23. KAPITEL

Rowe-Akademie

Winter 1981

Nichts gebrochen, außer vielleicht ein paar Rippen.

Mattie zuckte zusammen, als sie die weiche Masse unter ihrer linken Brust berührte. Die Schmerzen waren unerträglich. Immerhin wusste Mattie, dass es vorübergehen würde. Schon früher einmal hatte sie sich die Rippen gebrochen, damals war nach ein bis zwei Wochen alles geheilt. Jetzt lag sie ausgestreckt auf dem Bett im Schlafzimmer, die Augen geschlossen, und untersuchte den Rest ihres Körpers, so viel sie abtasten konnte, ohne aufzustehen.

Überall hatte sie Schwellungen und blaue Flecken. Ihr Mund war blutig. Sie konnte das Eisen schmecken. Sogar die Haut ihres Gesichts reagierte empfindlich bei der Berührung.

"Verdammte Bastarde." Sie stieß stöhnend die Worte hervor, überzeugend klang es nicht. Rachegedanken kosteten zu viel Kraft, und Mattie tat schon das Atmen weh.

In der Dunkelheit öffnete sie die Augen. Sofort war ihr klar, dass sie sich in ihrem kleinen Zimmer befand. Sie konnte den Sessel mit der abgeblätterten Farbe nicht sehen oder die Kommode mit dem fehlenden Griff. Aber sie konnte die Bananenschale auf dem Nachttisch neben dem Bett riechen, und wenn sie zu schnell aufstände, würde sie über einen Klamottenhaufen stolpern. Ihr Zimmer. Es konnte keine Preise für Ordnung gewinnen, besonders wegen des Krams, den Mattie unter die Matratze stopfte, aber es war ihres.

Als sie dort lag, zu verängstigt, um sich zu bewegen, wurde ihr bewusst, dass sie während der Züchtigung ohnmächtig geworden sein musste und dass sie jemand einfach hier abgelegt hatte. Sie würden das als Zeichen ihrer Niederlage werten. Trotzdem war Mattie nicht besiegt worden. Nichts konnte das. Nichts würde das jemals können. Sogar vom Tod würde sie nicht besiegt werden, solang ihr Geist nicht gebrochen wäre.

Irgendwann hatte sie erkannt, dass ein Teil von ihr unantastbar war, egal welcher Schaden ihr zugefügt wurde. Es gab einen Ort, an dem nichts Schlimmes passieren konnte. So konnte sie überleben. Jedoch konnte ihr dort auch nichts Gutes widerfahren. Sie zahlte einen Preis für diesen Schutz. Und trotzdem, ob es nun gut war oder schlecht, hatte sie sehr früh gelernt, sich auf nichts einzulassen, zumindest nicht auf den Feind. Sie konnte es nicht. Ein Teil von ihr weigerte sich, sich verführen, quälen oder weggeben zu lassen. Und es hatte etwas damit zu tun, dass Mattie nie wie ihre Mutter sein wollte, die alles aufgegeben hatte.

Dir wird es gut gehen, Baby, wenn du erst einmal gelernt haben wirst, so sanftmütig und hübsch zu sein wie ich. Männer lieben das.

Die Männer, mit denen Lela Smith zusammen war, missbrauchten sie auf die eine oder andere Art. Der letzte schlug ihren Kopf gegen eine Wand, woraufhin sie in ein Koma fiel, aus dem sie nie mehr erwachte. Lange vor dem tragischen Ende ihrer Mutter wusste Mattie, dass sie selbst nicht sanftmütig und hübsch sein wollte. Diese Entscheidung traf sie im Alter von elf Jahren, als einer der netteren Freunde der Mutter ihr das Gesicht streichelte und sie fragte, ob sie überall so weich sei. Mattie ging sofort zu ihrer Mutter und schlug so vehement Alarm, dass sie direkt zu ihrer Tante gebracht wurde.

Mattie hörte ein seltsames Klicken und setzte sich unter qualvollem Stöhnen auf.

Sie hielt sich die Rippen und griff unter das Kissen, wo sie für den Notfall einen alten Kreuzschlüssel versteckt hielt, der aus dem Werkzeugraum stammte. Blut rauschte ihr in den Ohren und betäubte sie, als sich die Tür öffnete. Ein Gesicht erschien im Türrahmen. Mattie konnte nicht erkennen, wer es war. Der Mond warf ein gespenstisches Licht auf den Eingangsbereich.

"Mattie? Bist du in Ordnung?"

"Scheiße." Mattie ließ die Ellbogen sinken und keuchte vor Schmerzen, als Jane und Breeze in ihr Zimmer huschten. "Ihr hättet mich fast umgebracht, so habt ihr mich erschreckt. Ich hab mir wahrscheinlich noch eine Rippe gebrochen."

"Mattie, du siehst furchtbar aus. Oh, mein Gott!"

Breeze kam als Erste ans Bett. Sie griff in den BH unter ihrer Bluse und zog ein Taschentuch hervor. Vorsichtig tupfte sie getrocknetes Blut von Matties Mund.

Jane knipste die Nachttischlampe an, die ein flackerndes gelbes Licht in den Raum warf. "Wie sieht dein Gegner aus?", fragte sie.

Sie grinsten Mattie an, die wieder zu keuchen anfing. Gott, es schmerzte wie die Hölle auf Erden. Jede Bewegung tat weh. Schnaufend rollte sie sich auf den Rücken. Sie konnte nicht atmen, und ihre Lippen brannten. Breezes Berührung fühlte sich wie Salz in einer offenen Wunde an.

Jane setzte sich neben Mattie auf das Bett und begann, ihr die Bluse aufzuknöpfen. "Lass mal sehen, wie schlimm es ist."

Mattie stieß ihr die Hand weg. "Lass das. Mir geht's gut."

"Sei ruhig", widersprach Jane. "Du bist viel zu fertig, um zu wissen, ob du verletzt bist."

Jane gehörte zu den wenigen an der Rowe-Akademie, die keine Angst vor Mattie hatten. Sie war nicht so dumm, sie zu unterschätzen, trotzdem scheute sie im Gegensatz zu den anderen keine Konfrontation mit ihr.

Mattie fluchte, als ihr Jane die Bluse vollständig aufgeknöpft hatte. Sie wusste, dass es schlimm war. Sie hatte die Schwellungen und die Blutergüsse gespürt. Aber sie hatte nicht erwartet, einen lilafarbenen See zu sehen. Der ganze Bauch zeigte zerrissenes Gewebe, und die Blutergüsse liefen unter der Haut zusammen.

Jane wurde blass, und Breeze entfuhr ein seltsames kleines Wimmern.

"Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen", sagte Jane. "Du könntest innere Blutungen haben."

"Ivy? Bist du das?" Mattie hatte ein leichenblasses Gesicht entdeckt, das hinter den beiden Mädchen aufgetaucht war. Ivy musste gerade ins Zimmer geschlichen sein. Beim Anblick von Matties Verletzungen war sie entsetzt zurückgewichen. Mattie wünschte, die Freundin hätte das nicht sehen müssen. Sie wollte nicht, dass sich Ivy dafür verantwortlich fühlte.

"Ich gehe nirgendwo hin." Mattie warf Jane den entschlossensten Blick zu, zu dem sie fähig war, hauptsächlich Ivys wegen. "Es sind nur Schrammen. Sie werden heilen."

Breeze fand ihre Stimme wieder. "Wir brauchen Hilfe", sagte sie, als ob sie gerade erst bemerkt hätte, welchen ungleichen Kampf sie führten. "Wir können es nicht mit Miss Rowe und ihrer Todesschwadron aufnehmen. Wir schaffen es nicht allein."

Erfolglos versuchte Mattie, sich aufzusetzen. Ihr Körper fühlte sich so steif an, als würde er in zwei Teile zerbrechen, wenn sie nicht stillhielt. Die Starre wurde von Minute zu Minute schlimmer. Bald wäre sie eine lebende Leiche.

"Wem auch immer wir davon erzählen würden, er würde direkt zu Miss Rowe gehen", warnte Mattie Breeze und Jane. "Wenn sie herausfindet, wer sie verraten hat, wird sie es wieder an mir auslassen. Oder an Ivy. Oder an einer von euch! Wir können es niemandem von der Schule erzählen. Miss Rowe ist die Schule."

"Dann musst du weglaufen", sagte Breeze. "Du kannst nicht hierbleiben."

Erschöpft senkte Mattie den Kopf und hoffte, dass ihr nicht übel würde. Der Schmerz war grauenhaft. Jane und Breeze schwiegen, was Mattie hoffen ließ, dass sie sie davon überzeugt hatte, keine Hilfe zu holen.

"Versprecht mir, dass ihr niemandem erzählt, wie schlecht es mir geht", sagte Mattie, fast ohne zu bemerken, dass sie die anderen anflehte. "Ich will nicht, dass diese Arschlöcher aus der Oberstufe denken, sie hätten gewonnen."

Breeze kämpfte mit den Tränen. "Sie haben nicht gewonnen, und es geht nicht um die Mädchen aus der Oberstufe. Es ist Rowe. Sie ist diejenige, die sie angestachelt hat."

Mattie legte den Kopf wieder auf das Kissen und schloss mit einem erleichterten Seufzer die Augen. Der Raum hatte einen muffigen Geruch, durchmischt mit dem Aroma überreifer Bananen, und das war seltsam tröstlich. Darauf konzentrierte sie sich eine ganze Weile, sie hielt sich an allem fest, was weniger schmerzhaft war. Ihre Mutter hatte gelegentlich Bananen mit nach Hause gebracht, und Mattie hatte sie dann in Scheiben geschnitten mit einer großen Schüssel Cornflakes gegessen. Sie hatte sie selbst geschnitten. Das war eine ihrer schöneren Kindheitserinnerungen.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah Mattie, dass die drei sie beobachteten.

"Was machen wir jetzt?", fragte Jane.

Sie sorgen sich nicht nur um mich, stellte Mattie fest. Auf unterschiedliche Art waren sie alle von ihr abhängig. Die Zukunft der Freundinnen war untrennbar mit ihrer verbunden, und was auch immer sie tun würde, betraf auch sie. Jetzt gerade war sie die Schwache. Wenn sie bliebe, mussten sie einen Weg finden, sie zu beschützen. Mattie konnte die Entscheidung nicht aufschieben.

"Ich verschwinde von hier", sagte sie. "Heute Nacht."

Blankes Entsetzen trat in Ivys Blick. Mattie sah, wie es geschah. In diesem Moment wurde ihr klar, dass Ivy sich immer als Opfer betrachten würde. Für sie war Mattie nicht schwach und verletzlich, nicht einmal jetzt. Mattie fühlte sich, als würde sie ihre Freundin im Stich lassen, aber was sollte sie tun? Sie konnte nicht bleiben, Ivy mitzunehmen war genauso unmöglich. Mattie wusste nicht einmal, ob sie die Stärke fände, um allein aus Rowe zu fliehen. Und überhaupt, es würde allen besser gehen, wenn sie weg wäre. Sie hatte ein Problem mit Autoritätspersonen. Sie war aggressiv. Und dagegen konnte sie nichts tun. Das machte es für alle nur schlimmer.

"Warte hier!" Mattie packte Ivy am Arm und erteilte die Anweisung in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Sie war immer noch sauer, weil Ivy aus dem Schlafzimmer geschlichen und ihr heute Abend in die Stadt gefolgt war. Bewusst hatte Mattie den langen Weg gewählt, die gepflasterte Straße entlang am Rande der Halbinsel. Durch die Wälder wäre es kürzer gewesen, aber sie wollte sich nicht verirren, und sie war sich nicht sicher, wie viel Schmerz ihr Körper noch ertragen konnte. Ein böser Sturz, und sie wäre ein Krüppel gewesen. Vornüber gebeugt wie ein Invalide, ging Mattie. Der Schmerz hatte etwas nachgelassen. Vielleicht war es das Adrenalin, das durch ihren Körper schoss.

Bis sie die große Kurve erreicht hatte, die direkt in den Ort führte, hatte Mattie Ivy nicht bemerkt. Sie waren zu weit von Rowe entfernt, deshalb musste sie sie mitnehmen.

"Warum kann ich da denn nicht mit dir reingehen?", fragte Ivy.

In den Büschen vor der Polizeiwache versteckten sie sich, und es war spät, weit nach Mitternacht. Mattie hatte Ivy bereits von ihrem Plan erzählt, bei der Polizei auszusagen. Das wäre sinnvoller, als wegzulaufen, weil sie nirgendwohin gehen konnte. Sie würde auspacken und hatte Angst davor. Aber sie wollte nicht, dass Ivy das mitbekäme. Mattie war aus ganzem Herzen davon überzeugt, dass Miss Rowe ins Gefängnis gehörte. Bisher waren Matties einzige Erfahrungen mit der Polizei hässliche Szenen – wie sie zu ihrem Wohnwagen gekommen waren, weil ein Kerl bei Matties Mutter Randale gemacht hatte.

"Sie glauben mir vielleicht nicht", flüsterte Mattie, "und es macht keinen Sinn, dich auch da reinzuziehen. Du bleibst hier. Wenn ich sicher bin, dass sie uns helfen, sage ich ihnen, wo du bist."

Ivy schüttelte Matties Hand ab. "Sie werden dir nicht glauben", sagte sie. "Nicht, wenn du da allein hineingehst. Ich kann dich unterstützen. Dann sind wir zu zweit, und sie müssen uns zuhören."

An dem eigenartigen Tonfall von Ivys Stimme erkannte Mattie, dass es keinen Sinn hatte, weiter mit ihr zu diskutieren. Es gab nur zwei Möglichkeiten: sie k.o. zu schlagen und sie im Gebüsch liegen zu lassen oder sie mitzunehmen.

"Na, dann komm", sagte Mattie. "Ich hoffe, du hast recht."

"Hat Miss Rowe dir persönlich diese schlimmen Verletzungen zugefügt?"

Die Polizeibeamtin, die Mattie und Ivy am Tisch gegenübersaß, sah aus wie ein Mann. Sie hatte breite Schultern, derbe Gesichtszüge, ein Grübchen im Kinn und fluchte tatsächlich, als sie Matties Verletzungen sah. In dem Moment wagte Mattie zu hoffen, dass die Beamtin ihnen helfen würde.

Die drei waren allein in einem Gesprächszimmer, in dem die Polizistin Mattie seit einer Stunde Fragen stellte. Bis jetzt hatte Ivy nichts gesagt, aber das würde sich noch ändern, davon war Mattie überzeugt. Wenigstens hatten sie sie nicht getrennt. Mattie war sich jedoch nicht sicher, ob jemand Ivys eisernen Griff um die Lehnen der Stühle hätte lösen können.

"Nicht diese Verletzungen", sagte Mattie und zeigte auf ihren Bauch. "Das war die Todesschwadron, eine Gruppe Schülerinnen, die Miss Rowe benutzt, um uns zu drangsalieren. Aber Miss Rowe war diejenige, die den Todesschwadron in ihr Büro ließ und sie anwies, mir eine ordentliche Lektion zu erteilen. Sie hat es veranlasst."

"Hat sie dich jemals eigenhändig verletzt?"

Mattie öffnete den Mund und entblößte die Narben auf ihrer Zunge.

Die Polizistin war verblüfft. "Das hat sie gemacht? Wie?"

"Ich bin mir nicht sicher. Ich war bewusstlos." Mattie erzählte, wie Miss Rowe sie mit einem Tee ausgeschaltet und danach in die Abseite gesteckt hatte. "Meine Zunge war geschwollen und hat geblutet. Es könnte Säure oder Lauge gewesen sein."

"Kannst du das beweisen? Hat jemand etwas gesehen? Würden sie das bezeugen?"

Die Fragen erwischten Mattie kalt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Todesschwadron zu ihren Gunsten aussagen würde. "Ich denke, da steht mein Wort gegen das von Miss Rowe. Aber es gibt einen Mann, der mich aus der Abseite gezogen hat – der Gärtner."

"Und hat er gesehen, wie Miss Rowe dich da hineingesteckt hat?"

Mattie zögerte. "Nein."

"War der Gärtner einer der Männer, die dich missbraucht haben?"

"Nein."

Die Frau warf einen Blick auf Ivy. "Wie ist es mit dir? Wurdest du missbraucht?"

Als Ivy nicht antwortete, wusste Mattie, dass es vorbei war. Sie konnten die anderen zwei Mädchen nicht mit hineinziehen. Schließlich war sie weggelaufen, um Breeze und Jane zu schützen.

"Hat irgendjemand etwas gesehen?", fragte die Polizistin Mattie. "Irgendjemand, der zu deinen Gunsten aussagen würde?"

"Ich glaube nicht."

Ivy vergrub das Gesicht in den Händen. Mattie sank auf dem Stuhl zusammen.

"Schicken Sie uns nicht zurück", flehte Mattie.

Die Polizistin versuchte, sie zu beruhigen. "Niemand schickt euch irgendwohin zurück. Du brauchst eine medizinische Behandlung, junge Dame, und dann sehen wir zu, dass ihr beide eine warme Mahlzeit und ausreichend Schlaf bekommt. Morgen werdet ihr euch schon besser fühlen. Und dann haben wir auch die Gelegenheit, Miss Rowe einen Besuch abzustatten."

Ivy rieb sich die Augen und flüsterte: "Sie wird lügen. Sie wird nichts zugeben."

Jemand klopfte an die Tür und öffnete vorsichtig. Eine junge Frau in ziviler Kleidung, die vielleicht eine Sekretärin war, bat die Polizistin hinaus.

"Bin gleich zurück", sagte sie zu Mattie und Ivy, als sie aufstand. Bevor sie sich abwandte, zog sie eine Handvoll winzige Schokoriegel aus der Tasche und schob sie den Mädchen hinüber. "Da habt ihr schon mal eine Kleinigkeit, während ich weg bin."

Während Mattie die Verpackung eines Schokoriegels aufriss, bemerkte sie, dass die Tür nur angelehnt war. Sie legte einen Finger auf die Lippen, um Ivy zu verstehen zu geben, dass sie ruhig sein sollte. Um einen Blick in den Flur zu werfen, lehnte sich Mattie zurück. Durch den Spalt sah sie, wie die Frau, der sie alles erzählt hatte, mit einem Mann redete. Er trug einen dunklen Anzug, und etwas an seiner Art ließ Mattie annehmen, dass er der Chef war. Obwohl sie nicht erklären konnte, warum, zweifelte Mattie nicht daran. Es war nur ein Gefühl. Abgesehen davon, war der Flur leer. Die Sekretärin war verschwunden.

Mattie konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen. Er stand mit dem Rücken zu ihr, der Polizistin zugewandt. Aber als er die Hand hob, blitzte ihr die goldene Farbe eines sternförmigen Objektes auf seinen Manschettenknöpfen entgegen.

Augenblicklich stand Mattie auf, schloss die Tür und drehte sich um, den Körper dagegengepresst. Mit Wucht hämmerte ihr das Herz gegen die Rippen. "Ivy, wir müssen hier verschwinden. Sie spricht mit einem von Miss Rowes Männern. Es ist der, den ich angespuckt habe. Er ist hier!"

Ohne zu zögern, stopfte Ivy den unangerührten Schokoriegel in die Tasche und stand auf. "Wie sollen wir hier rauskommen? Es gibt doch nur die eine Tür."

Mattie sah keine Fluchtmöglichkeit, außer um ihr Leben zu rennen. Wenn sie ein Ablenkungsmanöver inszenieren könnte, bei dem Ivy entkommen könnte … Mattie würde so tun können, als sei sie schwer verletzt und falle plötzlich in Ohnmacht.

Sie winkte Ivy zu sich und schilderte ihr flüsternd den Plan. Die arme Ivy sah so aus, als würde sie ohnmächtig. Mattie griff sie an den Händen und sprach ihr in einem tiefen, ernsten Tonfall Mut zu. Schließlich nickte Ivy. Sie würde es tun. Sie war bereit. Doch als Mattie am Griff zog, ließ sich die Tür nicht öffnen. Sie war verschlossen.

Abgeschlossen, von außen.

Im freien Fall. Mattie fühlte sich, als würde sie durch das All rasen. Verzweifelt sah sie Ivy an, keine von ihnen sagte ein Wort. Sie wussten es. Es war alles vorbei. Schockiert gingen sie zurück zu den Stühlen und setzten sich einander zugewandt hin, so fix und fertig, dass sie kaum atmen konnten. Nach einer Weile drückte Mattie Ivys Hände, um sie zu trösten. Welche Alternative hatten sie auch, als sich gegenseitig Halt zu geben?

Etwas später wurde die Tür geöffnet und Mattie sah hoch. Miss Rowe betrat den Raum und schloss hinter sich zu. Sie war allein – für Mattie ein ganz schlechtes Zeichen.

Die Direktorin kam zu dem Tisch, und ihr Regenmantel wogte, als sie ihnen gegenüberstand. "Ich habe schlechte Neuigkeiten für euch beide", sagte sie mit sanfter Stimme. "Es gab einen Einbruch in der Rowe-Akademie. Heute Abend, nachdem alle schlafen gegangen waren, wurden die Schaukästen eingeschlagen und kostbare Rowe-Familienerbstücke gestohlen."

"Wir haben nichts geklaut!" Mattie verzog das Gesicht, als ihr Ivys Fingernägel in die Haut stachen.

"Ich glaube, dass ihr zwei es wart. Als mich die Polizei mit der Nachricht weckte, dass ihr hier seid, wusste ich, dass meine Räuber gefasst sind. Hast du deinen Rucksack dabei, Mattie? Wo ist er?"

Automatisch schaute Mattie zu dem Tisch, auf dem die Polizistin die Taschen abgestellt hatte. Miss Rowe folgte ihrem Blick und nickte. "Sehr gut", sagte sie.

Mattie sagte nichts. Der Rucksack war gemäß Schulordnung mit ihrem Namen versehen. Sie hatte nichts dagegen, dass Miss Rowe nachsah. Gestohlen hatte sie nichts, der Inhalt würde nichts anderes belegen.

Verwirrt beobachtete sie, wie Miss Rowe den Reißverschluss der Tasche öffnete und etwas aus ihrem Regenmantel zog. Schnell wischte die Direktorin ihre Fingerabdrücke mit einem Taschentuch ab, schob die Gegenstände nach innen und zog den Reißverschluss wieder zu.

"Was haben Sie da gemacht?" Mattie rang um Fassung. "Was haben Sie in meinen Rucksack getan?"

Miss Rowe drehte sich um und zog den Mantel fest um ihren Körper. Ihre Lippen zitterten, sie war unfähig zu lächeln. "Du bist so ein verdorbenes Mädchen", sagte sie. "Du besitzt die Dreistigkeit, mich zu bestehlen, über mich Lügen zu verbreiten, und jetzt beschuldigst du mich auch noch? Meine Erbstücke sind da in deiner Tasche. Du hast sie entwendet."

Keines der Mädchen sprach. In Gedanken schrie Mattie: Sie haben nichts in meiner Tasche gefunden. Sie haben dort etwas hineingetan.

"Sie wissen alles über dich, Mattie." Miss Rowes Stimme war kaum hörbar, als sie zurück an den großen Tisch trat, in ihren Augen brannte der Hass. Wahrscheinlich hätte sie Mattie gern direkt hier in diesem Raum ermordet und tat es nur nicht aus Angst, gehört zu werden. Undurchsichtige Fenster oder transparente Spiegel gab es in dem Verhörzimmer nicht, aber ein Mikrofon konnte dort versteckt sein.

"Ich habe ihnen erzählt, wie du die anderen Mädchen drangsalierst und sie in Kämpfe verwickelst", sagte sie. "Wie du aus Türmen springst und dich selbst verletzt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Und Ivy mit ihrer Ess- und Verhaltensstörung. Sie wissen, wie krank und selbstzerstörerisch ihr seid. Ich habe ihnen erzählt, was für eine konstante Qual ihr für mich bedeutet, obwohl ich mich so sehr bemühe, euch zu helfen."

Ivy wimmerte, woraufhin Mattie den Griff um die Hand des anderen Mädchens sofort verstärkte. Sie warf Miss Rowe einen Blick zu und versuchte, den schier unbändigen Hass zu verstecken. Am liebsten wollte sie der Frau an die Gurgel gehen und sie in Stücke reißen. Dass die Direktorin vor nichts zurückschreckte, hätte sie wissen können, auch nicht davor, ihnen etwas anzuhängen. Wut kochte in Mattie hoch und mischte sich mit Verzweiflung. Sie wollte die Direktorin anschreien und ihr die Lügen zurück an den Kopf werfen. Aber sie hatte gelernt, nur zu kämpfen, wenn es eine Chance gab, dass sie das Gefecht für sich entscheiden konnte. Miss Rowe hatte ihr das beigebracht.

"Du wirst alles widerrufen, was du der Polizistin erzählt hast." Miss Rowe beugte sich zu ihnen und zischte ihnen die Befehle zu. "Ihr werdet die Wahrheit sagen, nämlich dass du dir diese Wunden selbst zugefügt hast, Mattie, und dass du meine wertvollen Erbstücke geklaut hast. Wenn du das nicht tust, werde ich dich verklagen und hierlassen, der Gnade der Polizei und der Gerichte ausgeliefert. Du wirst die Zeit bis zu deinem achtzehnten Geburtstag hinter Gittern verbringen, wenn du dann überhaupt schon entlassen wirst."

Miss Rowe fingerte nach dem Spitzentaschentuch, das sie stets im Ärmel ihrer Bluse trug, und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: "Ich habe gehört, dass die älteren Mädchen im Jugendknast die jüngeren als Sklaven behandeln und Schlimmeres mit ihnen anstellen. Ich bin mir sicher, dass du sehr beliebt wärest, Ivy. Mattie wird wahrscheinlich wieder alle anspucken und mit aufgeschlitzter Kehle enden."

Sie wartete, bis beide Mädchen aufsahen und den Blick auf sie richteten.

"Widerruft ihr oder nicht?"

Als Mattie aufstand, sah sie der Direktorin nicht in die Augen. Ivy schaffte es kaum, sich hinzustellen. Schweigend folgten sie Miss Rowe durch die geöffnete Tür. Mattie musste sich konzentrieren, um die Beine zu bewegen. Sie konnte kaum den Boden unter ihren Füßen spüren. Was Miss Rowe mit ihnen machen würde, wenn sie zurück in der Schule waren, wusste sie nicht. Vielleicht erst mal nichts. Miss Rowe war klug genug, abzuwarten, bis sich die Dinge beruhigt haben würden und die Polizei kein Interesse mehr hätte. Dann erst würde sie sich rächen.

Sie hatte gedroht, die Mädchen würden sterben, wenn sie redeten. Mattie fragte sich, wie Miss Rowe sie ungestraft umbringen könnte. Dass es ihr gelingen würde, bezweifelte Mattie nicht. Wenn der Mann, den sie auf der Wache gesehen hatte, tatsächlich die Aufsicht und die Leitung innehatte, dann würde Miss Rowe wahrscheinlich mit allem davonkommen – auch mit toten Mädchen in den Wänden.