25. KAPITEL

Rowe-Akademie

Januar 1982

"Ich freue mich, euch mitteilen zu können, dass die Familienerbstücke aufgefunden wurden und nun wieder in den Vitrinen der Empfangshalle ausliegen, dort, wo sie hingehören."

Millicent Rowe stand am Pult der Versammlungshalle und sprach so klar und präzise, als hielte sie eine Rhetorikstunde ab. Jane wusste, dass alles, was Miss Rowe tat, einem erzieherischen Zweck diente. Gleichwohl ahnte sie nicht, warum die gesamte Schülerschaft für eine Ankündigung versammelt wurde, in der es um wiedergefundene Erbstücke ging – von deren Verschwinden Jane nicht erfahren hatte.

Wichtigere Dinge beschäftigten Jane. Sie hatte gedacht, dass es in Miss Rowes Ankündigung um Mattie gehen würde, die geschworen hatte, in der Nacht zu fliehen. Am Morgen war Mattie nicht zur Tür gekommen, als Jane geklopft hatte. Jane hoffte, dass Mattie ihre Meinung wegen ihrer Verletzungen geändert und stattdessen ausgeschlafen hatte. Doch auch Breeze und Ivy waren nicht erschienen. Vielleicht schliefen sie auch noch.

Jetzt, bei all diesem unsinnigen Gerede über Erbstücke, wünschte sich Jane, dass auch sie im Bett geblieben wäre. Zumindest hätte sie dann genauso wenig an das nächste Treffen gedacht. Obwohl Miss Rowe sie nach dem letzten Mal zur Seite genommen und ihr versprochen hatte, sie in eine unwiderstehliche Femme fatale zu verwandeln, grübelte Jane.

Dass sie die Gene einer Femme fatale hatte, glaubte Jane nicht. Für eine besonders gute Schauspielerin hielt sie sich ebenso wenig – so gut wie Breeze war sie schon gar nicht. Trotzdem war Jane zu der Überzeugung gelangt, dass sie zumindest so tun könne als ob. Irgendwie würde sie es schon lernen. Sonst hätte sie später nichts vorzuweisen außer einer Aneinanderreihung entwürdigender Erlebnisse mit dem anderen Geschlecht.

"Ich wünschte von ganzem Herzen, dass ich die nächste Ankündigung nicht machen müsste."

Miss Rowes schriller Tonfall unterbrach Janes Gedanken. Die Direktorin schien ungehalten zu sein. Sogar wütend.

"Die Rowe-Akademie", sagte die Schulleiterin, "hat es nie für nötig befunden, ihre Schülerinnen Sicherheitsmaßnahmen auszusetzen, die in die Privatsphäre eingreifen. Jetzt sind wir gezwungen, dies zu ändern. Wir werden keine Metalldetektoren benutzen, aber alle Schülerinnen werden gelegentliche Durchsuchungen über sich ergehen lassen müssen – und das alles, weil zwei von uns Schande über sich gebracht haben, indem sie die Grenzen von Eigentum und Recht respektlos überschritten."

Die Diebe waren Schülerinnen? Jane rutschte auf ihrem Sitz nach vorn und hörte das erste Mal richtig zu. In der letzten Reihe hatte sie sich einen Platz gesucht, aber jetzt wollte sie kein Wort verpassen.

Ein Flüstern erhob sich im Saal. Daraufhin bat die Direktorin mit einer besänftigenden Handbewegung um Ruhe. "Ich bin sehr traurig, es sagen zu müssen: Unter uns gibt es Diebe. Vielleicht hätte ich sie der Polizei überlassen sollen, aber ich halte nun mal nichts davon, anderen den Schwarzen Peter zuzuschieben. Diese Schülerinnen haben gegen die Schulregeln verstoßen, und die Schule sollte das Strafmaß festlegen. Das scheint mir nur angemessen."

Jane schaute sich in der Hoffnung um, ihre Freundinnen zu entdecken. Eine schlimme Vorahnung beschlich sie. Konnte es ein Zufall sein, dass sie heute Morgen von gestohlenen Erbstücken erfuhr, nachdem Mattie letzte Nacht hatte weglaufen wollen? Jane konnte sich nicht selbst vergewissern. Ohne von Miss Rowe und den Mitarbeitern gesehen zu werden, konnte sie den Saal nicht verlassen.

"Matilda Smith und Ivy White haben sich wiederholt über unsere Regeln lustig gemacht", sagte Miss Rowe. "Heute sind sie nicht unter euch, weil sie als Teil ihrer Strafe unter Arrest stehen. Sie sind in ihre Zimmer eingeschlossen und werden außerhalb des Unterrichts an keinen Aktivitäten teilnehmen. Bis auf Weiteres ist euch jeder Kontakt zu ihnen untersagt. Sie haben mich bestohlen – und euch. Sie sind Ausgestoßene, und ich möchte, dass jeder in der Schule sie als solche behandelt."

Jane wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte vor der Menge aus der Tür stürzen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Ein Zustand eisiger Fassungslosigkeit hatte sie ergriffen. Während die anderen Schülerinnen schon aus dem Saal strömten, saß sie da und konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen. Als sie aufschaute, bemerkte sie, dass sie den Blickkontakt mit ihr ebenfalls mieden.

Jane erwartete Spott und verächtliche Blicke. Stattdessen gingen die anderen an ihr vorbei, als würde sie nicht existieren. Beinah fühlte sie das Gift, das sie versprühten. Sie hassten sie und ihre Freundinnen, aber ihre Blicke waren auf die Tür geheftet, durch die sie hinausgingen. Sie bestrafen mich auch, begriff Jane. Niemand achtete auf sie, nicht einmal das Personal.

Jane wartete darauf, dass Miss Rowe an ihr vorbeikäme, ihr einen Blick zuwerfen würde und sie damit wissen ließe, dass es hier nicht um sie ginge. Aber als die Direktorin den Saal verließ, schritt sie schnell an Jane vorbei, ohne langsamer zu werden oder sie in irgendeiner Weise zur Kenntnis zu nehmen. Fast hätte Jane ihren Namen gerufen. Doch sie hatte das Gefühl, dass Miss Rowes Verachtung sie zur Salzsäule erstarren lassen würde.

Niemals hatte sich Jane stärker gehasst oder zur Seite geschoben gefühlt. Sogar ihr Leben zu Hause war damit nicht vergleichbar. Es zerriss sie innerlich. Sie wollte hinter Miss Rowe herlaufen, sie um Vergebung anflehen, alles tun, um wieder in ihrer Gunst zu stehen. Aber wie hätte sie Mattie das antun können?

Breeze öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und spähte hinaus. Der Flur lag pechschwarz da. Am frühen Abend, als alle beim Essen waren, hatte Breeze alle Birnen in den Wandleuchtern gelockert. Die Aufsicht sollte es für einen Kurzschluss halten und nicht sofort auf die Idee kommen, die Birnen zu überprüfen. Um solche Dinge kümmerte sich gewöhnlich der Hausmeister. Und er wäre nicht vor morgen früh da, was Breeze genügend Zeit verschaffen würde.

Es schien zu klappen. Die Hausordnung verlangte von den Schülerinnen, sich ab zehn Uhr abends in den Zimmern aufzuhalten. Lichter aus um elf. Jetzt war es Viertel nach elf, der Flur leer. Und dunkel.

Barfuß und im Pyjama, schlich Breeze hinunter zu Matties Zimmer. Entsetzt hatte sie Jane zugehört, die ihr von der morgendlichen Versammlung erzählt hatte. Obwohl Jane auf ihrer Seite stand, wollte sie sie heute Nacht nicht begleiten. Jane hatte nicht weiter darüber reden wollen, nachdem sie Breeze gewarnt hatte, dass sie ebenfalls gemieden würde. Keine andere Schülerin würde mit ihr sprechen. Breeze spürte, dass Jane deshalb am Boden zerstört war, aber für Breeze würde sich dadurch nichts ändern. Sie hassten sie sowieso. Sie war zu hübsch, zu verrückt nach Jungs, zu viel von allem.

Matties Tür war verschlossen. Mit einer altmodischen Haarnadel gelang es Breeze, das Schloss zu bewegen. Diesen Trick beherrschten die meisten Schülerinnen, um sich nicht aus dem eigenen Zimmer auszusperren.

Sie betrat den Alkoven und tastete sich an der Wand entlang. Auch in Matties Zimmer war es pechschwarz. Nicht einmal das Bett am Fenster konnte Breeze erkennen, was bedeutete, dass die Vorhänge zugezogen waren, vermutlich wegen des Mondlichts … Mattie störte das fahle Licht nie. Hatte jemand anders den Raum abgedunkelt?

Breeze hatte Angst, den Namen ihrer Freundin zu rufen. Sie wusste nicht, womit sie es zu tun hatte, und so machte sie sich vorsichtig auf den Weg durch das Zimmer. Bei Mattie lag immer irgendwo ein Berg Klamotten herum, und sie wollte nicht stolpern. Scheiße! Mit dem Schienbein stieß Breeze gegen etwas und zuckte vor Schmerzen zusammen. Das Bettgestell. Um etwas in der Dunkelheit auszumachen, beugte sie sich hinunter, doch sie konnte keine menschliche Gestalt erkennen. Die Decke war glatt. Es sah nicht so aus, als hätte jemand in dem Bett geschlafen.

Hatten sie Mattie weggebracht? Sie bereits getötet?

Breeze wünschte, sie könnte die Lampe einschalten. Aber das Licht hätte man unter der Tür gesehen, es wäre sofort aufgefallen. Als Breeze zurücktrat, hörte sie den Dielenboden knarren. Erschrocken drehte sie sich um und sah etwas auf sich zukommen. Mit einem Satz sprang sie auf das Bett, griff nach den Vorhängen und riss sie samt Stange herunter. Das gesamte Paket wuchtete Breeze in Richtung Angreifer – der geschickt auswich.

Mondlicht durchflutete das Zimmer und fiel auf ein gespenstisch weißes Gesicht.

"Was tust du hier?", flüsterte Breeze, am ganzen Körper bebend.

Mattie war von dem Krach wach geworden. Sie hatte sich hinter den Kleidern versteckt, die in ihrem Wandschrank hingen. Trotz der Rippenbrüche hatte sie sich dort zusammengerollt, den Kreuzschlüssel fest an ihren schmerzenden, steifen Körper gepresst. In ihrem Bett zu schlafen, wäre Selbstmord gewesen. Sie hatte Miss Rowe oder die Todesschwadron erwartet. Jetzt waren sie da.

Einen Spalt öffnete Mattie die Schranktür und spähte in den dämmrigen Raum. Zwei Leute waren in ihr Zimmer eingedrungen. Den Geräuschen nach zu urteilen, kämpften sie. Sie erkannte Breeze. Der anderen würde sie eins mit dem Kreuzschlüssel überziehen, wenn sie aus dem blöden Wandschrank hinauskäme.

Jede Bewegung war eine Qual, wie ein Schritt über zersplittertes Glas. Mattie schluckte die Tränen hinunter und kämpfte sich in eine Sitzposition. Aber als sie die Füße auf den Boden stellte, gaben ihre Beine nach. Aufstöhnend brach sie zusammen.

Mattie hörte jemanden nach Luft schnappen, dann einen Schrei. Als sie die Augen öffnete, hatte sich Breeze schon über sie gebeugt.

"Bist du okay, Mattie?"

"Sehe ich so aus?"

"Nein, du siehst grauenhaft aus."

"Hier ist noch jemand." Mattie reckte den Hals, um zu sehen, wer sich hinter Breeze versteckte. "Du hast doch mit jemandem gekämpft. Ich hab es gesehen."

"Ich bin es." Janes versteinerte Miene kam zum Vorschein. "Breeze und ich", sagte sie mit einem seltsamen Unterton, "sind hier, um – zur Hölle, ich weiß nicht, warum wir hier sind. Um dir zu helfen, schätze ich."

"Ich will eure verdammte Hilfe nicht", sagte Mattie, so entschlossen sie konnte. "Verschwindet von hier. Raus! Ihr solltet sowieso nicht hier sein. Niemand darf mit mir und Ivy reden. Ihr dürft uns nicht einmal ansehen."

"Das wissen wir." Jane seufzte schwer. "Miss Rowe hat es heute bei der Versammlung verkündet. Komm schon, Breeze. Wir müssen sie ins Bett legen."

"Fasst mich nicht an!" Mattie drehte sich in eine Position, aus der sie die Mädchen treten könnte. Es würde Mattie umbringen, aber sie meinte es ernst. "Ich bleibe genau hier am Boden. Hier liege ich gut."

Breeze ließ sich neben sie fallen und ging sie beinah wie ein wütender Jagdhund an. "Wir gehen nirgendwo hin, du fiese, schlecht gelaunte kleine Hexe, und daran kannst du nichts ändern."

"Haut ab", krächzte Mattie. "Bitte, geht. Ich ertrage nicht, dass alle Leute meinetwegen verletzt werden, und es gibt nichts, was ihr tun könnt."

"Tja, das ist wirklich scheiße, oder?", giftete Breeze zurück. "Jetzt halt die Klappe und erzähl uns, was letzte Nacht passiert ist. Seid ihr wirklich abgehauen, Ivy und du?"

In sich zusammensinkend, stieß Mattie ein qualvolles Stöhnen aus. Sie hatte die Schmerzen satt. Zur Hölle, sie hatte das Leben satt. Aber diese zwei verrückten Mädchen würden einfach nicht gehen. Das konnte sie ihnen ansehen. Bis sie herausgefunden hätten, was letzte Nacht geschehen war, würden sie sie piesacken – ganz egal, wie gefährlich es für sie war, hier zu sein. Rowe würde sie wahrscheinlich alle drei töten.

Mattie konnte nicht begreifen, wieso ihr alles misslang. Sogar ihre Freundinnen waren komplett bescheuert.

"Mattie", drängte Breeze.

"Okay", flüsterte Mattie schließlich. "Wir waren auf der Polizeiwache in Tiburon." Irgendwie schaffte sie es, die ganze Geschichte zu erzählen, komplett und bis hin zu dem Mann mit den goldenen Manschettenknöpfen, den sie gesehen hatte.

Jane kniete sich neben Breeze, wie Geier schienen sie über Mattie zu schweben.

"Habt ihr Miss Rowes Erbschmuck gestohlen?", fragte Jane. "Was wolltet ihr damit machen? Ihn versetzen?"

"Ich habe gar nichts gestohlen." Verzweifelt versuchte Mattie, die Kraft aufzubringen, die Freundinnen fortzustoßen. Doch es gelang ihr nicht.

"Sie hat die Sachen in unsere Rucksäcke gelegt. Vielleicht war der Schmuck die ganze Zeit in den Vitrinen und Miss Rowe hat uns das alles nur erzählt, um uns Angst zu machen. Wer weiß? Und was für einen Unterschied macht das schon?" Sie bemühte sich, schnippisch zu klingen. "Geht ihr jetzt endlich, oder was?"

"Wir gehen nicht", sagte Jane mit unverbrüchlicher Überzeugung in der Stimme.

"Da musst du uns erst umbringen", fügte Breeze hinzu.

Mattie sank wieder in sich zusammen. Sie konnte es nicht mit den beiden aufnehmen. Weder hatte sie die Kraft dazu, noch konnte sie sich so von Breeze und Jane überrumpeln lassen. Verdammte, bescheuerte Idioten. Hilflos legte sie den Kopf auf den Boden, den wütenden Blick starr geradeaus gerichtet.

Jane schien Matties Zusammenbruch nicht zu bemerken. "Jede Wette, dass Miss Rowe und der Mann mit den Manschettenknöpfen unter einer Decke stecken", überlegte sie laut. "Wahrscheinlich hat er sie angerufen und ihr erzählt, dass du und Ivy da seid."

Mattie fühlte eine ohnmächtige Wut in sich aufsteigen. "Der Bastard hat dafür gesorgt, dass Miss Rowe gekommen ist und uns mitgenommen hat. Er muss gewusst haben, was sie mit uns anstellt. Und er hat ihr trotzdem erlaubt, uns mitzunehmen."

"Natürlich weiß er Bescheid", sagte Jane. "Meinst du, er rettet lieber deinen Arsch als seinen eigenen? Er ist genauso schuldig wie Miss Rowe, der Perverse."

Mattie stützte sich auf die Ellbogen und atmete schwer. Aus eigener Kraft aufzustehen, konnte sie noch nicht. "Verdammt, Scheiße, Mist", sagte sie. "So nütze ich keinem was."

"Komm her." Jane reichte Mattie die Hand, um ihr zu helfen, und diesmal ließ Mattie es zu. Mit Janes Unterstützung kam sie auf die Füße, und dann brachten die Freundinnen sie zum Bett.

"Schau dir an, was diese Schlampe Rowe dir angetan hat", sagte Jane leise, als sie neben Mattie auf dem Bett saß. "Man sollte sie umbringen."

Plötzlich richtete sich Breeze in dem düsteren Raum zu voller Größe auf, eine Offenbarung der Gerechtigkeit. Ihr blondes Haar schimmerte weiß. "Wir sollten sie umbringen. Wir sollten sie umbringen und die Schuld gemeinsam tragen."

"Wie bei Mord im Orientexpress?", fragte Jane.

"Wie Mord, Feuer und ewiges Verderben in der Rowe-Akademie."

Jane lachte. "Das klingt gut."

Mattie fühlte sich allmählich besser, als der Boden plötzlich erneut knarrte. Sie warf einen Blick zur Tür, die immer noch geschlossen war. Es klang, als sei jemand im Raum, aber wegen der Schatten konnten sie nicht in jede Ecke sehen.

Alle drei wurden still.

"Wer ist da?", fragte Mattie.

Aus dem Alkoven neben der Tür kroch Ivy, das Gesicht erhitzt. "Lasst mich das machen", sagte sie. "Lasst mich sie umbringen."

Niemand antwortete, aber etwas in Ivys Augen machte Mattie Angst. Sie hatte ihre Freundin noch nie zuvor so gesehen, so stark und entschlossen. Niemals hatte sie sie so resolut erlebt. Ivy war wieder am Leben. Die sanfte, schüchterne Ivy barst schier vor Energie.

Sollte Mattie erleichtert sein? Seit Wochen hatte sich Ivy in sich gekehrt und teilnahmslos gezeigt. Alles, was sie wieder lebendig machen würde, war gut, oder? Auch das hier? Mattie war von gegensätzlichen Gefühlen hin- und hergerissen – Angst und Zweifel, Aufregung und eisige Furcht. Und die stärkste Empfindung, die sie tief in ihrer Magengrube spürte, war die Ahnung eines drohenden Unheils.

Nicht nur Entschlossenheit erkannte sie jetzt an Ivy. Es war ein fester Wille, tödlich.

* * *

Eine Woche später

Ein donnerndes Geräusch in dem Flur vor ihrem Schlafzimmer weckte sie. Mattie angelte nach dem Wecker auf dem Nachttisch. Zwei Uhr dreißig? Viel zu früh für den Frühstücksansturm, und doch hörte sie die Schritte von vielen, es klang wie das Trampeln einer Herde.

Vorsichtig setzte sie sich auf. Sie war stellenweise immer noch empfindlich, aber sie konnte seit ein paar Tagen aufstehen und hatte sogar schon wieder den Unterricht besucht. Die Rippenbrüche waren fast verheilt, glaubte sie.

Draußen ertönten Schreie.

"Was ist passiert?", rief jemand. "Gab es einen Unfall?"

Als sie sich aus dem Bett schwang und nach ihrem Morgenmantel griff, fühlte Mattie einen stechenden Schmerz im Knie. Lichter wanderten über die Decke ihres Zimmers. Sie drangen durch das Fenster im fünften Stock ein. Unten standen Feuerwehrwagen in der Schuleinfahrt. Weder hatte Mattie einen Alarm gehört noch wie die Wagen angekommen waren.

Die Zimmertür flog auf und Jane stürzte herein. "Mattie, komm, beeil dich! Die Sanitäter sind hier. Sie sind in unserem Stockwerk!"

"Was ist passiert?"

"Ich weiß es nicht. Komm schon!"

Mattie zuckte zusammen, als Jane sie an der Hand packte und mit sich zog. "Ich kann nicht so schnell", protestierte Mattie, "mein Knie!" Aber Jane schien sie nicht zu hören. Sie keuchte wie ein erschöpfter Marathonläufer.

Im Flur stand Breeze und wartete auf sie.

Mattie warf einen Blick den Korridor hinunter und erstarrte. Jetzt verstand sie Janes Panik. Sanitäter strömten in eines der Schlafzimmer hinein und wieder hinaus. Mattie hatte noch nie so viele von ihnen gesehen.

"Es ist Ivy", flüsterte Jane.

Nicht Ivy. Nicht Ivy! Diese Worte hallten wie ein Echo in Matties Kopf, bis sie zu einem Schreien wurden.

Jane wollte hinunter und herausfinden, was passiert war. Vielleicht geht es Ivy gut, dachte sie. Mattie konnte nicht mitgehen. Sie erlaubte sich nicht oft, ängstlich zu sein, doch das hier hatte sie nicht unter Kontrolle. Wie ein Messer schnitt das Entsetzen ihr in die Kehle. Ivy war etwas Schreckliches zugestoßen, und Mattie konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Sie wollte es auch nicht sicher wissen, niemals. Es würde sie umbringen.

In wenigen Momenten hatten die Sanitäter den Bereich abgesperrt und baten die Ansammlung von Lehrern und Schülerinnen, sich zu zerstreuen. Eine Gruppe von Mädchen kam flüsternd den Flur entlang und auf Mattie, Jane und Breeze zu. Keines der Mädchen sah sie an. Mit einem Mal wurde Mattie klar, dass sie nicht gemieden wurden. Etwas Grauenhaftes war passiert.

Mattie zog sich der Magen zusammen. Sie schluchzte auf. Daraufhin griff Breeze so fest nach ihrer Hand, dass Mattie der Atem stockte. Schmerz. Ein angenehmes Gefühl.

Eines der näher kommenden Mädchen flüsterte ihren Freundinnen zu: "Sie ist tot, das arme Ding. Ich habe gesehen, wie sie ihr ein Laken über den Kopf gezogen haben."

"Hat sie sich umgebracht?", fragte eine andere.

"Ja, einer der Sanitäter sagte, es sei Selbstmord gewesen."

Ein drittes Mädchen mischte sich ein. "Ich habe es auch gehört. Eine Überdosis."

Mattie schüttelte den Kopf. Selbstmord? Ivy? Nein. Das glaube ich nicht.

Jane nahm Matties andere Hand, und so standen die drei aneinandergedrängt in entsetztem Schweigen.

Wer danach was gesagt hatte, wusste Mattie nicht. Aber sie würde sich bis ans Ende ihrer Tage daran erinnern, dass die in diesem Moment geflüsterten Worte der drei wie eine Prophezeiung wirkten.

"Verdammt! Sie hat sich umgebracht?"

"Ich glaube das nicht. Ivy war vielleicht etwas depressiv, aber das hätte sie sich nicht angetan. Sie hätte es uns nicht angetan."

"Ich glaube es auch nicht. Das war das böse Weib von Direktorin. Seht ihr sie hier irgendwo? Wo ist sie? Warum ist sie nicht hier?"

"Es war Rowe."

"Jetzt müssen wir sie umbringen."

Jede einzelne Seite hatte Breeze aus ihrem Lateinbuch gerissen, aber es war nicht genug. Sie saß in einem Haufen von Papierfetzen. Und jetzt wollte sie alles in dem Zimmer kaputtmachen, was kaputtgemacht werden konnte.

Auf der Suche nach etwas Wertvollem, das sie zerbrechen könnte, sah sie sich um. Wenn sie nicht alles zerstörte, alles, das ihr etwas bedeutete, dann würde sie sich selbst in Stücke reißen.

Ivy war weg. Ivy hatte nichts. Warum also sollte Breeze Wheeler noch etwas besitzen? Warum hatte sie das Recht zu leben?

Hilflos wirbelte sie im Kreis herum. Dann sah sie den goldenen Armreif, den ihr einer von Miss Rowes Männern geschenkt hatte. Mit aller Kraft brach Breeze ihn auseinander und warf ihn in den Müll. Als Nächstes fegte sie die billige Glaslampe vom Nachttisch und zuckte zusammen, als sie auf dem Hartholzfußboden in tausend Stücke zerbrach. Was konnte sie noch zerstören?

Als es vorbei war, saß Breeze inmitten der Trümmer und sah starr auf das Blut an ihren Händen, beobachtete, wie es an ihren Armen entlangrann wie Tränen. Der Zorn war verflogen. Matt fragte Breeze sich, ob der tiefe, reißende Schmerz jemals nachlassen würde.