46. KAPITEL

Acht Monate später

Mattie nippte an einem übervollen Becher Kaffee, während sie in der Lobby des Gerichtsgebäudes wartete. Durch das Koffein wurde Mattie nur noch zitteriger. Stattdessen hätte sie frühstücken sollen, sogar das Stück trockenes Rosinenbrot in ihrem Kühlschrank wäre besser gewesen als die grummelnde Leere in ihrem Magen.

Doch sie konnte nicht. Zu nervös. Schrecklich nervös. Sie war aus ihrem Haus in Sausalito hierher gerast, sobald sie die Nachricht erhalten hatte, dass die Geschworenen zu einem Urteil gekommen waren. Wie lange hatte Mattie darauf gewartet? Fast kam es ihr so vor, als ob ihr ganzes Leben von dieser Verhandlung abhinge und als ob alles stillstünde, solange sie nicht abgeschlossen wäre. Dank der Medien war der größte Teil des Landes genauso gespannt wie Mattie.

In einem niedrigen Alkoven hatte Mattie einen Platz entdeckt, von dem aus sie die drängelnde Masse unauffällig beobachten konnte. Nicht weit entfernt standen einige Anwälte der Verteidigung dicht zusammengedrängt und versuchten wahrscheinlich, das Urteil vorherzusagen. Mattie kannte die meisten von ihnen, und die Kollegen der Anklage ebenfalls. Doch sie hatte sie lediglich höflich gegrüßt und nicht mit ihnen über den Fall gesprochen.

Dass Mattie eine Auszeit von der Richterbank genommen hatte, bis ihre rechtlichen und persönlichen Belange geklärt sein würden, war allgemein bekannt. Das verschwundene Videoband war aufgetaucht und dokumentierte den körperlichen, emotionalen und sexuellen Missbrauch an der Rowe-Akademie. Gegen Mattie war zwar keine Anklage erhoben worden, trotzdem hatte sie sich zurückgezogen. Als ihr Haftminderung in Aussicht gestellt worden war, hatte Lane Davison ihre Beteiligung an dem körperlichen Missbrauch bereitwillig zugegeben. Außerdem war Lane vorgeworfen worden, sich gemeinsam mit ihrem verstorbenen Mann der Erpressung schuldig gemacht zu haben. Aber Lane hatte lediglich eingeräumt, das Video vom Dachboden entwendet zu haben, nachdem die Direktorin getötet worden war.

Mattie zweifelte Lanes Erklärung an, dass sie das Band habe verstecken wollen, weil ein Freund der Familie darauf zu sehen sei. Aus Gewissensbissen hatte Lane es nach eigener Aussage Jahre später ihrem Mann überlassen, damit er rechtliche Schritte unternähme. Angeblich hatte Lane geglaubt, dass sich Frank in aller Stille darum gekümmert habe und sich alle Parteien außergerichtlich geeinigt hätten. Glücklicherweise musste Mattie dieses Problem nicht lösen. Sie war hier heute nur Zuschauerin.

Draußen warteten zahlreiche Journalisten in einem abgegrenzten Bereich vor den Stufen des Gerichtsgebäudes, wo bereits Mikrofone für die Pressekonferenz aufgestellt worden waren. Mattie warf einen Blick auf ihre Uhr. Vielleicht war Breeze deshalb spät dran. Sich an den Massen der Zuschauer und Medien vorbeizudrängen, konnte sie aufgehalten haben.

Mattie hatte eigentlich damit gerechnet, Jameson hier anzutreffen. Dass ihn der Ausgang des Verfahrens nicht interessierte, konnte sie sich nicht vorstellen. Mattie war bei jeder Sitzung anwesend. Doch von Jameson war bis jetzt nichts zu sehen gewesen – was ihr das Herz schwer machte. Mattie bedauerte das Ende ihrer Beziehung immer noch, obwohl man darüber streiten konnte, ob ein paar Wochen schon eine Beziehung ausmachten, die zudem nie offiziell beendet worden war.

Seit Jameson aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatten sie in Kontakt gestanden, aber nur sehr oberflächlich und unbefriedigend. Mattie hatte ihn so oft angerufen, wie sie es gewagt hatte, sich nach seinem Gesundheitszustand zu erkundigen, Jameson hatte ihr Auskunft gegeben. Im Gegenzug hatte er sich gemeldet, um zu hören, wie es Mattie unter dem Druck der Öffentlichkeit ging, nachdem Jane sich den Behörden gestellt hatte. Mattie hatte vorgegeben, dass alles in Ordnung sei, obwohl der Umgang mit den Medien die Hölle war und es Mattie schmerzte, mit anzusehen, wie ihre stolze Freundin Jane in Ungnade fiel. Davon hatte sie Jameson nichts erzählt, und er hatte nicht nachgefragt. Natürlich hatte keiner von ihnen vorgeschlagen, sich zu treffen.

Mattie wusste, dass sie sich zu vorsichtig verhielt. Sie hatte schlicht Angst, zurückgewiesen zu werden. Bisher hatte Mattie geglaubt, dass ihr Geständnis den Graben zwischen ihnen aufgeworfen habe. Doch sie nahm wahr, dass Jameson ebenfalls zögerte. Er hatte behauptet, dass ihn das Schreiben des Buches über seinen Bruder ganz in Anspruch nehme. Viel weiter war er nicht darauf eingegangen. Dass er es beenden müsse, damit er den Teil seines Lebens abschließen und weitermachen könne, so hatte Jamesons Erklärung gelautet.

Das verstand Mattie. Auch sie musste weitermachen.

"Habe ich etwas verpasst?" Außer Atem, stürzte Breeze auf Mattie zu. Ihre Pupillen weiteten sich, als sie Matties glänzenden Nadelstreifenanzug bemerkte. "Du siehst toll aus für eine arbeitslose ehemalige Jugendstraftäterin. Was ist mit mir?"

Sie drehte sich einmal im Kreis und präsentierte ihren grünen Kaschmirponcho mit passendem Rock, die ihre Augen wie dunkle Schokolade glänzen ließen. "Wirke ich auf dich wie jemand, der Reisen verkauft? Das könnte mein neuer Job werden."

"Ich würde dich sofort einstellen", antwortete Mattie. Breeze dachte darüber nach, den Job zu wechseln. Wie sie vorausgesagt hatte, hatte das Interesse der Öffentlichkeit ihrem Spa den Todesstoß versetzt. Deshalb sah Breeze sich jetzt nach Alternativen um. Glückerweise war sie ein freier Mensch. Auch gegen sie wurde keine Anklage erhoben. Jane hatte nicht so viel Glück gehabt. Sie hatte gestanden und darauf bestanden, während der Verhandlung in den Zeugenstand zu treten.

In einer Ecke sah Mattie einen Mülleimer stehen und ging hinüber, um ihren Plastikbecher zu entsorgen. Breeze folgte ihr. Als Mattie sich zu ihr umdrehte, erkannte sie die Angst in Breezes Gesichtszügen.

"Geht es dir gut?", erkundigte sich Mattie.

Breeze griff nach ihrer Hand. Zuerst glaubte Mattie, dass Breeze wieder einmal ihre Fingernägel inspizieren wolle. Aber ihr Griff war fest. Er schmerzte.

"Was ist los?", wollte Mattie wissen.

"Was ist, wenn Tansy nicht das bekommt, was sie verdient? Mattie, was machen wir dann?"

"Natürlich bekommt sie, was sie verdient. Hab nur etwas Vertrauen."

"In was? Das Rechtssystem? Meinst du das ernst?"

Mattie erhielt keine Gelegenheit, ihr zu antworten. Denn in diesem Moment öffneten sich die Türen zum Gerichtssaal, das Zeichen, dass man bereit war, wieder zusammenzutreten. Mattie und Breeze schlüpften in den Verhandlungsraum und setzten sich auf eine hintere Zuschauerbank. Im Gerichtssaal herrschte absolutes Schweigen, als die zwölf Geschworenen ihre Plätze einnahmen und der Richter eintrat.

Die Urteilsverkündung konnte beginnen. Die Angeklagte, eine Frau in einem orangefarbenen Overall, wurde gebeten, sich zu erheben. Dann fragte der Richter die Geschworenen, ob sie zu einem einstimmigen Urteil gekommen seien.

"Das sind wir, Euer Ehren."

"Vielen Dank, meine Damen und Herren Geschworene. Würde der Gerichtsdiener mir bitte jetzt das gefällte Urteil überbringen."

Schweigend überflog der Richter das Stück Papier, das ihm der Gerichtsdiener ausgehändigt hatte. Er nickte und gab es zurück, damit der Gerichtsdiener es an die Sprecherin der Geschworenen, eine stämmige Frau in Blassrosa, weiterreichte.

"Würde die ordentlich gewählte Sprecherin der Geschworenen bitte das Urteil verlesen?"

Die Frau brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen. "Im Anklagepunkt des Mordes zweiten Grades", sagte sie, "befinden wir, das Volk von Kalifornien, die Angeklagte für schuldig."

Der Hammer fiel. Das Geräusch hallte wider wie ein Schuss.

Mattie griff Schutz suchend nach Breezes Hand. Obwohl sie damit gerechnet hatte, überraschte das Urteil sie. Die Angeklagte hatte es ebenfalls erwartet. Ihre Haltung war kerzengerade, der Gesichtsausdruck stoisch, obwohl die Traurigkeit die Falten um ihre Augen vertieft hatte. Die Frau in dem orangefarbenen Overall, die ins Gefängnis überführt werden würde, war Jane Mantle.

* * *

Einen Monat später

"Sie behaupten, gesehen zu haben, wie Tansy Black ihren Vater kaltblütig erschossen hat. Und trotz allem trägt die Mordwaffe überall Ihre Fingerabdrücke, Richterin Smith – und nur ihre Fingerabdrücke. Es ist im Übrigen Ihre Waffe, nicht wahr?"

Der leitende Anwalt aus Blacks Verteidigungsteam warf einen anklagenden Blick auf Mattie, die im Zeugenstand saß. Er war ein kleiner, drahtiger Mann mit störrischen Haaren, die so braun wie Schuhpolitur gefärbt waren. Mattie begegnete ihm nicht zum ersten Mal. Bei der Verhandlung eines Banküberfalls hatte er ein flammendes Plädoyer gehalten, trotzdem hatte das Berufungsgericht an dem ursprünglichen Urteil festgehalten und den Angeklagten schuldig gesprochen. Mattie hatte die Urteilsbegründung geschrieben. Offenbar hegte der Anwalt seitdem einen Groll gegen sie.

"Die Pistole wurde aus meinem Haus gestohlen, ja."

Verächtlich schnaubte der Rechtsanwalt. "Euer Ehren, würden Sie die Zeugin bitte darauf hinweisen, dass sie nur die Fragen beantworten soll, die ich stelle?"

Den verhandlungsführenden Richter kannte Mattie nur vom Hörensagen, doch sie schätzte seine Entscheidungen und seinen Sinn fürs Fair Play. Natürlich musste er dem Einwand des Anwalts stattgeben. Aber Mattie hatte keine Chance, die Frage nach ihrer gestohlenen Pistole zu beantworten, weil der Anwalt gleich die nächste stellte.

"Die Pistole ist unter Ihrem Namen registriert, und Sie waren in David Grace' Haus, um dort ein Video zu suchen, von dem Sie hofften, es würde Sie eines Mordverdachts entheben, stimmt das?"

"Ja."

"Und Sie waren wie ein Schulmädchen verkleidet, Richterin Smith? Sie haben David Grace angelogen, wollten ihn täuschen, ihn dazu bringen, Verbrechen zu gestehen – ohne den geringsten Beweis, dass er sie begangen hatte?"

"Einspruch, Euer Ehren." Der Assistent des Bezirksstaatsanwalts sprang auf. "Das sind mehrere Fragen, und Richterin Smith sitzt hier nicht auf der Anklagebank."

Dem Einwand wurde stattgegeben, und Mattie versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen. Wie sich herausgestellt hatte, gab es keinen Beweis dafür, dass David Grace an irgendetwas beteiligt gewesen war. Wenn er jemals auf dem Video zu sehen gewesen war, hatte Tansy jeden Hinweis darauf gelöscht. Und schlimmer noch, die Wanze, die Mattie in Grace' Villa getragen hatte, war wenig hilfreich. Es war nichts aufgenommen worden, das als Beweis dienen konnte. Grace hatte eine Art Sperre auf seinem Anwesen installiert, das die Übertragung gestört hatte.

"Euer Ehren", beharrte Blacks Anwalt, "ich versuche zu beweisen, dass die Glaubwürdigkeit der Zeugin zweifelhaft ist."

Tansy Black beobachtet mich, ging es Mattie durch den Kopf, mit der Intensität eines Laserstrahls durchbohrt mich ihr Blick, seit ich im Zeugenstand bin. Die Augen der Frau schienen vor eisiger Wut zu brennen, offenbar wegen der hochgradigen Demütigung, auf der Anklagebank zu sitzen und sich so ausfragen lassen zu müssen. Tansys Augen waren so dunkel und verstört wie ihre Seele. Mattie hatte sie während des Prozesses gemieden. Jetzt erwiderte sie Tansys flammenden Blick absichtlich, Laser gegen Laser – und war überrascht von dem, was sie sah.

An dem Abend in Grace' Villa hatte Mattie nur Ivys zarte Gestalt gesehen. Jetzt, im grellen Licht des Gerichtssaales, wirkte Tansy Black wie eine jüngere Version von Millicent Rowe. Sie sah ihrer Mutter viel ähnlicher als der Halbschwester – so ähnlich, dass sie leicht der Geist hätte sein können, der Mattie auf Frank O'Neills Party einen großen Schrecken eingejagt hatte.

Mattie entzog sich Tansys böser Energie und entdeckte einen anderen irritierenden Anblick. Jameson Cross. Am heutigen Verhandlungstag war er als Zeuge der Anklage aufgetreten. Jetzt saß er auf der entsprechenden Seite der Galerie und beobachtete Mattie, allerdings nicht ohne Mitgefühl. Alles an seinem Gesichtsausdruck verriet Besorgnis, und das war schockierender für Mattie als Tansys Hass.

Bei der Erkenntnis, wie sehr sie allein seine Unterstützung und seine Freundschaft brauchte, schmerzte Mattie das Herz. Bis zu diesem Punkt in ihrem Leben hatte sie jede Katastrophe allein bewältigen können, manchmal gemeinsam mit ihren Freundinnen, aber immer mit dem Gefühl, dass sie verantwortlich für ihre Sicherheit war. Mattie, der Pitbull, Mattie, die Amazone. Sie hatte Ivy beschützt, Jane, sogar Breeze. Jameson, Ronald Langston und natürlich Jaydee. Jeden in ihrem Leben hatte Mattie beschützt.

Diese Katastrophe hingegen war anders, in einer Hinsicht, die Mattie noch nicht begriffen hatte. Der innere Aufruhr hatte den Panzer um ihren berühmten eisernen Willen eingerissen und sie verändert. Sie war jetzt abhängig von Menschen, sie brauchte sie. In den Tiefen ihres Seins spürte sie dieses Bedürfnis, und Jameson gehörte zu den Menschen, ohne die Mattie es nicht schaffte.

Die Augenbinde funktionierte nicht mehr. Mattie war erwachsen geworden.

Auch sie hatte mit Jameson gelitten, als er die Tortur vor Gericht durchstand. Sie waren beide als Zeugen in der Anhörung aufgetreten, aber ihre Aussagen hatten die Geschworenen nicht davon überzeugt, dass Tansy wegen Entführung angeklagt werden sollte. Gott sei Dank stand Tansy wegen Mordversuchs unter Anklage. Den hatte sie begangen, als Jameson aus dem Kofferraum von Matties Auto geflüchtet war. Für die Qualen allerdings, die Tansy Jameson während der Entführung zugefügt hatte, würde sie nicht bestraft werden.

Es machte Mattie traurig. Ausgerechnet der Mann, der sich so stark dafür einsetzte, dass anderen Gerechtigkeit widerfuhr, hatte selbst kein Recht bekommen.

Die Stimme des Anwalts holte Mattie zurück ins Geschehen. "Ist es nicht so gewesen, Richterin Smith", sagte er und griff sie von einer anderen Seite an, "dass ihr Knie nachgegeben hat? Sie sind vor Schmerzen zu Boden gefallen und konnten nichts mehr sehen, nicht wahr? Ja oder nein, Richterin Smith?"

Mattie saß in der Falle. Jede Antwort würde seine Annahme bestätigen, dass sie nichts gesehen hatte. Nach kurzem Zögern warf Mattie einen Blick zu dem Tisch der Anklage und wartete auf einen Einspruch, der nicht kam. Der Assistent des Staatsanwalts und sein Berater waren in ein Gespräch verstrickt.

"Ja oder nein, Richterin Smith. Was denn nun?"

"Ich bin früher gefallen", antwortete Mattie. "Ich lag am Boden und habe gesehen …"

Er schnitt Mattie mit einer Handbewegung das Wort ab. "Danke, Euer Ehren. Das ist alles."

Trotzdem sprach Mattie weiter, nur nicht zu ihm. Sie richtete sich direkt an die Geschworenen. "David Grace bat Tansy Black um die Waffe, und sie hat ihn kaltblütig erschossen, ihren eigenen Vater. Ich habe alles gesehen. Ich sah, wie er stürzte, ich sah, wie er blutete und ich sah, wie er starb."

Der Anwalt wirbelte zu Mattie herum und schoss ihr einen Blick zu, der fast so furchterregend wie der von Tansy war. Beiden hätte Mattie nicht in einer dunklen Gasse begegnen wollen.

"Euer Ehren, ich möchte das streichen lassen", rief er.

Während sich der Verteidiger über Matties unerhörte Tricks im Gerichtssaal ausließ, warf sie noch einen Blick zu Jameson. Sie konnte einfach nicht anders. Diesmal lächelte er und hob den Daumen.

Das bedeutete ihr mehr, als er ahnen konnte.

* * *

Zwei Monate später

"Ruhe im Gericht!" Der Hammer fiel mehrere Male, als der Richter versuchte, den beinah überfüllten Gerichtssaal zum Schweigen zu bringen. "Das Urteil wird nicht verlesen, bis ich hier eine Stecknadel fallen und dreimal auf dem Boden aufschlagen hören kann. Nehmen Sie bitte Platz."

Hinten in der Galerie saß Jameson und warf einen Blick auf die Uhr. Nur vier Stunden hatten die Geschworenen gebraucht, um sich zu beraten. Sie waren schnell zu einer Entscheidung gekommen, Jameson wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. Er konnte aus der Entfernung sehen, wie Mattie Smith ebenfalls einen Blick auf die Uhr warf.

Sie wirkte zerbrechlich auf ihn, so als hätte sie Gewicht verloren und wahrscheinlich sogar noch etwas Essentielleres als das, einen Orientierungssinn oder Lebensinhalt. Wahrscheinlich war es nur Einbildung. Seit geraumer Zeit hatte Jameson nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie rief nicht mehr an, und die Distanz zwischen ihnen erschien ihm allmählich unüberwindbar. Er hatte nicht aufgehört, an sie zu denken, wollte sich aber nicht aufdrängen und war beschäftigt gewesen.

Das Buch über Billy zu beenden, hatte an Jameson gezehrt. Es war ein rauer Weg, den er allein hatte beschreiten müssen, und er hatte unterwegs einige Dämonen ausgetrieben. Sicher nicht alle, doch sein Leben begann wieder, mehr Sinn zu ergeben. Er fragte sich, ob es Mattie ähnlich erging.

Vor Kurzem hatte ihr Assistent Jaydee wegen eines seiner Bücher bei Jameson angerufen. Beiläufig hatte Jameson sich nach Mattie erkundigt. Jaydee hatte nur geantwortet, dass sie immer noch freigestellt sei. Was Mattie tat, hatte Jaydee nicht erzählt, nur dass er sie höllisch vermisse. Das konnte Jameson nachvollziehen.

Er fragte sich, ob Matties Zurückhaltung mit ihren Freundinnen zu tun hatte. Die frühere First Lady war im Club Fed in Danbury untergebracht, einem Gefängnis mit niedrigster Sicherheitsstufe, in dem Frauen wie die Millionärsgattin Leona Helmsley ihre Zeit absaßen und wo Martha Stewart gelandet wäre, wenn sie es sich hätte aussuchen können. Den Papieren zufolge war Janes Anklage auf Totschlag reduziert worden. Davon abgesehen, hatte sie abgelehnt, in Berufung zu gehen. Trotzdem bezweifelte Jameson, dass Jane mehr als vier Jahre absitzen müsste, abzüglich der Zeit für gute Führung. In einem Zeitungsartikel hatte Jameson gelesen, dass Jane Mantle das Beste aus ihrer Strafe mache, Frauengruppen organisiere und sowohl für besseren Unterricht als auch für eine Berufsausbildung der Insassinnen kämpfe. Was aus Breeze Wheeler geworden war, wusste Jameson nicht. Er konnte sich vorstellen, dass sie einfach wie jeder Bürger der Vereinigten Staaten irgendwo ihr Glück versuchte.

Irgendwelchen Groll hatte Jameson nie gehegt, und er hatte den einsamen Mädchen inzwischen vergeben; ihre damalige Tat wertete er als Versuch, sich vor Millicent Rowe zu schützen. Sie waren ängstliche Kinder gewesen, die um ihr Leben gekämpft hatten. Sich selbst zu vergeben, war Jameson nicht so leichtgefallen.

"Danke", sagte der Richter und riss Jameson damit aus seinen Gedanken. Im Gerichtssaal war mittlerweile Ruhe eingekehrt. "Jetzt können wir weitermachen." Der Richter fragte, ob die Geschworenen in allen Punkten zu einem einstimmigen Urteil gekommen seien. Daraufhin bejahte der Sprecher und reichte dem Gerichtsdiener das Urteil. Nachdem der Richter die Worte gelesen hatte, bat er den Sprecher, das Urteil laut zu verlesen.

Die Stimme des Geschworenen hallte durch den schweigenden Saal. "Im Anklagepunkt des Mordes ersten Grades befinden wir die Angeklagte für nicht schuldig. Im Anklagepunkt des versuchten Mordes befinden wir die Angeklagte für … nicht schuldig."

Jameson war zu geschockt, um zu reagieren. Tansy Black kam in beiden Punkten davon. In einer vernünftigen Welt schien es nicht möglich zu sein, dass Jane Mantle Zeit für ein Verbrechen von vor zwanzig Jahren absaß, wohingegen Tansy Black freikam. Offenbar zweifelten die Geschworenen daran, dass Tansy ihren Vater getötet habe, trotz Matties Aussage. Sie folgten der These der Verteidigung, dass es ein Unfall gewesen sei: Der Schuss habe sich gelöst und ihn tödlich verletzt, als Grace versucht habe, Tansy zu entwaffnen.

Jameson konnte das Flimmern in seinem Kopf nicht stoppen. Augenscheinlich waren die Geschworenen auch nicht davon überzeugt, dass Tansy versucht habe, ihn umzubringen. Dass Jameson auf Tansy zugestürzt war, hatte der Verteidiger genutzt, um Tansys Angriff als Selbstverteidigung darzustellen. Und weil der Anklagepunkt der Entführung fallen gelassen worden war, war es schwierig gewesen, ein Motiv für den versuchten Mord zu finden. Hier ging es um die Todesstrafe. Bei Kapitalverbrechen neigten die Geschworenen dazu, sich darauf zu stützen, dass im Zweifel für den Angeklagten entschieden wurde. Trotzdem konnte Jameson nicht glauben, was er gehört hatte.

Und das konnte auch niemand sonst. Der ganze Gerichtssaal war in Aufruhr. Nur Mattie hatte sich nicht bewegt. Jameson wusste, dass sie genauso schockiert sein musste wie er. Schon wollte er zu ihr gehen und fragen, ob sie in Ordnung sei. Sie sah nicht so aus. Er wollte hingehen. Aber er tat es nicht.