8
Peter Brehm ging ziemlich schnell das kurze Stück von der Haltestelle bis zu dem kleinen Haus seiner Mutter, dessen graue Fassade bei der Dunkelheit nicht zu erkennen war. Derselbe Staub, der seinen Vater getötet hatte, hatte den Putz des Hauses zerfressen. Sie hätten das Haus verkaufen und irgendwo anders, wo die Luft sauberer war, ein Reihenhaus oder wenigstens eine Wohnung kaufen können. Aber seine Mutter wollte nicht weg aus dem Dunstkreis des Stahlwerks.
Und er wollte es wahrscheinlich auch nicht. Nur selten wurde ihm bewusst, dass er eigentlich gar nichts wollte, dass er ohne Sinn und Ziel durchs Leben stolperte.
Er klinkte die kleine Pforte auf und suchte schon nach dem Schlüssel für die Haustür. Die Lampe über dem Eingang brannte nicht. Er brauchte ihren Schein nicht, um seinen Weg über den kurzen Plattenweg zu finden, den er kannte, seit er sich erinnern konnte.
Der Schlag kam aus dem Nichts.
Eine Bombe explodierte auf seinem rechten Auge und schleuderte den Kopf in den Nacken. Seine Beine gaben nach. Er prallte mit dem Rücken gegen den Pfosten der Gartenpforte. Der raue Zementputz kratzte über den Stoff des Regenmantels. Langsam sackte er tiefer.
Undeutlich nahm er den Umriss eines Kopfes wahr. Er spürte Hände, die ihn packten und in die Höhe zerrten. Er öffnete den Mund.
Eine Faust drang zwischen seine Zähne und riss seinen Kiefer fast aus den Gelenken. Seine Zunge schmeckte glattes Leder.
»Schreien hat keinen Zweck. Ich weiß, dass Ihre Mutter nicht zu Hause ist.«
Deshalb brannte kein Licht wie sonst, wenn er um diese Zeit noch nicht zu Hause war. Vielleicht war sie zu ihrer Schwester nach Leverkusen gefahren.
Er machte schwache, hoffnungslos zaghafte Abwehrbewegungen. Sie halfen ihm nicht. Er wurde gegen den Pfosten gedrückt. Die Schulter des Fremden presste ihm die Luft aus den Lungen.
»Wo kommen Sie her?«
Er würgte, und der Fremde nahm die Faust aus seinem Mund. Aber er konnte es nicht sagen, er konnte es einfach nicht.
»Ich war im Kino«, stieß er hervor.
»In welchem? Und wie hieß der Film? Los!«
Einen Filmtitel, irgendeinen. Warum fiel ihm kein Titel ein! Sein Hirn war mit einer schwammigen Masse gefüllt.
Ein Knie stieß zwischen seine Beine. Der jähe Schmerz schoss in seine Schenkel und breitete sich dann wie flüssiges Blei in seinem Unterleib aus. Er versuchte, sich zusammenzukrümmen, um den entsetzlichen Schmerz etwas zu lindern, aber der Mann nagelte ihn gegen den Pfosten. Seine Ohren registrierten eine gemeine Stimme.
»Wenn ich mit dir fertig bin, hast du keine Eier mehr!«
Wieder schoss der Schmerz wie mit Flammenzungen durch seinen Körper.
»Wo warst du?«
Er wollte es nicht sagen. Er hörte eine Stimme. Er wusste, dass es seine eigene war, und er hasste sich dafür, weil er ihr nicht befehlen konnte, zu schweigen.
»Ich war ... im Don Carlos.«
Er wurde herumgerissen und über den kurzen Weg zur Haustür gestoßen. Er stolperte über die Stufe und prallte mit der Schulter gegen die Tür. Ein stummes, trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper.
Der Mann hinter ihm stieß ihm die Faust in den Rücken.
»Los, aufschließen!«
Brehm hatte Mühe, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Die Tür schwang nach innen. Er torkelte über die Schwelle. Der andere drängte nach und schloss die Tür. Dann flammte das Licht auf. Brehm blinzelte. Er sah sein Gesicht im Garderobenspiegel, und er prallte zurück. Das rechte Auge war schon fast zugeschwollen, die Haut zwischen Stirn und Wangenknochen blutunterlaufen und unförmig aufgequollen.
Ein anderes Gesicht schwebte über seiner Schulter. Sein Magen zog sich zusammen.
»Pollack, Sie gemeine Sau!«
Ein Fausthieb in die Niere nahm Brehm den Atem, dann wurde er an der Schulter herumgerissen und grob in das Wohnzimmer gestoßen. Pollack schaltete das Licht an und schleuderte Brehm in einen Sessel, der nach hinten kippte. Brehm kroch über den Teppich und hielt sich erschöpft an einem Tischbein fest.
»Was wollen Sie von mir?«, keuchte er. Seine Stimme klang weinerlich.
»Peter Brehm, der Gorilla!«, höhnte Pollack. »Der harte Junge aus dem Judo-Club!« Pollack machte einen Schritt auf Brehm zu. Brehm zog den Kopf zwischen die Schultern. Er starrte auf die Schuhe, deren Spitzen sich bewegten. »Sie können Dattner vielleicht etwas vormachen, vielleicht auch der Polizei, aber nicht mir, Freundchen. Mit wem haben Sie im Don Carlos gesprochen? Mit einem von Ihren schwulen Freunden?«
Brehm wimmerte. Pollack hatte es damals schon herausgefunden.
»Wir werden jetzt ein paar Takte miteinander reden, Herr Brehm. Ich habe keine Geduld mehr. Zeigen Sie mir Ihr Zimmer.«
Brehm rührte sich nicht. Er war am Ende.
Fußtritte trieben ihn hoch. Er stolperte die enge Treppe ins Obergeschoss hinauf. Pollack war unmittelbar hinter ihm.
Sein Zimmer lag an der Giebelseite. Es war schmal und besaß ein hohes Fenster mit einem kleinen Balkon davor. Pollack sah sich um, dann grinste er.
»Herbmännlich«, sagte er spöttisch. »Weiß deine Mutter immer noch nicht, was du für einer bist?«
Brehm schwieg, während Pollack begann, die Schränke zu öffnen und ihren Inhalt herauszureißen.
»Weiß die Polizei, weshalb du damals aus der Lehre geflogen bist?«
Brehm schwieg. Pollack fuhr herum und ballte die Faust.
»Nein«, sagte Brehm schnell.
Ganz kurz drängte sich die entwürdigende Szene in sein Gedächtnis. Er und Josef Möltgen, der Sohn des Chefs, hinten im Papierlager. Und dann der alte Möltgen über ihnen, mit dunkelviolettem Gesicht und Augen, die aus den Höhlen quollen. Weil sein eigener Sohn, damals sechzehn Jahre alt, ebenfalls homosexuelle Neigungen zeigte, hatte der alte Möltgen den eigentlichen Grund für den Hinauswurf Brehms verschleiert. Er, Peter Brehm, hatte es seitdem gelernt, seine Neigung vor seiner Umgebung zu verstecken, vorsichtig zu sein, seine Gefühle zu beherrschen und ihnen allenfalls in Schuppen wie dem Don Carlos freien Lauf zu lassen. Oder hinterher, in einer Absteige, mit einem Jungen, der nur aufs Geld aus war.
»Haben Sie den Jungen noch mal gesehen? Den Josef?«
Brehm schüttelte den Kopf.
»Er lebt jetzt drüben in Meerbusch in einem schicken Haus, zusammen mit einem süßen Knaben. Er ist jederzeit bereit zuzugeben, was er und Sie miteinander hatten.«
Brehm presste die schmerzenden Lippen zusammen. So viele bekannten sich heutzutage zu ihrer Homosexualität. Aber er, er konnte es nicht. Er konnte es seiner Mutter nicht antun. Wegen Dattner hatte er eigentlich keine Bedenken, obwohl er nicht wusste, wie der reagieren würde. Dattner hatte nie erkennen lassen, dass er sich für ihn oder sein Privatleben interessierte. Der Job war ganz angenehm, aber wenn er ihn verlor, fände er eine ähnliche Stellung ohne Zweifel bald wieder. Es ging um seine Mutter. Sie würde es nicht verkraften, da war er sicher. Er kannte ihre schlichte, gerade Denkungsweise.
Pollack kippte den Inhalt einer Schublade aufs Bett und rührte dann zwischen den Briefen, Prospekten und Fotos herum. Brehm trat an den Spiegel über dem Waschbecken und betrachtete sein geschwollenes Auge.
»Der harte Peter Brehm«, spottete Pollack. »Fußball, Judo, Kegeln, Windsurfen. Und was noch?«
Brehm schwieg.
»Wem wollen Sie etwas vormachen? Sich selbst? Ihrer Mutter? Dattner?«
Brehm drehte sich langsam um. »Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Ich hätte es Herrn Dattner längst berichten müssen. Dass Sie schwul sind. Dazu wäre ich aufgrund meines Auftrags verpflichtet gewesen.«
»Warum haben Sie es nicht getan?«
»Mir liegt nichts an Ihnen. Ich will den Kerl finden, der den Junior abgestochen hat. Mehr interessiert den alten Dattner nicht. Wenn Sie mir helfen, gebe ich Ihnen was von der Prämie ab. Unter der Hand. Na los, erzählen Sie was! Mit wem von Ihren schwulen Freunden haben Sie über Ihren Job geplaudert? Über Herrn Dattner und was der alles in seinem Safe hat? Es gibt doch Schwule, die klinken voll aus, wenn sie nur an die glitzernden Klunker denken! Sagen Sie mir ein paar Namen. Los schon. Ich will hier nicht die Nacht verbringen!«
Pollack schob sich auf Brehm zu. Brehm begann wieder zu zittern. Pollacks Grinsen war kalt und gefühllos. Vor Brehm blieb er stehen.
»Ich will Ihnen ja glauben, dass Sie selbst nichts mit den beiden Überfällen zu tun haben«, sagte er. »Ich will nur die Namen Ihrer Freunde. Einer von den Schwulen war dabei, da verwette ich meinen Arsch.«
Brehm roch Pollacks Atem, und er wandte den Kopf ab. »Ich habe keinen Freund.« Er hasste sich dafür, dass er überhaupt mit Pollack sprach. Er wusste, dass er eine jämmerliche Figur abgab. Er wollte sich hinlegen und schlafen.
»Du treibst es also mit Strichjungen. Wie heißen die Knäblein?«
Brehm schwieg. Pollack holte aus. Seine flache Hand klatschte gegen Brehms Wange. Brehm schloss das gesunde Auge. Er spürte die Träne, die zwischen seinen Lidern hervorquoll.
»Ich kenne keine Namen ... Ich rede nicht über meinen Job ...«
»Das glaube ich dir nicht! Jeder redet, jeder! Ob ein Kerl zu einer weiblichen oder männlichen Nutte geht, er kotzt sich aus!«
Brehm schüttelte den Kopf.
»Brehm, ich mache dich fertig!«
»Niemand weiß, dass ich Fahrer bin.«
Pollack stieß leise die Luft aus. »Na los, weiter! Was erzählst du den Jungs? Dass du Dattners Kompagnon bist?«
»Sie denken, ich bin ... Journalist.«
Pollack verbarg seine Enttäuschung hinter einem lautlosen Lachen. Brehm sah das Gesicht im Spiegel. Pollack sah seine Felle davonschwimmen. Endgültig.
Das Gesicht verzerrte sich, als Pollack Brehm wütend herumriss und ihn aufs Bett schleuderte.
»Ich bringe Sie um«, stieß Brehm undeutlich hervor.
Pollack lachte, als er sich umwandte und die Tür aufriss. Brehm wusste, dass er es nicht tun würde, und er wusste, dass Pollack es ebenfalls wusste.
Auf der Treppe prallte Pollack fast gegen Brehms Mutter.
»Wer sind Sie?«, fragte sie erschreckt.
Pollack stieß sie einfach zur Seite, rannte an ihr vorbei und stürmte nach draußen.
Peter Brehm vergrub das Gesicht im Kissen, als seine Mutter hereinkam. Sie setzte sich neben ihn, berührte seine Schulter, und dann hörte er ihre besorgte, mitleidige Stimme.
»Peterchen, was hast du? Komm, sag es deiner Mama!«
»Es ist nichts«, sagte er ins Kissen. »Geh, bitte.«
Sie streichelte seinen Nacken. »Dreh dich um, Peterchen. Wer war dieser Mann? Er war so unhöflich.«
»Geh weg!«, schrie er unbeherrscht und warf sich herum. »Geh endlich weg!«
Er sah sie an mit dem einen Auge, und sie prallte vor dem zerschundenen Gesicht zurück wie vor dem Gesicht eines Aussätzigen.