3. KAPITEL

Rowe-Akademie für Mädchen

Herbst 1981

"So ein hübscher Mund", stellte der Mann mit der Reibeisenstimme fest. "Gut, sie sieht ein bisschen unordentlich aus, aber das könnte ganz lustig werden. Ein echter Wildfang."

Die Frau, die das "Date" arrangiert hatte, schob das Mädchen ins grelle Licht einer Lampe, damit er sie besser sehen konnte. Die Uniform des Mädchens, ein karierter Faltenrock und eine weiße Bluse, kombiniert mit einem marineblauen Schal, den ein Monogramm zierte, betonte ihre schlaksige Gestalt. Von ihren blauen Kniestrümpfen war einer auf die Hälfte der Wade gerutscht, der andere bis zum Fußgelenk, so als ob sie hastig übergestreift worden wären. Eine glänzend schwarze Haarsträhne klebte an der feuchten Wange des Mädchens, aber es waren ihre wachsamen tiefblauen Augen, die ihr Gesicht dominierten.

Man hätte sie leicht als unordentlich bezeichnen können. Ungezähmt war der weitaus bessere Begriff, und ihr wildes Wesen war vermutlich die Quelle ihrer seltsamen, unsteten Erscheinung. Sie wirkte mürrisch, aber das kam von der Angst, die ihr Inneres durchflutete.

Sie befeuchtete sich mit der Zungenspitze die Lippen. Sie wollte nicht verführerisch wirken, aber ihr Mund war trocken und fühlte sich klebrig an. Sie schaffte es nicht einmal, zu lächeln.

"Sie sieht jung aus", sagte der Mann.

"Sie ist sehr clever", konterte die Frau. "Sie ist unsere beste Schützin, aber ich muss leider sagen, dass auch Handlesen zu ihren Hobbys gehört."

"Handlesen? Eines eurer Mädchen?" Seine krächzende Stimme durchdrang das leere Klassenzimmer. Die Hartholzböden und die geschlossenen Fenster ließen jedes Geräusch widerhallen wie in einem Canyon.

Die Frau strich sich über das Haar. Sie befingerte die Haarbüschel, die sich aus dem geflochtenen Knoten gelöst hatten, der wie eine glänzende Schlange an ihrem Hinterkopf saß. "Sie ist anders. Ich habe viel Zeit mit ihr verbracht, aber sie scheint gegen meine Erziehungsmaßnahmen immun zu sein."

"Klingt das nach My Fair Lady?"

Sie seufzte. "Ich fürchte ja."

Das vierzehnjährige Mädchen, über das diskutiert wurde, starrte trotzig vor sich hin. Man hatte ihr gesagt, dass sie lächeln und mit dem Mann flirten solle, aber das Licht war so grell, dass sie ihn nicht erkennen konnte, nicht einmal, wenn sie die Augen zusammenkniff. Und dafür würde man ihr später die Hölle heiß machen. Miss Rowe hasste es, wenn sich ihre Schützlinge so gewöhnlich benahmen, auch wenn sie es waren. Aber dieses Mädchen war nicht wie die anderen Schülerinnen, die aus reichen Familien stammten. Sie war eine derjenigen, die ein Grace-Stipendium hatten.

"Wie heißt sie?", fragte der Mann.

"Matilda. Süßer Name, nicht? Sie ist sehr lebhaft und auf ihre Art wirklich bezaubernd."

Das Mädchen glaubte, nicht richtig zu hören. Bezaubernd? Sie war schrecklich ungelenk, niemand wusste das besser als sie selbst. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Mann etwas von ihr wollte. Matilda, die Streberin? Der Freak mit dem Superhirn? Warum hatte man sie für diese entwürdigende Vorstellung ausgewählt? An der Schule waren nur vier Stipendiatinnen, und die anderen drei würden niemals glauben, dass er sich Mattie Smith ausgesucht hatte. Sie waren alle wunderschön und hatten Brüste. Mattie hatte sogar ihre Kleidung zerknautscht, in der Hoffnung, dass er sie für schlampig und ungeeignet hielt.

Der Mann zog etwas aus seiner Manteltasche, eine lange Schärpe, die er glatt zog.

"Keine Augenbinden", warnte Miss Rowe. "Sie hat Angst davor, eingesperrt zu sein. Und sie würde im Dunkeln nichts sehen."

Matties Herz schlug zum Zerbersten, es hämmerte schmerzhaft in ihrer Brust, als der dunkle Stoff in seiner Tasche verschwand. Was würde sie machen, wenn er ihr die Augen mit dem Ding verbinden würde, wenn er ihr die Sicht nähme?

Ihn umbringen, dachte sie. Ihn mit dem Messer aufschlitzen, das sie aus der Küche geklaut und im Strumpf versteckt hatte. Hätte Mattie ihren Bogen, sie würde einen Pfeil in sein Herz schießen.

"Woher wissen wir, dass sie nicht redet?", fragte er die Direktorin, die einen Schmollmund zog.

"Sie unterschätzen mich, Sir. Das ist kein Problem, das versichere ich Ihnen. Diese Mädchen wissen, was auf dem Spiel steht. Sie haben viel Glück gehabt, eine Schule wie Rowe besuchen zu dürfen. Stimmt doch, Matilda?"

Mattie gelang ein Nicken.

"Sie sieht wirklich jung aus", wiederholte er, so als ob das für ihn schwer wog. Er bewegte sich in Matties Reichweite, aber alles, was sie sehen konnte, war der dunkle Ärmel seines Mantels und die blasse Hand, die sich ihrem Gesicht näherte.

Instinktiv wollte sie zurückzucken, aber sie konnte nicht wegsehen. Er hatte dicke Hände mit kurzen, weichlichen Fingern. Eine spatelförmige Hand bedeutet, dass man ein sehr körperlicher Mensch ist, aggressiv, eine Führungsperson. Ihr fielen Hände auf. Das geschah automatisch, wie ein Reflex. Aber etwas Glitzerndes lenkte Mattie ab. Es waren Manschettenknöpfe. Der eine, den sie sah, hatte einen goldenen Stern auf einem Kreis von Onyx.

"Das hier", flüsterte er, "ist einer der niedlichsten kleinen Münder, die ich je gesehen habe."

Er berührte ihre Lippen, und ein Ruck ging durch sie hindurch. Ihr wurde im Magen ganz flau vor Ekel. In ihren Ohren klingelte es. Es war schwer, ihn danach zu verstehen, aber er murmelte etwas davon, dass er sie küssen wolle, und sie spürte, wie eine Hand ihren unteren Rücken drückte.

Die Schulleiterin schob sie dem Mann entgegen. Matilda drängte zurück und spürte, wie sich scharfe Fingernägel in ihre Haut bohrten.

"Matilda?", hörte sie ihn fragen. "Ist etwas nicht in Ordnung?"

Jetzt war er zu nah. Sie konnte den abgestandenen Kaffee in seinem Atem riechen und einen anderen Geruch, der ihr die Kehle zuschnürte. Er roch wie die Männer, die ihre Mutter besucht hatten. Lela Smith war von Beruf Handleserin, die ihre Kunden im Schlafzimmer des kleinen Apartments empfing, das sie mit ihrer Tochter bewohnte. Zu jung, um zu verstehen, was genau vor sich ging, nahm Mattie doch das Gelächter wahr, das Flüstern und den seltsamen Geruch.

Weil sie Angst hatte, dass ihr schlecht würde, drehte Mattie den Kopf zur Seite. Übelkeit stieg in ihr auf, und das Licht drehte sich über ihr. Sie hatte kein Talent für weibliche Berechnung, sonst hätte sie die Gelegenheit genutzt und einen Ohnmachtsanfall vorgetäuscht. Die anderen Mädchen hätten das bestimmt gemacht, aber sie waren nicht so unbeholfen.

Sie fasste einen verzweifelten Plan, als sie darum kämpfte, das Gleichgewicht zu bewahren.

"Es ist alles in Ordnung", sagte sie, ließ ihn ihr Gesicht berühren und es sanft anheben. Er würde sie jetzt küssen, und sie wusste, dass Miss Rowe das zulassen und sogar mit etwas Genugtuung zusehen würde.

Das Licht, das in Matties Augen brannte, verhinderte, dass sie einen Blick auf ihn werfen konnte. Vielleicht war es auch besser so, dachte sie, sonst wäre sie nie in der Lage, das, was sie sich vorgenommen hatte, durchzuziehen. Er zog sie an sich, den Finger auf ihr Kinn gelegt. Miss Rowe schubste und drängte sie immer weiter.

"Matilda mit dem hübschen Mund", sagte er sanft.

Angesichts dessen, was passieren sollte, lief es ihr eiskalt den Rücken herunter. Als er sich zu ihr beugte, um sie zu küssen, spuckte Mattie ihn an. Und nicht nur ein bisschen. Sie hatte alle Flüssigkeit, die sich noch in ihrer ausgedörrten Kehle befunden hatte, gesammelt und ihm alles wütend entgegengeschleudert.

Er heulte vor Wut auf, und Miss Rowe sprang dazwischen. Sie griff so fest nach Matties Arm, dass ihre Knochen knackten und Mattie vor Schmerzen aufschrie. Der Mann verschwand im Schatten, und die Direktorin schob Mattie zur Seite, um mit ihm zu sprechen.

"Es tut mir furchtbar leid." Sie hob flehentlich die Hände. "Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Entschuldigen Sie mich bitte, ich rede mit ihr."

Mattie konnte die Erwiderung des Mannes nicht hören. Es hätte sowieso keine Rolle gespielt. Er hätte sie nicht retten können, nicht mal, wenn er es gewollt hätte. Niemand konnte es. Wenn er einmal aus dieser gotischen Monstrosität von einer Schule verschwunden wäre, würde sie auf eine Weise bestraft werden, die sicherstellte, dass sie die Direktorin nie wieder bloßstellte, dass sie es nicht einmal wagen würde, jemals wieder daran zu denken.

Matties Mund war mit etwas vollgestopft, das wie Höllenfeuer brannte. Als sie versuchte, es auszuspucken, stellte sie fest, dass es ihre eigene Zunge war. Sie war auf die doppelte Größe angeschwollen und jeder Millimeter der Oberfläche war rau. Sie konnte Blut schmecken, aber sie traute sich nicht, zu schlucken. Sie würde bestimmt ersticken.

Das war ihre erste erschreckende Erkenntnis, als sie sich ihren Weg zurück ins Bewusstsein kämpfte. Die zweite war schlimmer. Sie war in Dunkelheit eingehüllt und gefangen in einem so engen Raum, dass sie ihren eigenen Atem über sich spüren konnte. Die Decke des Raums konnte kaum mehr als zehn Zentimeter entfernt sein.

War dies etwa ein Sarg? War sie in einem Grab, lebendig begraben?

Panik ergriff sie, ließ sie die Kontrolle verlieren. Sie musste da raus, oder sie würde sterben! Ihre Hände waren an ihren Seiten gefangen und ihre Knie schlugen schmerzhaft an die Wände. Es war so eng in dem Raum. Sie konnte sich nicht genug bewegen, um gegen die Wände zu schlagen oder sie einzutreten.

Ein Lichtblitz überraschte sie. Er erhellte ihr Gefängnis, und von dem, was sie sehen konnte, ähnelte der dreckige Bereich eher einer Abseite als einem Sarg. Aber woher kam das Licht?

Beruhige dich, sagte sie sich. Lieg still und schau dich um, hör genau hin. Aber jeder Atemzug verstärkte das enge, panische Gefühl in ihrer Brust. Irgendwie musste Mattie einen sicheren Ort in sich selbst finden. Sich darin versenken und sich beruhigen. Anders konnte sie nicht überleben. Dies war der Albtraum, der sie seit jeher verfolgt hatte – und der sie für alle Zeiten verfolgen würde. Jeder hatte Urängste. Sie hatten darüber im Unterricht gesprochen. Sie stecken in uns, noch aus den urzeitlichen Wäldern und Sümpfen. Das hier war Matties schlimmste Angst. Aber woher wusste Miss Rowe das?

Jetzt ist dein Mund nicht mehr so hübsch, oder, Matilda?

Das Licht blitzte wieder auf, und ein klopfendes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Es klang, als ob ein Wasserhahn tropfte, aber jeder Tropfen schien einen kleinen Funkenregen zu verursachen. In Sekunden war die Abseite von tödlicher, knisternder Elektrizität erfüllt und von einem Geruch, den sie als gefährlich einstufte, dem Gestank von versengten Haaren.

Plötzlich verstand Matilda. Sie war in einer Abseite, vielleicht auf dem Dachboden von Miss Rowes Apartment im Turm, und es regnete draußen. Irgendwo dicht neben ihrem Kopf war ein Elektrokabel, das in einer Wasserpfütze lag. Die Funken hatten schon ihr Haar angesengt. Wenn sie in direkten Kontakt mit dem Kabel kam, wenn sie zum Leiter würde, bekäme sie einen tödlichen elektrischen Schlag.

War es das, was Miss Rowe wollte?

Ein schwaches Keuchen entrang sich ihrer Kehle. Ihr ganzer Körper zitterte. Dieser Ort war eine mittelalterliche Folterkammer. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Würde sie hier jemals rauskommen?

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was passiert war, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte. Miss Rowe hatte sie in das Wohnzimmer ihres Apartments gebracht und ihr eine Tasse Tee gemacht. Um sie zu beruhigen, hatte sie gesagt. Sie hatte darauf bestanden, dass Mattie den Tee trank, bevor sie sich unterhielten. Danach konnte sich Mattie an nichts mehr erinnern, außer dass der Tee zu süß schmeckte, so als ob sie extra viel Honig hineingetan hätte, um einen anderen Geschmack zu überdecken.

Was hatte sie in den Tee getan? Lauge? Säure? Jedes davon hätte Mattie wahrscheinlich umgebracht, wenn sie davon getrunken hätte. Aber vielleicht kam der Tod langsam. Mattie wusste nicht viel über diese Dinge. Sie könnte gleich jetzt sterben. Miss Rowe beschäftigte sich viel mit Kräutern, einige davon waren giftig, aber die meisten davon sollten homöopathische Heilmittel sein. Sie musste etwas Schlafmittel in den Tee gefüllt und Matties Zunge, als sie bewusstlos gewesen war, mit etwas Ätzendem betupft haben. Ihre Zunge fühlte sich an, als wäre sie mit kochendem Wasser verbrüht worden.Mattie traute Miss Rowe so etwas durchaus zu. Die Direktorin war grausam.

Mattie hatte in der Vergangenheit Gerüchte über verschwundene Stipendiatinnen gehört. Bis jetzt hatte sie sie nicht geglaubt. Vielleicht waren hier oben in der Abseite sogar noch andere Mädchen. Tote Mädchen. Die Akademie war ein altes Gebäude im viktorianischen Stil und hatte verschiedene Flügel. Versteckte Tunnel und Türme waren da, und nur ein Drittel davon wurde momentan benutzt. Es gab zahlreiche Möglichkeiten, Leichen zu verstecken, besonders wenn man sich nicht mehr an sie erinnerte.

Sie würde nicht so sterben. Sie würde kämpfen. Sie versuchte, ihre Beine zu bewegen, aber es fühlte sich an, als seien sie gelähmt – vor Angst, wenn nicht aus einem noch weitaus schlimmeren Grund. Eine seltsame Lethargie übermannte sie. Ihre Augenlider fielen zu, ihr gesamter Körper wurde müde, aber sie musste wach bleiben. Wenn sie einschlief, würde sie sich vielleicht bewegen und das Kabel berühren. Die wenige Luft, die ihr zum Atmen blieb, war warm und dick geworden. Erstickend.

Ihr gequälter Seufzer übertönte beinah ein anderes Geräusch, ein Klacken in der Ferne. Es klang wie Schritte. Kam jemand in ihre Richtung?

Es war Miss Rowe. Wer konnte es sonst sein? Die Schulleiterin wollte nachsehen, ob Mattie schon tot war.