11. KAPITEL

Rowe-Akademie

Herbst 1981

"Wie alt ist sie?", fragte der Mann.

"Vierz…"

"Fünfzehn", fiel Jane Miss Rowe ins Wort, bevor diese ihren Satz beenden konnte. Ihr Innerstes zitterte. Sie hatte einfach vier Monate zu ihrem Alter hinzugefügt, und sie wusste nicht, wie Miss Rowe reagieren würde, aber Jane war verzweifelt. Sie hatte in jedem Vorstellungsgespräch die Wahrheit gesagt und war immer abgelehnt worden. Vielleicht lag es gar nicht am Alter, aber sie wollte es nicht darauf ankommen lassen. Diesmal wollte sie ausgewählt werden. Die Ablehnungen waren peinlich. Sie war die Einzige, die noch nicht ausgewählt worden war.

Was stimmte nicht mit Jane Dunbar? Soweit sie sich erinnern konnte, hatte es nie einen Mann gegeben, der sich für sie interessierte, nicht einmal ihr Vater.

Jane zwang sich, mit dem Mann zu sprechen, und diesmal klang ihre Stimme zittrig und schwach. "Möchten Sie mich küssen?"

Es war wahrscheinlich eine dumme Frage, der Mann war schließlich für unanständigere Dinge als Küsse hierhergekommen. Aber Jane wusste nicht, womit sie anfangen sollte. Als er nicht antwortete, sagte sie sich, dass er bestimmt küssen wolle. Sie hörte ein Geräusch von Schuhen, so als ob jemand verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Vielleicht war er genauso nervös.

Sie standen in dem abgedunkelten Klassenzimmer, das Miss Rowe für alle Vorstellungsgespräche nutzte, und wie die anderen vor ihr stand Jane in einem grellen Lichtschein. Nur seine mit Matsch besprenkelten Schnürschuhe, seine grauen Hosen und den Trenchcoat konnte Jane erkennen. Trotzdem fiel es ihr sehr schwer, sich einzureden, dass ihr ein Junge ihres Alters gegenübersaß, jemand, den sie tatsächlich gern küssen würde.

Schließ einfach die Augen, Jane. Du kannst es. Halt die Luft an und denk nicht darüber nach.

Ihre Gedanken rasten, während sie auf eine Reaktion wartete. Wollte er, dass sie einfach weitermachte? Sogar Miss Rowe schwieg. Jane interpretierte das als stillschweigende Aufforderung, fortzufahren.

Sie stellte die Hüfte schräg und beugte den Kopf nach vorn, entschlossen zu ignorieren, dass sie sich schrecklich ungelenk fühlte. "Ich küsse gern." Sie durfte nicht schüchtern sein. Jetzt musste sie alles geben. "Wollen Sie es nicht ausprobieren?"

"Jane, eine Dame wartet darauf, dass der Herr sie fragt."

Der strenge Ton der Direktorin beeindruckte Jane kaum. Ihr war wichtiger, dass dieser Mann sie auswählte. Sie hatte sich nicht erlaubt, darüber nachzudenken, was danach passieren würde. Sie wollte nur nicht wieder ignoriert werden und das Gefühl haben, dass es allen egal war, ob sie lebte oder nicht.

Du hast kein gottgegebenes gutes Aussehen, Jane. Du wirst wahrscheinlich nie hübsch genug sein, um das Interesse eines Mannes zu wecken. Janes Stiefmutter hatte sie mit diesen Worten auf Zurückweisungen vorbereitet. Vielleicht sah sie es als ihre elterliche Verpflichtung an. Sie riet Jane, so früh wie möglich auf eigenen Beinen zu stehen und den eigenen Weg zu finden. Blind hatte Jane ihr vertraut. Schließlich verstand ihre Stiefmutter etwas von diesen Dingen. Sie war umwerfend schön, und Janes Vater war von ihr so besessen gewesen, dass er alles andere vernachlässigt hatte. Um mehr Geld zu verdienen, mit dem er seine "Braut" glücklich machen konnte, hatte er einen zweiten Job angenommen. Janes Stiefmutter hatte sich oft bitter beklagt, dass sie durch die Heirat unzählige Chancen verpasst hätte. Letztlich starb Janes Vater. Sein Blutdruck war gefährlich hoch gewesen, und ein durch Stress verursachter Herzinfarkt hatte ihn in dem Jahr getötet, in dem er dreiundvierzig Jahre alt geworden wäre.

Janes leibliche Mutter hatte sich von ihrem Vater scheiden lassen und das Sorgerecht abgegeben, als Jane noch sehr klein war. Weder hatte sie Fotos von ihr gesehen noch durch Erzählungen etwas über sie gehört. Ihr Vater hatte es verhindert. Er hatte ihr nur erzählt, dass ihre Mutter Alkoholikerin gewesen sei und es mit ihr ein schlimmes Ende genommen habe, sei sie doch noch vor ihrem dreißigsten Lebensjahr gestorben.

Janes Stiefmutter hatte keine Zeit damit verschwendet, nach Möglichkeiten zu suchen, den Teenager loszuwerden. Jane war ihr jedoch zuvorgekommen. Sie hatte sich um ein Stipendium der Rowe-Akademie bemüht, das bedürftigen Mädchen angeboten wurde – sonst wäre Jane vielleicht auf der Straße gelandet. Als Jane angenommen wurde, setzte ihre Stiefmutter sie in Rowe ab, gab Gas und verschwand. Das allerdings hatte Jane nicht annähernd so überrascht wie die vorübergehende Fürsorge, die Miss Rowe angeboten hatte, damit Jane nicht in ein Kinderheim musste. Miss Rowe hatte darauf hingewiesen, dass Jane jederzeit zu ihr kommen könne.

"Vielleicht bin ich keine Lady." In der Hoffnung, dass der Mann, der sich in der Dunkelheit verbarg, ihr breites Grinsen für Eifer statt Nervosität hielt, hob sie das Kinn. Bis jetzt hatte er nichts gesagt, kein Wort, aber das hieß ja nicht unbedingt, dass er nicht interessiert war.

Schließlich sprach er mit amüsierter Stimme. "Wenn du fünfzehn bist, hast du bestimmt schon ein bisschen was erlebt. Ein paar Jungs geküsst?"

Na ja, den Nachbarsjungen mit zehn und dann eine Sommerliebe im Camp ein paar Jahre später … aber nur, weil er keine andere Wahl gehabt hatte. Sie hatten Flaschendrehen gespielt. Die Jungs standen nicht gerade Schlange für Jane Dunbar, aber das wollte sie nicht zugeben. Trotzdem, wenn der Mann auf Schulmädchen stand, mochte er sie vielleicht auch unschuldig.

Sie blickte nach unten. Langsam hob sie dann die Wimpern. "Ich sagte, dass ich es mag, oder?"

"Was magst du noch?"

Er meint es ernst, erkannte Jane in diesem Augenblick, und die Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf. Er würde wollen, dass sie alle möglichen seltsamen, schweinischen Sachen machte. Und sie würde es nicht wagen, sich zu weigern. Was würde er denken, wenn er herausfände, dass sie keine Erfahrung hatte? Keine einzige.

"Jane, Liebes", sagte Miss Rowe, "du bist etwas gefragt worden."

Liebes? Miss Rowe war offensichtlich mit dem Gang der Dinge sehr zufrieden.

"Ich mag viele Dinge", sagte Jane und dachte angestrengt nach. "Küsse auf meinem …"

"Magst du es, wenn man deine Brüste berührt?"

Seine Stimme klang so rau wie die eines pubertären Jungen. Er räusperte sich, und Jane versuchte, sich vor Ekel nicht zu schütteln. "Ich … äh, ja, sehr gern", stammelte sie.

Aber der Widerwille musste offensichtlich gewesen sein. Sie suchte nach Worten. Einige Sekunden lang sprach niemand, und sie konnte spüren, wie die Situation kippte. "Natürlich mag ich es, wenn man meine Brüste berührt", sagte sie mit dünner Stimme.

"Ich denke nicht, dass das hier funktioniert", sagte der Mann. "Vielleicht eine andere …"

"Doch, es wird funktionieren!" Jane knöpfte sich schnell die Bluse auf. Für ihr Alter war sie weit entwickelt. Vielleicht würde das seine Meinung ändern. "Sehen Sie", sagte sie. "Ich sagte Ihnen doch, dass ich es mag."

"Jane, komm näher", wies Miss Rowe sie an. "Dann muss der Herr nicht zu dir kommen."

Irgendwie schaffte es Jane, einige Schritte auf die Schnürschuhe zuzugehen. Da stand sie in seiner Reichweite, aber sie blickte starr auf den Fußboden, weil sie sich plötzlich entblößt fühlte.

"Ich mag es", flüsterte sie.

"Machen Sie ruhig", ließ sich Miss Rowe vernehmen. "Sie ist jung, und sie wird alles tun, was Sie möchten."

Er schwieg so lange, dass Jane zu zittern begann.

"Ich glaube nicht", sagte er. "Vielleicht ein anderes Mal."

Ein anderes Mädchen, das meinte er damit. "Küssen Sie mich", flehte Jane, "bitte."

"Nein, wirklich, ich … kann nicht."

"Warum?" Jane raffte ihre Bluse zusammen. Sie musste auch für ihn seltsam ausgesehen haben. "Stimmt mit mir etwas nicht?" Sie wollte die Antwort nicht wissen, aber sie musste die Frage trotzdem stellen.

"Nein, natürlich nicht. Ich mag Blondinen. Zierliche Blondinen. Sonst funktioniert es nicht."

Lügner, ich bin nicht hübsch genug. Ich werde nie hübsch genug sein. Ich bin total durchgefroren, und du würdest mich niemals etwas spüren lassen.

Eine kleine Ewigkeit sprach und bewegte sich niemand. Schließlich sagte Miss Rowe: "Jane, bring deine Sachen in Ordnung und warte draußen. Ich würde gern allein mit dem Herrn sprechen."

Jane hatte nicht die Kraft, zu protestieren oder ihre Kleider zu ordnen. Sie ging zur Tür und verließ den Raum, nicht sicher, wo sie warten sollte. Wahrscheinlich hätte sich jedes andere Mädchen geschämt und schmutzig gefühlt. Jane schalt sich in erster Linie eine Versagerin. Miss Rowe würde ihr keine andere Chance mehr geben. Sie hatte sich blamiert und, schlimmer noch, den "Herrn" in Verlegenheit gebracht.

Erschöpft lehnte Jane sich gegen die Wand und rutschte allmählich auf den Boden, ein demoralisiertes Häufchen Elend. Sie konnte an nichts anderes denken als an ihre eigene Dummheit und Unzulänglichkeit. Sie gab sich einige Momente ihrem Selbstmitleid hin, geißelte sich, bis sie einfach nicht mehr konnte. Verzweiflung war ihr immer wie Zeitverschwendung erschienen, sobald die düstere Stimmung vorüber war.

Still wie eine Gruft lag der Flur da. Die leeren Räume hatten Jane immer eiskalte Schauer über den Rücken gejagt, und hier war es am schlimmsten. Die Außentüren waren mit Brettern vernagelt und die Fenster zerbrochen. Normalerweise hätte Miss Rowe solche Nachlässigkeiten nicht geduldet, aber sie wollte vermutlich erreichen, dass die Schülerinnen diesen Teil der Schule mieden.

Jane fragte sich, wie wütend die Direktorin reagierte, wenn sie sich einfach davonstehlen würde. Ihre Freundinnen wären mittlerweile vermutlich zurück vom Abendessen in der Cafeteria und saßen in Matties Zimmer. Jane wünschte, sie hätte ihnen nichts von dem Gespräch heute Abend erzählt. Sie war nicht in der Stimmung, Fragen zu beantworten – und das Letzte, was sie wollte, war Mitleid. Zumindest hatte sie heute Morgen eine Eins in ihrer Arbeit über Sozialökonomie bekommen. Schade, dass sie sie nicht dabeihatte. Sie hätte Miss Carltons lobende Kommentare noch einmal lesen können.

Jane lehnte den Kopf an die Wand und seufzte. Langsam ließ sie die Geschehnisse Revue passieren, wiederholte sie im Geiste und änderte einige Passagen, um sich zu beruhigen. Sie stellte sich vor, wie sie den Mann langsam, aber sicher mit ihrer sinnlichen Stimme und dem verführerischen Lächeln in den Wahnsinn treiben würde; wie sie genau die richtigen Dinge sagte und er, wenn sie ihm ihren perfekten Körper präsentiert haben würde, so von Sinnen wäre, dass er sie in die Arme zöge und leidenschaftlich küsste – sie dachte keine Sekunde an Miss Rowe und an die Tatsache, dass dieser Mann seine Identität enthüllt hatte. Von diesem Punkt an gehörte er ihr. Er gehörte Jane Dunbar.

"Du magst sie nicht?"

Jane öffnete die Augen. Das war eindeutig Miss Rowes Stimme. Jane musste die Tür nur angelehnt haben. Der Mann antwortete in einem tiefen, sinnlichen Tonfall, der Jane vermuten ließ, dass etwas zwischen ihm und Miss Rowe lief. Sie stellte sich bildlich vor, wie er sie berührte und ihr tief in die Augen sah, Miss Rowe mit drängender Männlichkeit verführte. Jane schauderte.

"Ich mag sie schon", sagte er. "Aber sie ist nicht so frühreif wie die andere. Sie weiß einfach nicht, was ein Mann von einer Frau erwartet."

"Wirklich? Und was ist das?"

"Ach, du weißt schon. Einige Frauen werden mit diesem Wissen geboren."

Miss Rowes kehliges Lachen weckte Janes Neugier. Vorsichtig rutschte sie näher an die Tür. Sie wollte gern einen Blick riskieren, aber sie hatte Angst davor, entdeckt zu werden.

"Da könntest du recht haben", erwiderte die Direktorin, immer noch lachend. "Ich glaube, ich weiß genau, was du brauchst."

Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, sodass Jane nichts mehr verstehen konnte. Aber die anderen Geräusche, die sie vernahm, ließen keinen Zweifel darüber, was sie taten. Fetzen von Gelächter, kleine Seufzer, die immer heftiger wurden, und erhitztes Gemurmel drangen an Janes Ohr. Das Schmatzen von Lippen und Zungen ließ sie zusammenzucken. Knutschten sie? Oder machte sie es ihm …

Jane schlug sich die Hände über die Ohren. Sie wollte die Geräusche der geifernden Lust nicht hören. Ihr wurde übel, und trotzdem konnte sie ihren Platz nicht verlassen. Sie hatte das verrückte Verlangen, zu lauschen. Sosehr es sie auch abstieß, sie wollte alles darüber wissen, was Miss Rowe und der Mann da drinnen taten. Es kam ihr vor, als ob sie zu einer geheimen Gesellschaft gehörten, die eine Jane Dunbar ausschloss. Zu dieser Party hatte Jane keine Einladung erhalten, aber viele andere Mädchen ihres Alters schon. Sogar Breeze schien diese Geheimnisse zu kennen, immerhin war sie schon einige Male gewählt worden. Aber Breeze verriet nichts über die Geschehnisse. Jane fand das nicht fair.

Sie wollte wissen, wie sie in die verschlossenen Räume Einlass bekäme, in dem sich Männer und Frauen im Dunkeln trafen und sich gegenseitig Körper und Seele anboten. Worum es dabei ging, wollte sie verstehen, und vor allem wollte Jane wissen, was mit ihr nicht stimmte, damit sie es abstellen konnte.

Als sie so dasaß, gegen die Wand gesunken, stieg Wut in ihr auf. Jane akzeptierte Versagen genauso wenig wie Verzweiflung. Vielleicht war sie nicht mit dem Wissen um Geheimnisse zur Welt gekommen, die Frauen über Männer und Sex kennen sollten, aber sie könnte es lernen. Und sie lernte verdammt schnell.

"Warum heißt es eigentlich Schwanz? Männer sind doch keine Hunde."

Breeze zuckte bei der Frage ihrer Freundin zusammen. "Man nennt es Erektion, Jane. Das musst du unbedingt behalten, wenn man dich jemals auswählt."

Heiße, rote Flecken brannten auf Janes Wangen. Sie zeigte Jane den Mittelfinger und bemühte sich, gelassen zu wirken, aber Breeze konnte in ihren Augen sehen, dass sie sie verletzt hatte – und bedauerte ihre Worte sofort. Sie sollte die Mädchen vermutlich lieber nicht in die Feinheiten der männlichen Anatomie einweisen. Miss Rowe hatte ihr befohlen, Stillschweigen über die "Dates" zu bewahren, speziell den ängstlichen Mädchen gegenüber. Aber so wie die Freundinnen ihr förmlich an den Lippen hingen, war es einfach zu verlockend, ein bisschen was auszuplaudern. Das erste Mal in ihrem Leben fühlte Breeze sich wichtig.

Sie war nicht so stark wie Mattie, und sie bekam nicht so gute Noten wie Jane. Ihr Ruhm beschränkte sich darauf, dass sie mehrmals ausgewählt worden war, öfter als alle anderen, und sie war gerade von ihrem vierten "Blind Date" zurückgekehrt. Irgendwie hatte sie das zu einer Expertin für Männer gemacht, und ob es nun stimmte oder nicht, es fühlte sich einfach gut an.

"Ist es nicht komisch, eine Augenbinde zu tragen?", fragte Jane.

"Nur am Anfang." Breeze zuckte die Schultern, als ob das für sie bereits Routine wäre. "Es geht ja dabei nicht um eine schmutzige Sextechnik, wenn es das ist, was ihr denkt. Es soll nur die Identität des Mannes schützen."

"Ja, klar", spottete Mattie. "Bei der ganzen Sache geht es doch einzig und allein um schmutzigen Sex, Breeze. Denk doch mal nach!"

"Nein, das stimmt nicht. Der Mann heute war wirklich süß." Verglichen mit ihren ersten zwei Männern, stimmte das jedenfalls. Ein flaues Gefühl schlich sich Breeze in den Magen, als sie an ihr erstes "Date" dachte, wie Miss Rowe es nannte. Die Direktorin hatte ihr verboten, den anderen Mädchen zu erzählen, dass der Mann sie, gegen Miss Rowes Regel, in ein Motel gebracht hatte.

Abgesehen von Ivy, die von einem Mann in einer Limousine abgeholt worden war, sollten die Mädchen Miss Rowe in dem Gebäudetrakt treffen, in dem die Vorstellungsgespräche stattfanden. Dort wurden ihnen die Augen verbunden, dann führte Miss Rowe sie in den Raum, in dem der Herr wartete. Breeze hatte das Zimmer natürlich nie gesehen, aber sie hatte Stoffe wie Samt und Leder gespürt und stellte sich vor, dass es wie ein viktorianischer Salon aussah.

Aber dieser Mann hatte Breeze auf dem Weg zum Gebäude abgefangen. Von hinten hatte er sich angeschlichen und ihr die Augen verbunden. Er hatte ihr erzählt, dass sie woanders hingehen würden und dass Miss Rowe dem zugestimmt hätte. Erst als es zu spät war, hatte Breeze gemerkt, dass Miss Rowe nichts davon wusste und dass er auf Bestrafungsspiele stand. Er hatte so hart zugeschlagen, dass ihr Tränen in die Augen gestiegen waren.

"Junges Fräulein, der Rock ist unanständig kurz", hatte er gesagt, sobald sie im Raum waren. "Du brauchst ein paar ordentliche Schläge." Er hatte sie angewiesen, sich wie eine Fünfjährige über seine Knie zu beugen. Dann hatte er ihr Höschen heruntergezogen und ihr mit einem Tischtennisschläger die nackte Haut versohlt. Wäre sie nicht so schockiert und beschämt gewesen, hätte sie fest zugebissen. So war sie erst geflüchtet, nachdem er im Badezimmer verschwunden war, vermutlich um sich selbst zu befriedigen, und dann war sie den ganzen Weg zum Schulgelände zurückgerannt. Dort hatte Miss Rowe ihr fünfzig Dollar Schweigegeld gegeben und ihr versprochen, dass so etwas nie wieder passieren würde.

Nach diesen Ereignissen hatte Breeze erkannt, dass sie etwas Macht gewonnen hatte. Geld? Versprechungen? Breeze wäre weniger überrascht gewesen, wenn Miss Rowe ihr eine Pistole an den Kopf gehalten und sie mit dem Tode bedroht hätte. Das einzige Mal, dass die Direktorin sich ähnlich freundlich verhalten hatte, lag lange zurück. Im ersten Semester hatte Miss Rowe ihnen erklärt, wie man sich Vorteile im Leben und anderen gegenüber verschaffen könne, indem man sexy und verführerisch auftrete.

"Ich verrate euch alle meine Geheimnisse", hatte sie ihnen damals erzählt. "Ihr werdet ein Wissen und Fähigkeiten besitzen, mit denen ihr all die anderen Mädchen weit hinter euch lassen werdet."

Breeze hatte sich zu einem zweiten Treffen mit einem anderen Mann überreden lassen, hauptsächlich weil sie Miss Rowes Zorn fürchtete, der wie ein züngelndes Feuer in ihren grünen Augen loderte, selbst wenn sie sich freundlich gab. Der zweite Mann hatte Breeze nicht berührt, aber es war trotzdem ein scheußliches Erlebnis gewesen. Er wollte, dass sie schmutzige Wörter sagte, während er sich selbst anfasste. Gott sei Dank trug sie eine Augenbinde. Allein die Geräusche, die er machte, widerten Breeze an.

Sie hatte danach aufhören wollen, aber das dritte Treffen wurde besser, das vierte erschien ihr wie eine Offenbarung. Einmal mehr hatte sie entdeckt, was für eine Macht sie besaß. Echte Macht. Sie musste nur den Mut aufbringen, sie einzusetzen.

"Schaut mal, was ich habe", sagte sie und hielt ihre Hand hoch, um ihren Freundinnen das glänzende Goldarmband zu zeigen, das an ihrem Handgelenk hing.

"Was musstest du dafür machen?", fragte Mattie. "Etwas total Verdorbenes?"

Sie waren gerade aus der Cafeteria zurückgekehrt, wo sogar das Fleisch zur Konsistenz von Babybrei zerkocht wurde, und hatten Breezes Zimmer gestürmt. Mattie lag auf dem Bett und machte Würgegeräusche, während Breeze sprach. Aber das ist nur Show, dachte sich Breeze. Mattie nahm jedes Wort auf. Sie war genauso fasziniert wie Jane, die das einzige anständige Möbelstück im Raum in Beschlag genommen hatte, einen gepolsterten Ohrensessel, den Breeze aus einem Lagerraum mitgenommen hatte.

Ivy wirkte, als fühlte sie sich unwohl. Sie saß auf dem Fußboden, an die am weitesten entfernte Wand gelehnt, einen Skizzenblock im Schoß, und zeichnete unablässig Gesichter, die genauso verloren und unglücklich aussahen wie ihr eigenes.

Manchmal verlor Breeze beinah die Geduld mit ihr. Ivy war es scheinbar egal, ob sie Breeze den großen Moment im Scheinwerferlicht mit ihrem Desinteresse verdarb, und so schlecht konnte Ivys Leben ja wohl nicht sein. Wenigstens hatte sie einen Vater, auch wenn sie nichts von ihm erzählte, außer dass er ein paar Stunden nördlich der Schule lebte und viel arbeitete. Aber die anderen drei hatten überhaupt keine Familie mehr. Breezes Eltern saßen eine Haftstrafe für die Zucht von Marihuana ab. Sie waren immer auf irgendwelchen Kreuzzügen. Diesmal ging es um die Legalisierung von Cannabis, und sie waren freiwillig ins Gefängnis gegangen – in dem naiven Glauben, dass ihnen irgendeine Bürgerrechtsbewegung zu Hilfe käme und ihr Opfer gebührend würdigte. Das war fast drei Jahre her.

"Was musstest du für das Armband tun?", erkundigte sich Mattie beharrlich. "Erzähl uns alles, auch die fiesen Sachen."

"Besonders die fiesen Sachen", fiel Jane ein.

Breeze erhob sich und stolzierte von einer Freundin zur nächsten, um ihre neue Errungenschaft vorzuführen. Sie hatte selten die Gelegenheit, im Mittelpunkt zu stehen, und kostete es aus.

"Ich musste gar nichts machen", sagte sie. "Es war meine Idee, mich auszuziehen. Er hörte nicht auf zu zittern, und ich versuchte, ihn zu beruhigen. Ich habe sogar seine Hand genommen und sie auf meine Brust gelegt, um ihm zu zeigen, dass es okay ist."

"Oh, mein Gott", flüsterte Jane. "Wie hat er reagiert?"

"Er hat geweint."

"Geweint? Tränen?", Mattie setzte sich ungläubig auf. "War er irgendwie komisch?"

"Ja." Breeze nickte. "Aber nett komisch."

"Hast du es mit ihm getan?", fragte Jane.

Jetzt war sogar Ivy aufmerksam, ihre langen Wimpern flatterten, als sie vom Block aufsah.

"Nein", sagte Breeze, die sich sehr überlegen fühlte, "aber ich habe ihn überredet, sich von mir anfassen zu lassen."

"Äh … und? Was ist dann passiert?"

"Nichts. Ich glaube, er war zu ängstlich."

Mattie und Jane verdoppelten vor Abscheu die Lautstärke ihres Stöhnens, was Breeze nicht überraschte. Sie war anders erzogen worden als andere Mädchen ihres Alters. Im Gegensatz zu den Eltern ihrer Freunde waren ihre immer noch Hippies, extreme Freidenker, die ihr beigebracht hatten, dass Sex und Nacktheit natürlich waren, nicht beschämend oder sündig. Die Kommune, in der Breeze aufgewachsen war, verstand sich nicht als Nudistencamp, aber die Bewohner liebten es, nackt zu baden. Und um Kleidung scherte sich niemand.

Breeze fühlte sich mit ihrem Körper so wohl wie nur wenige Mädchen in ihrem Alter. Mit vierzehn Jahren hatte sie schon einige Erfahrungen mit Sex gemacht, auch wenn es nur ein gleichaltriger Junge gewesen war, mit dem sie anderes erlebt hatte als mit Miss Rowes Männern. Trotzdem hatte sie ihre ersten zwei Treffen überlebt, ein bisschen über Männer gelernt und einen ganze Menge über sich selbst. Offenbar verfügte Breeze über eine natürliche Begabung für die subtilen Signale, die Männer und Frauen sich sandten, obwohl sie nicht mal sich selbst erklären konnte, was die Zeichen bedeuteten. Aber sie wusste, dass das ihr Talent war, ihre Begabung, und sie sah darin nichts Schlechtes.

"Was ist, wenn er dich wiedersehen will?", fragte Mattie.

Breeze spielte mit dem Armband. "Das hoffe ich. Und nicht nur wegen des Schmucks."

"Warum dann?", fragte Jane. "Hat es dir gefallen, als er dich angefasst hat?"

"Ich fand es jedenfalls nicht unangenehm." Breeze zögerte, weil sie wusste, dass ihre Freundinnen sie auslachen würden, wenn sie die Wahrheit sagte. "Er war traurig, und ich habe ihn glücklich gemacht. Ich glaube, nächstes Mal hat er weniger Angst vor mir oder einer anderen Frau. Ich weiß nicht warum, aber ich habe mich gut dabei gefühlt."

Mattie sprang vom Bett und baute sich direkt vor Breeze auf. Ihre Augen waren tiefblau und ihr Haar schwarz wie das der Medusa. "Diese Männer sind nicht traurig", sagte sie. "Sie sind krank, und wenn es anfängt, dir zu gefallen, wirst du auch krank."

"Beruhige dich, Mattie. Es war nicht der Sex. Es hat ihm geholfen. Er hat sich besser gefühlt, und deshalb habe ich mich auch besser gefühlt."

"Also bist du jetzt die 'Mutter Teresa des Sexes'? Du wirst die Welt bereisen, damit Männer sich besser fühlen?"

Breeze gelang es, nicht zurückzuzucken, was nicht einfach war, wenn Mattie Smith jemandem ins Gesicht starrte. "Vielleicht", sagte sie sanft.

Jane unterbrach sie, indem sie fragte, wo Ivy war. Den Mädchen war gar nicht aufgefallen, dass Ivy den Raum verlassen hatte. "Bleibt hier", sagte Breeze zu den anderen, die auf die Tür zustürzten. "Ich suche sie. Es ist bestimmt meine Schuld, dass sie abgehauen ist."

Breeze stürmte in den Flur und überließ ihre Freundinnen dem Schnaufen und Keuchen und den anderen dummen Geräuschen, die sie von sich gaben. An den Fenstern des Erkers sah sie Ivy stehen, am anderen Ende des Flurs. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit. Breeze rief ihren Namen, aber Ivy drehte sich nicht um. Sie schien sie nicht einmal zu hören, und Breeze wusste einen grauenhaften Moment lang, was sie nicht wissen wollte. Ihre Freundin wäre gesprungen, wenn es einen Weg gegeben hätte, die Fenster zu öffnen.