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Er hielt den Schlüssel zu Veras Apartment bereits in der Hand, als er den Lift verließ und über den langen Flur schritt. Die Wände waren mit hellen Farben gestrichen, der Teppichboden war erst vor Kurzem erneuert worden. Für Vera musste alles vom Feinsten sein.

Wie lange kannte er sie jetzt schon? Vier oder fünf Jahre? Er hatte sie während einer Tagung der Mitglieder des Bundesverbandes der Bauindustrie in einem Hotel in München kennengelernt. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wer sie zusammengebracht hatte. Er hatte sie nicht für eine Professionelle gehalten, das tat er jetzt auch noch nicht, obwohl sie ihn bisher schon ein kleines Vermögen gekostet hatte. Er hatte nichts gegen Frauen, die sich verkauften — teuer verkauften. Das schaffte klare Verhältnisse.

Als sie damals feststellten, das sie beide aus derselben Stadt kamen, hatte er sie in seinem Wagen mitgenommen. Er war nicht sofort mit ihr ins Bett gegangen. Sie waren einige Male zum Essen ausgegangen, einmal hatte sie Theaterkarten besorgt, und er hatte sie nach Hause gebracht und bei ihr noch Kaffee getrunken und war dann brav gegangen. Erst nach einigen Wochen war es dann passiert. Es war eine ganz selbstverständliche Sache gewesen, ohne Herzklopfen oder Geziere, und seitdem waren die Abende und manchmal die Nächte mit Vera für ihn stets außerordentlich befriedigend verlaufen.

Sie hatte damals noch am Volksgarten gewohnt. Das von ihm erbaute Hochhaus an der Jägerallee war zu der Zeit gerade fertig geworden. Er hatte zwölf Wohnungen in dem Komplex für sich behalten. Eine hatte er Vera überlassen. Sie wusste, dass er ihr die Wohnung irgendwann überschrieben hätte.

Trotzdem hatte sie ihn hintergangen. Sie ging nicht ans Telefon. Sie hat allen Grund dazu, dachte er grimmig, als er den Schlüssel ins Schloss stieß, ihn herumdrehte und der Tür einen Tritt versetzte. Sie würde ihm einiges erzählen müssen.

»Vera!«, rief er laut, als er über die Schwelle trat.

Die Tür schwang zurück und klackte wieder ins Schloss. Es war dunkel in der Diele. Er schaltete das Licht an.

Alle Türen standen offen, aber es war dunkel in den Zimmern, also hatte sie schon die Jalousien herabgezogen.

Oder sie noch nicht wieder hochgezogen.

Er trat in die Tür zum Schlafzimmer. Die Flurlampe in seinem Rücken warf einen unförmigen Schatten über das verwühlte Bett.

Plötzlich hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er tastete nach dem Schalter für die Deckenbeleuchtung. Indirektes, gedämpftes Licht flutete über das Rundbett. Ihr Anblick traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen, und unwillkürlich zuckte er zurück.

Sie lag da, nackt, mit gespreizten Beinen, das eine unnatürlich abgewinkelt, der Fuß lag unter dem Gesäß. Ihr Gesicht war zu einer grauenvollen Grimasse geronnen, die weit aufgerissenen Augen starrten zur Decke. Eine Hand lag an ihrem Hals, aber ihre Finger hatten das Tuch, das der Mörder mit außerordentlicher Brutalität festgezogen und im Nacken verknotet hatte, nicht mehr abreißen können.

*

Er spürte sein Herz, das mühsam pumpte, und er hörte seine eigenen keuchenden Atemzüge in der stillen Wohnung. Gewaltsam löste er seine Augen von dem schrecklichen Anblick, ließ sie umherwandern, registrierte die Verwüstung in Veras Schlafzimmer, das sonst immer peinlich ordentlich hergerichtet gewesen war, wenn er es betrat. Die Fächer der Kommode waren herausgerissen, ihr Inhalt lag auf dem Boden verstreut.

Auf unsicheren Füßen tappte er ins Wohnzimmer. Dort bot sich ihm ein schlimmer Anblick der Verwüstung, als er das Licht einschaltete. Kein Buch, keine Vase, weder der Fernsehapparat noch die Bestandteile der Stereoanlage standen noch an ihrem Platz. Der Teppich war unter den Möbelstücken hervorgezerrt worden, die Polster der Sessel und der Couch waren auseinandergerissen.

Vohsen schob ein Sitzpolster zur Seite, richtete einen Sessel auf und ließ sich hineinfallen. Als einziges standen das Telefon und der automatische Anrufbeantworter noch im Regal.

Vohsen nahm den Hörer ab. Das Freizeichen ertönte. Polizei? Er müsste die Polizei anrufen. Sie würde mühelos seine Beziehung zu Vera Petzold aufdecken. Daran führte kein Weg vorbei. Aber wenn feststand, dass er mit ihrem Tod nichts zu schaffen hatte, konnte sein Name vielleicht rausgehalten werden.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Alles lief gegen ihn. Kallberg hatte ihm geraten, dem Empfang des Ministerpräsidenten fernzubleiben. Er sah auf die Uhr. Es war gleich halb sieben. Mein Gott!

Was war nur geschehen? Als er Vera von Beates Beziehung zu diesem Hippie erzählte, hatte sie Freunde erwähnt, die ihm vielleicht helfen könnten auf ihre Weise. Sein Fehler war gewesen, dass er ihren Vorschlag nicht sofort zurückgewiesen hatte. Er hatte nicht geahnt, wie zweifelhaft ihre Freunde waren.

Sie hatten einen Jungen getötet, den sie für Beates Freund hielten. Himmel, warum? Wollten sie ihn ruinieren? Was hätten sie davon? Was hätte Vera davon gehabt? Wer hätte etwas davon gehabt?

Warum musste Vera sterben? Vohsen glaubte keinen Moment, dass sie einem Sexualtäter zum Opfer gefallen war. Hatten ihre eigenen Freunde sie umgebracht?

Er brauchte Hilfe. Kallberg musste alles daransetzen, damit sein Name draußen blieb.

Er wählte Kallbergs Privatnummer. Als die Haushälterin sich meldete, fiel Vohsen wieder ein, dass Kallberg heute nicht zu Hause zu erreichen sein würde. Er wollte schon wieder auflegen, als ihm ein spontaner Einfall kam.

»Hier ist Schubert«, sagte er. »Ich bin der persönliche Referent des Ministerpräsidenten. Der Herr Ministerpräsident muss Herrn Kallberg unverzüglich sprechen. Geben Sie mir bitte die Nummer, unter der ich ihn erreichen kann.«

»Einen Augenblick«, sagte die Haushälterin. Sie kannte Vohsens Stimme nicht. Bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen er Kallberg zu Hause angerufen hatte, hatte er nie seinen Namen genannt. »Hören Sie?«, fragte die Frau.

Vohsen kritzelte die Nummer in sein Notizbuch. Er drückte kurz die Gabel nieder und wählte gleich anschließend die Vorwahlnummer und die vierstellige Zahl. Die Vorwahlnummer gehörte zu Hillerath oder Jevenich, wenn er sich nicht täuschte. Das Rufzeichen schnarrte zwei Mal, dann hörte er die Stimme.

»Ja, hallo? Wer ist da?«

Ihre Stimme traf wie ein Stich mitten ins Hirn. Das Notizbuch lag noch aufgeschlagen auf seinem Knie, das jetzt unkontrollierbar zu zucken begann.

Natürlich kannte er die Nummer in Hillerath. Er hätte es eigentlich sofort erkennen müssen, obwohl er sie seit vielen Jahren nicht mehr gewählt hatte.

»Hallo, wer ist denn da? Melden Sie sich doch!« Ihre Stimme klang jetzt scharf. So kannte er sie besser.

Agnes.

Kallberg und Agnes. Kallberg, der Freund der Familie. Der Mann, der immer da gewesen war.

Für wen war er immer da gewesen? Für ihn, Vohsen?

Er, Vohsen, hatte immer nur bezahlt. Für wen? Für Kallberg und seine Partei? Oder für Agnes, deren Klitsche wider alles Erwarten immer noch existierte?

Langsam legte er auf. Mechanisch steckte er sein Notizbuch ein. Ein dumpfes Gefühl explodierte in seinem Magen. Taumelnd erreichte er die Toilette.

Nachdem er sich erbrochen hatte und sein weißes Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen im Spiegel sah, da begriff er endlich, dass er betrogen worden war. Kallberg hatte ihn in einen Rausch versetzt. Bereitwillig wie ein Tor hatte er die Drogen geschluckt, die Kallberg ihm verabreicht hatte. Den Vorsitz im Bundesverband der Bauindustrie, das Bundesverdienstkreuz, und als Krönung der Ministerposten.

Und er selbst hatte ihm von Beate erzählt und sie damit in tödliche Gefahr gebracht. Vohsen wischte sich über den Mund. Der Höhenrausch verflog, und endlich kam wieder der Kämpfer zum Vorschein.

Als Vohsen die Wohnungstür aufriss, musste er sich beherrschen, um nicht zurückzuzucken.

Vor ihm stand Bandisch, der Kriminalbeamte.

*

»Ich habe mir gedacht, dass Sie gleich herkommen würden, weil die Dame nicht ans Telefon geht«, sagte Bandisch.

Er sah Vohsen aufmerksam an. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Vohsen schluckte den Kloß hinunter, der in seiner Kehle steckte. »Kommen Sie rein«, sagte er.

Bandisch betrat die Diele. Alle Lichter brannten noch. Sein Blick fiel durch die offene Schlafzimmertür auf das Bett, wo die tote Vera in obszöner Haltung lag.

»Sie war schon tot«, sagte Vohsen heiser. »Ich war nur ein paar Minuten hier.«

Bandisch betrat das Schlafzimmer. Er beugte sich über die Tote und legte den Handrücken auf die Haut unter der Achsel.

»Sie ist schon eine ganze Weile tot«, bestätigte er. Er kam in die Diele zurück. Seine Augen erfassten das Chaos. »Haben Sie etwas angefasst?«

Vohsen lachte rau. »Die Bude ist voll von meinen Fingerabdrücken.«

Bandisch stakste durch das Wohnzimmer. Er hatte das Telefon entdeckt. Er legte ein Taschentuch über den Hörer, nahm ihn auf und rief seine Dienststelle an. Mit knappen Worten forderte er die Mordkommission an.

Bandisch wandte sich wieder Vohsen zu. Mit einer Armbewegung deutete er auf das Durcheinander.

»Können Sie sich vorstellen, warum der oder die Täter diese Verwüstung angerichtet haben?«

Vohsen hob die Schultern.

»Wirklich nicht?«, hakte Bandisch nach. »Vielleicht hat Frau Petzold Aufzeichnungen gemacht? Oder der Täter hat vermutet, dass sie welche gemacht hat.«

»Warum sind Sie hierhergekommen?«, fragte Vohsen.

»Ich habe meine Vorgesetzten dazu bewegen können, die Unschuldsvermutung auf Herrn Ehlers anzuwenden, die Ermittlungen auszudehnen und die Einlassungen Ihrer Tochter stärker zu berücksichtigen.« Bandisch verschwieg, dass er Reinartz über den ganzen Umfang seiner Erkenntnisse, die er aus den Gesprächen mit Beate Vohsen gewonnen hatte, im Unklaren gelassen hatte. Den Namen Kallberg hatte er nicht einmal erwähnt.

»Die beiden Männer, die im Verdacht stehen, Ihre Tochter verschleppt zu haben, sind vor einer Stunde vorläufig festgenommen worden. Daraufhin wollte ich mich mit dieser Dame beschäftigen. Insbesondere hatte ich vor zu prüfen, inwieweit sie als Anstifterin oder Vermittlerin für die Straftaten in der Neutorstraße infrage kommt. Jetzt werden wir zu prüfen haben, ob die beiden für ihren Tod verantwortlich sind.«

Verantwortlich ist Kallberg, dachte Vohsen.

»Sie werden auspacken müssen, Herr Vohsen«, fuhr Bandisch fort. »Sie werden genau angeben müssen, wie viel Sie der Dame wofür bezahlt haben.«

»Welche Rolle hat sie gespielt?«, fragte Vohsen. Er sah nicht zur offenen Schlafzimmertür hinüber.

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen zu nahe trete ...«

»Nur zu. Es kann nur noch schlimmer kommen.«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich ihre Kontakte überprüfen ließ«, erklärte Bandisch. »Sie war eine Prominenten-Nutte. Wussten Sie das nicht?«

Vohsen rührte sich nicht.

»Mein Kollege hat eine Anzeige ausgegraben, die fast zehn Jahre zurückliegt. Damals hatte sie einen Freier bestohlen und anscheinend auch zu erpressen versucht, war aber an den Falschen geraten. Der Freier war Anwalt und hat Anzeige erstattet. Aber der Anwalt war zufälligerweise auch mit Ihrem Freund Kallberg verbunden. Der Anwalt hat seine Anzeige zurückgezogen, und seitdem war es mit ihr anscheinend immer bergauf gegangen. Wie es aussieht, hat Herr Kallberg die Dienste dieser Dame besonderen Freunden zukommen lassen. Haben Sie sie nicht über Herrn Kallberg kennengelernt?«

Ganz kurz schien es, als würde sich sein Magen erneut nach außen stülpen, doch das Gefühl der Übelkeit ließ bald wieder nach.

Kallberg hatte alles eingefädelt, einfach alles. Aber jetzt war er allein, mutterseelenallein. Er hatte Vera zu früh ausgeschaltet. Und die Gangster saßen bereits hinter Gittern.

»Werden Sie mir jetzt sagen, wo meine Tochter ist?«, fragte Vohsen.

Bandisch zögerte einen winzigen Moment, dann sagte er: »Sie und ihr Freund wussten nicht, wohin. Da habe ich sie mit zu mir genommen.«

Vohsen starrte den Beamten an. Beate war in Sicherheit. Er konnte Kallberg angreifen. Frontal, wie mit dem Bulldozer, konnte er ihn auf den Rand des Abgrunds zuschieben.

»Kann ich gehen?«, fragte er. »Ich habe noch einen Termin.«

Bandisch sah ihn aufmerksam, fragend an.

»Ich bin zum Empfang des Ministerpräsidenten in der Messe eingeladen«, erklärte Vohsen.

»Kann man Sie dort erreichen?«

»Ja, natürlich. Wenn ich nicht mehr dort bin, rufe ich Sie später an.«

»Ich werde immer hinterlassen, wo Sie mich erreichen können«, sagte Bandisch.