19
Burmester zog Jochen und Ralf Eggert ans Ende des Tresen. Seinem breiten Gesicht war nicht anzusehen, was er dachte.
»Ihr beide«, sagte er, »habt bei der Kripo verschissen. Bis in die Steinzeit.« Dann grinste er plötzlich. »Mann, die beschatten diesen Reimers seit Wochen! Vorangekommen sind sie keinen Schritt. Mann, sind die sauer!«
»Aber der Reimers wird doch mit Haftbefehl gesucht!«, sagte Eggert.
»Klar, wegen Lappalien. Aber der ist ein großer Fisch! Der steht hinter einigen Großeinbrüchen, vermutet die Kripo. In der Wohnung der Graulich fühlte er sich sicher. Deshalb hat die Kripo bisher noch nicht zugegriffen. Sie wussten ja immer, wo sie ihn schnappen konnten. Bisher konnten sie ihm von den großen Sachen nichts beweisen. Bisher!«, sagte Burmester betont. »Bis unser Junge aus der Heide kam.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Jochen.
»Die Schlüssel, die der Klein bei sich hatte«, erklärte Burmester. »Die haben die Kollegen zu einem Lagerhaus am Dovenfleet geführt.« Er schmetterte Jochen die Pranke auf die Schulter. »Sore im Wert von einer halben Million war da eingelagert. Und nebenbei auch noch Medikamente und Drogen Speed bis Haschisch. Ihr sollt morgen früh aufs Präsidium kommen. Gut gemacht, Leute.« Burmester legte den Kopf schräg und grinste hinterlistig. »Ich wette, dass da jetzt einer total sauer auf den Reimers ist! Kannst du es dir denken, Eggert?«
»Z«, sagte Eggert. »Soll er doch.« Er grinste ebenfalls. Aber es sah angestrengt aus.
Jochen spürte ein Prickeln auf der Kopfhaut.
Sie hatten es schon während ihrer Streifenfahrten über Funk gehört, aber erst als sie aufs Revier zurückkehrten, bekamen sie die Gewissheit.
Burmester stand breit hinter dem Tresen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
»Leute«, dröhnte seine Stimme, »es gibt nicht alle Tage so gute Nachrichten zu verkünden! Der Tote, der heute morgen bei Waltershof auf der Müllkippe gefunden wurde, in einen Teppich gerollt, wie es sich gehört! wurde jetzt zuverlässig identifiziert. Es ist oder war Peter Reimers.«
Vergiss ihn, das ist der Preis . . . Jochen spürte weder Scham noch Befriedigung. Da war nichts.
»Und noch etwas«, fuhr Burmester mit veränderter Stimme fort. »Er hatte eine Pistole bei sich, mit seinen Fingerspuren überall, auch auf dem Magazin und an den Patronen. Die Ballistiker haben sich sofort über die Waffe hergemacht. Es ist die Pistole, mit der unser Kollege und Freund Bruno Wittek getötet wurde. Der Fall ist geklärt und abgeschlossen. Von Freudenbekundungen bitte ich abzusehen.«
Der Kollege an der Telefonanlage reichte Jochen den Hörer.
»Für dich«, sagte er.
Jochen warf einen Blick auf die Uhr. Seine Schicht war gleich zu Ende.
»Hallo?«, sagte er.
»Teske? Hören Sie, die von Ihnen bestellte Ware ist schon da. Ramona-Club, am Lohseplatz. Ich soll Sie grüßen und Sie an Ihren Umzug erinnern.«
Es klickte. Wie betäubt legte Jochen den Hörer zurück. Er spürte Ralf Eggerts nachdenklichen Blick nicht.
Im Umkleideraum schob Eggert sich an ihn heran.
»Du weißt, wo sie ist«, stellte er fest.
Jochen antwortete nicht. Ein Kloß saß ihm in der Kehle.
»Wo ist sie? Sag es mir!«
»Ramona-Club . . .«
Eggert schluckte. »Das ist ein Ausländerpuff, einer von der ganz billigen Sorte. Ich sage es dir, weil du es ja doch . . .«
»Schon gut, ich habe es mir gedacht. Ich habe mir gedacht, dass er sie nicht in einen gepflegten Sauna-Club steckt, wo die Mädchen mit den Freiern quatschen!«
»Wann holst du sie?«
Jochen sah den Kollegen verständnislos an. »Wann? Jetzt sofort natürlich! Was denkst du denn?«
»Ich kenne ein paar Jungs von der Sitte, die würden uns das als Gefallen tun. Und keinen Bericht machen.«
»Nein«, sagte Jochen hart. »Ich hole sie selbst.«
»Ich komme mit«, sagte Eggert, und Jochen wusste, dass er ihn nicht abschütteln konnte.
Er wollte es auch gar nicht.
Ramona-Club.
Sie gingen die ausgetretenen Stufen hinunter. Über der Metalltür brannte eine Lampe. Eggert schob Jochen' zur Seite und stellte sich vor das Guckloch, als ob er fotografiert werden wollte. Er presste seinen Daumen auf die Klingel.
Eine Schwarzhaarige mit üppigen Formen öffnete. Sie lächelte Eggert mechanisch an. Das Lächeln fror ein, als sie Jochen entdeckte.
»Zwei Freunde! Kommt rein!«
Als die Tür hinter ihnen zuschlug, zog Eggert seine Dienstmarke.
»Zivilstreife«, sagte er. »Machen Sie uns mit den Damen bekannt.«
»Da waren erst vorgestern so ein paar Stenze von der Sitte hier. Die Mädchen sind alle ordentlich gemeldet.«
»Mach schon, Süße«, sagte Eggert mit gespielter Gelassenheit. »Aber wenn du darauf bestehst, kommen wir nachher wieder. Mit einer halben Einsatzbereitschaft.«
Die Schwarzhaarige seufzte ergeben, und Eggert und Jochen folgten ihrem wackelnden Hintern durch einen schmalen Gang, dessen Wände grün gestrichen waren. Unter der Decke liefen Wasser und Heizungsrohre her.
Die Schwarzhaarige stieß eine quietschende Tür auf. »Hier, das sind unsere Damen. — Kinder, zeigt den netten Herren eure Ausweise, dann haben wir bald wieder Ruhe.«
Rotes Licht ließ die Gesichter seltsam Konturen los erscheinen. In einer Ecke stand ein Fernsehapparat mit angeschlossenem Videorecorder. Der Bildschirm war dunkel. Es waren noch keine Gäste da, die sich für die Freiübungen nackter Paare interessiert hätten, bevor sie sich mit einem der apathisch dahockenden Mädchen in eine enge Kellerkabine zurückzogen.
Jochen starrte die Gesichter an. Er hatte Mühe, seine eigene Schwester zu erkennen.
Sie starrte ihn aus leeren Augen an. Ihr helles Haar wirkte fade, obwohl es sorgfältig frisiert war. Sie trug einen schwarzen Badeanzug. Ihre Haut sah bleich aus wie die einer Toten.
Jochen ging mit steifen Schritten auf sie zu. Er griff nach ihrer Hand, zog sie hoch. Sie bewegte sich wie eine Marionette. Er hielt sie fest, und als er so etwas wie Erkennen in ihren Augen aufblitzen sah, nahm er sie in seine Arme.
»Wo sind ihre Sachen?«, fragte Eggert grob.
Jochen drehte sich um und verließ den Raum. Tränen liefen aus seinen Augen.
»Du kommst mit mir«, sagte er leise.
Ihr Körper wurde steif. Er konnte keine Einstiche in ihren Armbeugen sehen, aber es gab andere Drogen, die süchtig oder willenlos machten.
»Es gibt keine Drogen mehr«, sagte er leise in ihr Ohr. »Du wirst gesund.«
»Ich kann hier nicht weg, ich kann nicht . . .« Ihre Stimme war ohne Kraft.
»O doch, und ich werde von jetzt an auf dich aufpassen . . .«
»Ich kann nicht ... Er sagt, dass ich nur hier sicher bin . . .«
»Du meinst Reimers. Er ist tot.« Er hatte sich vorgenommen, es ihr sofort zu sagen, um so eine Verbindung, die zwischen ihr und Reimers noch bestehen mochte, zu zertrennen.
Sie erschlaffte, und er hob sie auf.
»Er ist tot? Ich wollte ihn töten . . .«
Er stieß die Außentür auf und trug sie nach draußen, so, wie sie war. Er hörte Eggerts Schritte hinter sich. Es war alles in Ordnung.
»Ich wollte ihn erschießen, aber ich habe den Polizisten getroffen . . .«
Jochen lehnte sich gegen die Mauer. Ihm war, als hätte ihm jemand eine Faust in den Magen geschlagen.
»Ich habe den Polizisten erschossen . . .«
Jochen sah in Eggerts Gesicht. Seine Augen blickten ihn stumpf an.
Eggert warf den Mantel über sie und blieb neben ihr und Jochen, bis Jochen sie hinten in den Polo legte.
»Sie träumt«, sagte Eggert mit rauer Stimme. »Sag ihr, dass sie träumt, und bring sie nach Hause.«
Eggert wandte sich ab und ging mit hängenden Schultern davon.
ENDE