7
»Stehen Sie unter Schock, oder was?« Kriminalhauptkommissar Scholz starrte Eggert feindselig an.
»Nein . . .«
»Fühlen Sie sich nicht wohl? Sind Sie krankgeschrieben?«
»Nein. Hören Sie, Herr Scholz, ich habe jetzt alles gesagt . . .«
»Einen Scheißdreck haben Sie! Mann, Eggert, reißen Sie sich zusammen! Wittek war Ihr Partner, und Sie waren dabei, als er sich die Kugeln fing! Wie stehen Sie da, Eggert?«
»Das ist mein Problem«, erklärte Eggert steif.
»Es ist unser aller Problem, Mann! Sie müssen doch mehr gesehen haben als ein Gesicht, das Sie nicht einmal beschreiben können! Wie groß war der Kerl? Farbe der Augen, Form der Nase und der Stirn, Mann, Sie wissen doch, worauf es ankommt in unserem Job!«
»Wittek war getroffen! Er hing an mir, ich hatte mit ihm zu tun!«
Scholz lehnte sich zurück und warf das Lineal, mit dem er die ganze Zeit auf die Schreibtischplatte geschlagen hatte, in die Briefablage.
»Das ist mir zu wenig, Eggert«, sagte er unzufrieden. »Wissen Sie, was ich mich die ganze Zeit frage? Warum ist der Kerl so ausgerastet? Warum hat er sofort los geballert?«
Eggert schwieg.
»Möglicherweise haben Sie sich nicht deutlich genug als Polizeibeamte zu erkennen gegeben.« Scholz hob schnell eine Hand, als Eggert zu einem Einwand ansetzte. »Ich habe Ihre Aussage dazu gehört, und ich akzeptiere sie. Es ging alles so verdammt schnell, klar, da konnten Sie sich nicht vergewissern, ob die Leute in der Wohnung Sie auch verstanden haben.«
»Und die Frau rief um Hilfe«, erinnerte ihn Eggert.
»Wir gehen davon aus, dass wir es mit einem harten Brocken zu tun haben«, räumte Scholz ein. »Einer, der sich den Weg frei schießt, ohne zu zögern . . .«
»Ich würde ihn wiedererkennen«, sagte Eggert.
»Sind Sie so einfältig, oder tun Sie nur so?« Plötzlich kam die Wut des Kripobeamten zurück. »Wenn der Killer ein Mann vom Kiez ist, und mal angenommen, wir kriegen ihn, dann kommt der mit einem Klasseanwalt an. Mit dem Besten, verstehen Sie, was ich damit sagen will? Und wenn Sie dann seinen Mandanten erkennen, ohne vorher eine brauchbare Beschreibung abgegeben zu haben, nimmt der Sie doch auseinander. Oder waren Sie noch nie im Zeugenstand?«
»Doch.«
»Die Anwälte rammen einen kleinen Polypen wie Sie doch schon in den Boden, wenn Sie wegen einer läppischen Geschwindigkeitsüberschreitung in den Zeugenstand treten! Was glauben Sie, wie so einer aufdreht, wenn es um Mord geht — vorausgesetzt, wir tun ihm den Gefallen und kriegen den Halunken überhaupt. Wenn der nämlich so hart ist, wie es den Anschein hat, ist der sofort abgetaucht und sitzt jetzt schon bei Freunden in Montevideo, oder was weiß ich, wo.« Scholz schmetterte die flache Hand auf die Zeitung, die vor ihm lag. »Nicht nur Sie sehen ganz alt aus, Eggert. Wir alle stehen wie die Idioten da.«
Die Balken dicken Überschriften der Boulevardzeitungen verfolgten Eggert, seit er am frühen Morgen das Haus verlassen hatte.
KEINE SPUR IM POLIZISTENMORD!
POLIZEI IN DER SACKGASSE
CALLGIRL NOCH UNTER SCHOCK
HAT DER ÜBERLEBENDE POLIZIST DEN TÄTER
GESEHEN?
Scholz sprach nicht mit ihm über den Ermittlungsstand, aber jeder im Präsidium wusste, weshalb die Ermittlungen in der Sackgasse steckten.
Die Wohnung, in der Bruno Wittek ums Leben gekommen war, hatte vor acht Jahren ein Mann namens Gustav Poschen angemietet. Als Poschen, ein bekannter Zuhälter vom Kiez, vor zwei Jahren starb, war die Wohnung unter der Hand immer weitergegeben worden. Die Miete war stets bar auf das Postscheckkonto der Hausverwaltung eingezahlt worden, und zwar von der jeweiligen Bewohnerin, wie die Ermittlungen zweifelsfrei ergeben hatten. Die Kollegen von der Mordkommission suchten jetzt fieberhaft nach ehemaligen Bewohnerinnen des Apartments in der Norderstraße 10. Die Suche wurde durch den Umstand erschwert, dass die Mädchen als Absender auf den Zahlungsabschnitten stets den Namen des toten Gustav Poschen angegeben hatten. Und keine von ihnen würde der Polizei freiwillig ihre Mitarbeit anbieten.
Die einzige Hoffnung stellte das Mädchen im Krankenhaus dar.
»Sie haben der Nutte womöglich das Leben gerettet, Eggert«, sagte Scholz. »Warten wir ab, bis sie wieder beieinander ist. Vielleicht packt sie aus, wenn sie erfährt, dass ein Bulle wegen ihr dran glauben musste. Nutten sind manchmal sentimental. Hoffen wir nur, dass sie ihren Zuhälter besser beschreiben kann, als Sie es können.«
Eggert spürte, wie seine Oberlippe zu zittern begann. Er setzte sich ganz vorn auf die Stuhlkante und presste die Fäuste auf die Oberschenkel.
»Ich weiß, dass ich nicht als Bulle des Jahres dastehe, Herr Kommissar. Aber wenn Sie sich nicht um einen vernünftigen Ton bemühen, dann . . .«
»Holen Sie jemanden vom Personalrat?« Scholz grinste höhnisch. »Eggert, Sie haben es nötig.«
»Ich brauche keine Unterstützung durch den Personalrat. Wenn Sie mir noch mal dumm daherkommen, haue ich Ihnen welche aufs Maul!«
Scholz starrte ihn aus kleinen Augen an. Eggert stand auf.
»War das alles, Herr Scholz?«, fragte er.
»Machen Sie einen Fehler, Eggert, nur einen, dann haben Sie mich im Nacken!«
Eggert lachte. Zum ersten Mal, seit Bruno Wittek getötet worden war, fühlte er sich etwas freier.
»Wie war's?«, erkundigte sich Johannes Burmester, der Dienstgruppenleiter der B-Schicht, als Eggert den Wachraum betrat.
Eggert verzog das Gesicht. »Nichts Neues«, sagte er. Er sah sich im Wachraum um, der ihm leerer als gewöhnlich vorkam. Er hatte sofort gespürt, dass die Kollegen ihm aus dem Weg gingen. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Auch sie mussten sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass sein Kollege und Partner getötet worden war.
»Du übernimmst für den Rest der Schicht die Telefonzentrale«, sagte Burmester. »Komm schon, Ralf, ich bin so gut wie allein.«
»Wer fährt morgen mit mir?«
Burmester strich über sein borstiges Haar. Die Geste verriet Verlegenheit. »Du machst vorläufig Innendienst.«
»Vorläufig? Wie darf ich das verstehen?«
»Genau, wie es gesagt wird — vorläufig. Bis auf Weiteres. Die nächste Zeit. Komm, sei jetzt nicht empfindlich, Ralf. Niemand gibt dir eine Schuld an dem, was passiert ist. Ehrlich nicht. Ich würde es dir sagen.«
»Aber niemand will mit mir fahren«, stellte Eggert fest.
»Es ist eine Anordnung von Olsen«, sagte Burmester.
»Nur, damit du nichts Falsches denkst, sage ich dir, wie ich denke.« Burmester rieb bedächtig sein breites Kinn. »Du musst erst wieder ins Gleichgewicht kommen, weil du dir selbst mehr Vorwürfe machst als alle Kollegen zusammen. Deshalb halte ich Olsens Anordnung für richtig.«
»Ich will wieder raus«, sagte Eggert gepresst.
»Das verstehe, wer will. Ich dachte, du willst weg vom Schichtdienst? Der Innendienst ist die erste Station auf diesem Weg.«
»Ich habe es mir überlegt«, sagte Eggert. »Ich werde den Antrag zurück ziehen.«
»Ralf, Ralf«, sagte Burmester besorgt. »Du spinnst dir da doch nicht irgendwas zusammen?«
»Ich kann den Kerl nicht beschreiben, Hannes, aber ich werde ihn erkennen. Und eines Tages läuft er mir über den Weg, verstehst du?«
Wenn er nicht abgetaucht ist, wie Scholz vermutete. Aber wenn er aus dem Milieu kam, würde er sich dort aufhalten, wo er sich auskannte. Typen aus dem Kiez versteckten sich auch auf dem Kiez.
»Und mach dir keine Sorgen, Hannes, ich bin nicht der einsame Rächer vom Kiez. Ich will nur, dass er hinter Gitter kommt . . .«
Er setzte sich an das Pult mit den Telefonhörern und dem Mikrofon. Mechanisch nahm er Anrufe entgegen und leitete die Aufträge an die Kollegen in den Funkwagen weiter.
Dabei sah er immer das Gesicht des Mädchens vor sich. Das Mädchen ohne Namen. Warum konnte er sie nicht vergessen?
Nach Dienstschluss wartete er wie üblich auf den jungen Polizeiobermeister Willy Reif. Eggert wohnte an der Hallerstraße, Willy Reif weiter draußen in Eppendorf. Gegen einen Benzinkostenanteil nahm Reif ihn mit zum Revier und zurück. Seinen eigenen Wagen hatte Eggert verkauft, gleich nachdem Helga ihn verlassen hatte.
Reif kam später als gewöhnlich mit seinem Polo vom Parkplatz. Eggert stieg ein, und Reif fuhr sofort an. Hektisch lenkte er den Wagen durch den dichten Verkehr der Innenstadt.
Sie sprachen vom Wetter und vom letzten Spiel des HSV, nur nicht davon, was sie beide am meisten beschäftigte der Gedanke an Bruno Wittek, der morgen Nachmittag beigesetzt werden sollte.
»Lass mich hier raus«, sagte Eggert, als der Bahnhof Dammtor in Sicht kam.
Willy Reif hielt nach einer Möglichkeit zum Anhalten Ausschau.
»Hast du noch was vor?«, fragte er.
Eggert räumte ein, dass er sich täuschen konnte, aber er glaubte, dass Willy Reif erleichtert war, als er ausstieg.
»Bis morgen«, sagte Eggert und schlug die Tür zu.
Er ging zu Fuß bis zu der Klinik an der Grindelallee, in der sie lag.
Die Besuchszeit war vorüber, aber weil er dieses Mal Uniform trug, hielt ihn niemand auf, als er durch den langen Flur im zweiten Stock ging. Er klopfte kurz an die Tür mit der schwarzen 29 und öffnete sie dann behutsam. Er schob seinen Kopf durch den Spalt.
Das Zimmer war leer, das Bett abgezogen und noch nicht für den nächsten Patienten hergerichtet.
Er ging zum Schwesternzimmer am Ende des Flurs. Das Mädchen aus der Wohnung an der Norderstraße war zunächst in die chirurgische Abteilung eingeliefert worden, weil der Notarzt Rippenquetschungen als Folge schwerer Schläge diagnostiziert und innere Verletzungen für möglich gehalten hatte. Wahrscheinlich war sie jetzt in die Neurologie oder Psychiatrie verlegt worden.
Die Tür zum Schwesternzimmer stand offen. Die Stationsschwester, die ihm gestern den Blumenstrauß abgenommen hatte, erkannte ihn nicht wieder.
»Ja bitte?«, fragte sie und lächelte neutral.
»Die Patientin von Zimmer 29«, sagte er. »Wo ist sie jetzt?«
»Sie ist heute Mittag abgeholt worden«, antwortete die Schwester.
Eggert spürte so etwas wie Übelkeit. »Von wem?«, fragte er laut.
»Ich weiß es nicht. Von einer . . . einer Dame.« Das Gesicht der Schwester überzog sich mit hektischen roten Flecken. »Die Polizei war deswegen schon hier, aber ich habe die Dame nur eine Sekunde lang gesehen, mittags haben wir hier alle Hände voll zu tun . . .«
Eggert drehte sich auf dem Absatz um und rannte zur Treppe. In der Halle fand er einen freien Münzfernsprecher.
Er erreichte Scholz noch in dessen Büro.
»Sie ist weg!«, schrie er. »Sie haben geschlampt, Scholz!«
»Regen Sie sich nicht auf, Eggert . . .«
»Warum haben Sie sie nicht bewachen lassen?«
»Ich hatte eine Bewachung angefordert, sie war noch nicht genehmigt worden, das heißt, ab heute Nachmittag .. . Was machen Sie überhaupt dort?«
»Was spielt das für eine Rolle? Scholz, wer hat sie abgeholt?«
»Eine andere Nutte, wer sonst. Sie hat sich für ihre Schwester ausgegeben.«
»Und? Vielleicht stimmt es. Vielleicht war sie ihre Schwester.«
»War sie nicht, Eggert, der Name, den sie bei der Verwaltung angegeben hat, war falsch . . .«
»Wie konnte das passieren, Scholz? So was gibt es doch nicht!«
»Der Arzt ist auf die Frau reingefallen, er hat den Entlassungsschein unterschrieben . . . Regen Sie sich nicht auf, Mann. Sie hat sich davongemacht. Mit Hilfe einer Kollegin. Das heißt noch lange nicht, dass . . .«
Eggert knallte den Hörer auf die Gabel. Lebendiger als zuvor stand ihr Gesicht vor seinen Augen.
Er würde es nie mehr aus seinem Hirn verbannen können.