuweisungen ...«

»Auch das macht diese Regierung bald kaputt.«

»Eine Katastrophe, wenn die Ärzte und Anwälte, die Steuerberater und Großhändler alles versteuern müssen, was sie verdienen. Ich wüsste auch nicht, wovon ich mit zweihunderttausend netto im Jahr leben sollte. Aber lieber blase ich einer windigen Briefkastenfirma auf den Bahamas dreihunderttausend Mark in den Hintern. Da weiß ich zwar, dass das Geld verloren ist, aber die Hauptsache, der Staat, in dem ich lebe, bekommt es nicht. Was Söntgen?« Deugius lächelte arglos.

»Warum sehen Sie ausgerechnet mich an? Die Steuern sind gerade hoch genug. Die Sozis sind unersättlich. Die können nicht mit Geld umgehen. Sie verteilen es lieber an arbeitsscheues Gesindel.«

»Die man in Lager sperren sollte«, sagte Deugius.

»Das habe ich nicht gesagt«, murrte Söntgen.

Hubert Landauer mischte sich schnell ein. »Die Kerle sind arbeitsscheu! Ich beschäftige jetzt 22 Mann. Ich brauche dringend zwei Autoschlosser, einen Elektriker und zwei Karosseriebauer. Das Arbeitsamt kann mir keine zuweisen, das ist aussichtslos. Aber beim Arbeitsamt habe ich ständig offene Stellen für Hilfskräfte und für einen Schwerbeschädigten gemeldet. Kommen Sie mal rüber, Deugius!« Landauer ereiferte sich. »Kommen Sie mal rüber und sehen Sie sich die Schauspieler an, die das Arbeitsamt mir schickt! Was die für ein Theater machen, wenn ich denen zeige, was sie tun sollen. Im Materiallager ist die Luft zu trocken, in der Werkstatt ist es ihnen zu laut ... Ich kriege keinen, Deugius! Wissen Sie, wie viele Arbeitslose in Düsseldorf gemeldet sind?«

»Aber meine Herren!« Ruda hob sein Glas. »Wir wollen uns doch nicht streiten. Trinken wir lieber auf unseren Freund Dattner!«

»Der macht es richtig«, meinte Söntgen. »Der macht keine Buchführung, nichts. Der versteuert nicht mal so viel wie meine Lagerarbeiter.« Söntgen rieb seine Nase, die spitz und aggressiv aus seinem hageren Gesicht ragte wie ein feststehendes Messer. »Und wenn dem was in die Quere kommt, die Steuerfahndung, zum Beispiel, dann schmeißt der sein Zeug in seinen Koffer und fliegt nach Israel.«

»Was sollte ihn hier auch halten?«, bemerkte Deugius mit ausdrucksloser Stimme.

Söntgen hob die Schultern. »Ich möchte mich dazu nicht äußern«, sagte er zurückhaltend.

»Die Juden, die wieder in Deutschland leben, wissen schon, warum«, stellte Ruda fest.

»Sie sind schließlich entschädigt worden!«, schaltete sich Landauer wieder ein. »Aber bis heute, immer wieder, üben sie einen moralischen Druck auf uns aus. Sie erpressen uns. Ich will damit nichts gegen unseren Freund Dattner sagen, ich möchte da bestimmt nicht dran rühren ...«

»Warum nicht?«, fragte Deugius.

»Na ja, er hat schließlich einiges mitgemacht ...«

»Und einigen von uns hat er sehr großzügig geholfen«, warf Deugius ein.

Landauer überging den Einwand. »Wir waren schließlich keine Nazis.«

»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Deugius.

»Ach, hören Sie doch auf! Wir waren alle viel zu jung damals. Wir waren Mitläufer!«

»Ich war Nazi«, sagte Deugius.

»Und jetzt sind Sie rot, wenn man Sie so reden hört«, stellte Landauer gereizt fest. »Ich gehe nach Haus. Ich hab meiner Frau versprochen, dass ich heute zum Abendessen komme.« Er sah an Deugius vorbei. »Schauen Sie, ist das nicht dieser Polizeibeamte? Was will der denn schon wieder?«

»Für Recht und Ordnung sorgen«, meinte Deugius milde.

Klaus Bandisch blieb an dem runden Tisch stehen. »Guten Abend«, grüßte er. Er sah die auf ihn gerichteten Augen, die Unbehagen auszudrücken schienen. Nur Deugius lächelte, stand auf und reichte ihm die Hand.

»Setzen Sie sich doch zu uns, Herr Bandisch«, sagte er. »Sie kommen im rechten Moment. Wir waren auf dem besten Weg, uns in eine hitzige Auseinandersetzung zu steigern.«

»Die wir nicht fortsetzen sollten, mein lieber Deugius«, meinte Söntgen, ebenfalls lächelnd.

»Natürlich nicht.«

Landauer stemmte sich in die Höhe. »Ich muss gehen. Tut mir leid.« Er sah Bandisch an. »Oder wollten Sie mich sprechen?«

»Nein, nein. Ich war gerade in der Nähe. Da dachte ich an Ihren Stammtisch. Ich möchte aber auf keinen Fall stören.«

Deugius sah Ruda und Söntgen an, dann sagte er. »Sie stören nicht.«

Landauer nahm seinen Bierdeckel. »Ich zahle vorn. Bis nächsten Freitag.«

»Es ist jetzt genau eine Woche her«, stellte Söntgen fest. »Sind Sie weitergekommen?«

Bandisch wiegte unbestimmt den Kopf. »Die Fahndung läuft«, antwortete er. »Herr Dattner hat eine gute Beschreibung gegeben. Ich denke, dass wir irgendwann einen Verdächtigen aufgreifen werden.«

»Die Täter waren doch maskiert«, sagte Ruda.

»Ja. Das Problem wird sein, einen Verdächtigen sicher zu identifizieren«, räumte Bandisch ein.

»Was halten Sie von Dattners Behauptung, einer der Täter sei dabei gewesen, als sein Sohn ermordet wurde?«, fragte Söntgen.

»Das wissen Sie?« Bandisch war betroffen.

»Er erzählt es jedem«, warf Deugius ein.

»Warum auch nicht, wenn er daran glaubt?« Söntgen hatte große gepflegte Hände. Er setzte seine Brille wieder auf, die er vor einigen Minuten abgenommen hatte, und fixierte den Kriminalbeamten mit starren Schlangenaugen.

»Glauben Sie daran?«, fragte Ruda.

»Ich halte es für möglich«, antwortete Bandisch. »Aber das ist meine persönliche Meinung. Der Leiter des Morddezernats ist offenbar anderer Ansicht, sonst wäre ich nicht mehr mit dem Fall befasst. Wie geht es Herrn Dattner heute? Haben Sie ihn besucht?« Bandisch sah niemanden direkt an.

»Landauer war bei ihm«, antwortete Söntgen. »Meine Tochter wollte ihn heute Nachmittag noch mal besuchen. Landauer sagte, es ginge ihm recht gut.« Söntgen räusperte sich. »Tja, ich denke, ich sollte dann auch Schluss machen. Wollen Sie mit mir fahren, Deugius?«

»Gern. Wenn Herr Bandisch nichts dagegen hat.«

»Natürlich nicht«, sagte Bandisch schnell. »Ich wollte eigentlich nur ein Bier trinken.«

Als die Kellnerin kam, bestellte er ein Bier, und als er hörte, dass Ruda ein Käseschnittchen haben wollte, schloss er sich an.

»Meine Frau ist nicht zu Hause«, erklärte Ruda. »Freitags nie, weil wir da Stammtisch haben. Meistens bin ich der Letzte.« Er bot Bandisch eine Zigarette an. Bandisch griff zu und gab Feuer. Ruda rauchte eine Weile schweigend. Er nickte in Richtung Tür, als Deugius und Söntgen das Lokal verließen, dann wandte er sich erneut an Bandisch. »Sagen Sie mir, weshalb Sie wirklich hier sind, Herr Bandisch. Privat? Zufällig? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

.Bandisch betrachtete die Spitze seiner Zigarette. »Ich habe heute keinen Dienst. Aber an dem Fall interessieren mich gewisse Aspekte, die über den reinen Raubüberfall hinauszuweisen scheinen«, gab er dann zu.

»Was sind das für Aspekte, die Sie hierherführen, an diesen Tisch? Wir sind Dattners Freunde!«

»Weil Sie sein Freund sind, können Sie mir vielleicht helfen.«

»Ich?«

»Sie. Oder die anderen.«

»Das verstehe ich nicht. Das waren Verbrecher, die Dattner überfallen haben. Vielleicht hat er recht, vielleicht war einer der Kerle vom vergangenen Freitag auch damals dabei. Aber was haben wir damit zu tun?«

»Zuerst geht es mir um Dattners Glaubwürdigkeit. Ich möchte wissen, ob es sich bei Dattners Aussage um eine fixe Idee handelt oder nicht. Was glauben Sie?«

»Das ist schwer zu sagen. Er kann so manches nicht vergessen. Da bildet man sich schnell was ein. Und er hat den Tod seines Sohnes noch nicht verwunden.«

»Reden wir mal über den Überfall damals. Sie waren doch auch dabei, als man ihn fand.«

Rudas Haut wurde grau. »Ja«, sagte er heiser.

»Bisher gingen alle davon aus, dass es sich um einen Raubmord handelte, einen zufälligen, nicht beabsichtigten Mord.«

»Ja natürlich.«

Ja natürlich. Bandisch nickte nun unbewusst. Er kam nicht weiter. Verrannte er sich etwa selbst in eine fixe Idee?

»Wem konnte Max Dattners Tod nützen?«

Ruda starrte Bandisch aus großen Augen an. »Jetzt sind Sie aber auf dem Holzweg«, sagte er dann überzeugt. »Er war ein netter, etwas scheuer Junge. Er hatte doch nicht viel zu sagen. Und er besaß nichts. Nein, Herr ...«

»Bandisch.«

»Nein, in der Richtung spielt sich nichts ab. Bestimmt nicht. Das würde nicht mal der alte Dattner behaupten. Lassen Sie ihn um Himmels willen nichts von Ihrer aberwitzigen Theorie hören! Der steigt voll ein!« Ruda lachte verhalten. »Da kommen unsere Schnittchen. Noch zwei Bier, Gerda.«

Bandisch rührte seinen Teller noch nicht an.

»Der Tod des alten Dattner hätte einigen von Ihnen eher genützt, glaube ich.«

Rudas Gesicht, das eben erst seine frische Farbe zurückgewonnen hatte, wurde wieder grau wie nasses Papier. Das joviale Gehabe des professionellen Kontaktmenschen verschwand. Die Augen, die eben noch belustigt hinter schweren Tränensäcken glitzerten, bekamen einen gefährlichen Schimmer.

»Wie meinen Sie das?« Rudas Stimme zischte wie ein Schaumlöscher.

»Er hat einigen von Ihnen sehr geholfen.«

»Wollen Sie sich nicht genauer ausdrücken?« Rudas Stimme klirrte wie Eis.

Bandisch fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er hatte das Empfinden, über sein Ziel hinauszuschießen. Aber er wusste auch, dass er jetzt nicht einfach umkehren konnte.

»Gegen Sie und einen Notar, der sich später das Leben genommen hat, lief einmal ein Ermittlungsverfahren«, sagte Bandisch.

»Das ist zehn Jahre her, und es wurde niedergeschlagen. Weshalb graben Sie diese alte Geschichte aus?«

»Eine Gruppe von Bauinteressenten, die sich von Ihnen geschädigt fühlte ...«

»Ich war nur der Makler. Die Unstimmigkeiten hatte der Bauträger zu verantworten.«

»Ich gebe nur wieder, was ich in den Akten gefunden habe. Die Interessengemeinschaft hat die Klage gegen Sie zurückgezogen, nachdem ihre Forderungen befriedigt wurden. Ist das richtig?«

»Ja, das ist richtig.«

»Es handelte sich um eine beträchtliche Summe.«

»So etwas ist relativ. Es ging damals um beträchtliche Werte.«

»Wollen Sie mir sagen, woher das Geld gekommen ist?«

»Nein.«

»Dann bin ich auf Vermutungen angewiesen. Ich vermute, Herr Dattner ist eingesprungen.«

Ruda sagte nichts, starrte Bandisch nur kalt und starr und feindselig an.

»Einige Zeit nach dieser Sache wurde Ihre Firma in eine GmbH & Co KG umgewandelt. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit meinen Kollegen vom Kommissariat für Wirtschaftskriminalität zu sprechen. Ich verstehe leider zu wenig von diesen Dingen. Aber ich kann mir vorstellen, dass der rettende Geldgeber seine Einlage in Form einer Beteiligung an Ihrer Firma hat absichern lassen.«

Ruda lächelte kalt. »Da werden Ihre Kollegen in Watte greifen, Herr Bandisch. Diese Art von Beteiligungen laufen über das Ausland. Liechtenstein, zum Beispiel. Da erscheinen überhaupt keine Namen. Nur Bezeichnungen wie Management Consulting oder Interfund.«

»Ich könnte auch Herrn Dattner direkt fragen«, sagte Bandisch, der das Gefühl hatte, wieder etwas sicheren Boden unter die Füße zu bekommen.

»Dann sollten Sie ihn auch fragen, wer Hubert Landauer zu zwei potenten Partnern verholfen hat. Nach der Ölkrise 1973/74 war er nämlich so gut wie pleite.«

»Und da haben ihm auch Liechtensteiner Briefkastenfirmen auf die Beine geholfen?«

»Nein. New Yorker Juden. Diamantenhändler. Wollen Sie nicht essen?«

Bandisch betrachtete den Käse, der fein mit Paprika überstäubt war. Er hatte keinen Hunger mehr.

»Eduard Dattner ist ein Freund«, sagte Ruda. »Wer sollte an seinem Tod interessiert sein? Oder Nutzen daran haben?«

Bandisch antwortete nicht. Wilhelm Ruda hatte Geld veruntreut, das stand fest. Er hatte ein paar Dutzend kleine Bauherren fast um ihr Erspartes gebracht. Es war eine miese, kleine Sache gewesen. Ein Notar hatte sich ebenfalls dafür hergegeben. Sie hatten die Bauwilligen mit üblen Verträgen hereingelegt. Irgendjemand war mit zwei bis drei Millionen eingesprungen. Dattner? Und wenn, hatte Dattner sein Geld in der Zwischenzeit zurückbekommen? Ruda musste inzwischen dickes Geld machen. Wahrscheinlich hatte er Dattner ausbezahlt. Oder Dattner hielt eine stille Beteiligung an der Ruda Immobilien GmbH & Co KG. Es ergab alles keinen Sinn. Ruda hätte Dattner nur dann zu fürchten, wenn der mit Enthüllungen drohte, die Ruda heute geschäftlich schaden würden. Doch dafür gab es nicht den geringsten Anhaltspunkt.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte Ruda.

Bandisch presste die Lippen zusammen. Er fragte sich, weshalb Deugius ihn auf die Stammtischbrüder heißgemacht haben mochte.