7. KAPITEL

Mattie stieß einen stummen Schmerzensschrei aus. Sie spürte etwas Kaltes, Scharfes im Rücken. Als sie sich umdrehte und die Augen öffnete, entdeckte sie voller Entsetzen, dass jemand neben ihrem Bett stand. Ein silbernes Objekt glitzerte in der Dunkelheit, und der Mensch, der sich über sie beugte, sah unheimlich aus.

Ein Albtraum? Sie blinzelte, um ihn zu vertreiben. Aber sie träumte nicht. Es war Miss Rowe, und sie hatte ein Messer in der Hand.

Mattie rutschte näher an die Wand, an dem das Bett stand. Sie kauerte sich in eine Ecke, machte sich so klein wie möglich. Sie konnte nicht laut genug schreien, niemand würde sie hören. Erst vor ein paar Tagen war sie ihrem Versteck entkommen, und ihre Zunge war immer noch geschwollen.

Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. In einem nahe gelegenen Geräteschuppen hatte sie einen Schraubenschlüssel gefunden und sofort unter ihrem Bett versteckt. Aber er war außer Reichweite, und die Direktorin viel zu nah.

Mattie starrte die furchterregende Gestalt an und konnte immer noch nicht glauben, dass es Miss Rowe war. Sie trug einen glänzend schwarzen Morgenrock. Aus dem Zopf, den sie normalerweise zu einem Knoten aufgesteckt trug, hatten sich Strähnen gelöst. Im Mondlicht sahen diese Strähnen wie weiße Drähte aus. Miss Rowe war immer in jeder Hinsicht perfekt gewesen, von ihrer Erscheinung bis zu ihren Manieren. Dieselbe Perfektion erwartete sie von ihren Schülerinnen. Was war mit ihr geschehen?

Die Schulleiterin durchbrach die Stille plötzlich mit einem unheimlichen Kichern.

"Versuchst du, dich zu verstecken, Matilda? Wie lächerlich. Was hast du gedacht, würde ich mit dir machen? Dich erstechen?"

Sie hielt das silberne Objekt hoch und zeigte Mattie, dass es sich dabei um einen Brieföffner handelte. "Ich habe nur versucht, dich zu wecken. Ich finde, wir sollten uns mal ein bisschen unterhalten."

Mattie kauerte sich noch mehr zusammen. Sie wusste, dass ihr Schlaf-T-Shirt die Beine entblößte, aber sie konnte sich mit nichts anderem schützen. Das könnte ein Trick sein. Rowe könnte ihr in den Bauch stechen, sobald Mattie die Position änderte.

Eine Drohung schlich sich in Miss Rowes Grinsen. "Nun gut", sagte sie mit tiefer, zitternder Stimme. "Wenn du darauf bestehst, albern auszusehen, dann bitte schön. Aber du bist wirklich ein dummes, kleines Mädchen."

Mattie wollte krächzen, dass sie klug genug sei, keinen verrückten Menschen mit spitzen Gegenständen zu vertrauen. Aber sie wusste, dass sie sich unter diesen Umständen besser nicht mit Rowe anlegte.

"Es ist an der Zeit, dass wir eine Einigung finden", sagte die Direktorin, "und da du dich nicht an die Schulregeln hältst, bin ich gezwungen, kreativ zu sein."

Sie zog Matties Rucksack hervor. Offensichtlich hatte sie in Matties Schrank herumgeschnüffelt. Mattie hielt den Rucksack seit längerem dort versteckt, und jeden Tag hatte sie ihn mit Vorräten aus der Cafeteria gefüllt.

"Wenn du daran denkst, abzuhauen, Matilda, dann überleg es dir gut. Wenn du das tust, werde ich deine Freundinnen unaussprechlichen Qualen aussetzen. Und ich werde dich finden und an den Haaren zurückzerren, damit du zusehen kannst. Das solltest du wissen. Ich finde dich überall."

Sie ließ den Rucksack auf den Boden fallen. Das Geräusch von splitterndem Glas ließ Mattie zusammenzucken. Sie hatte auch Geschirr darin versteckt.

"Sch…sch…sch…" Das Wort blieb Mattie im Halse stecken. Scheiße.

Erschrocken zuckte sie zurück, als der Brieföffner plötzlich auf ihr Gesicht zuschoss. Sie hörte, wie die Klinge die Luft durchschnitt.

Miss Rowe baute sich über ihr auf und sprach zischend wie eine Schlange auf sie ein. "Es ist mir todernst, du dumme, schlampige Göre. Und wenn du irgendwem von diesem Gespräch erzählst – wenn du irgendetwas ausplauderst –, werden deine drei Freundinnen einen Unfall haben. Einen tödlichen Unfall. Sie werden sterben, eine nach der anderen, und die erste wird Ivy sein."

Ungläubig schüttelte Mattie den Kopf. Miss Rowe war verrückt geworden. Seit sie aus dem Sommerurlaub zurückgekehrt war, benahm sie sich immer seltsamer. Jetzt drohte sie, Menschen umzubringen? Vielleicht hatte sie schon mehrere um die Ecke gebracht und in den Wänden versteckt.

Drohend streckte die Direktorin den Arm aus und rollte den Ärmel ihres Bademantels hoch. Mattie beobachtete in stiller Panik, wie Miss Rowe das scharfe Ende des Brieföffners über ihre blasse Haut zog. Ein dünner Blutstreifen zeichnete sich ab. "Ich habe keine Angst vor Schmerzen, Matilda. Und wie du weißt, habe ich auch keine Angst davor, anderen Schmerzen zuzufügen."

Ihr Lächeln war plötzlich milde, so als hätte sie gerade eine Zeremonie beendet. Mattie wurde schlecht bei dem Anblick. Sie erschrak, als Miss Rowe sich zu ihr beugte und in sanftem, gütigem Tonfall sprach. "Natürlich wirst du es keiner Menschenseele erzählen, nichts hiervon, nichts von dem Mann, zu dem du so unhöflich warst, gar nichts." Fast liebevoll tätschelte sie Matties Gesicht. "Ich bin da wirklich zuversichtlich, Matilda. Du darfst es allerdings deinen Freundinnen sagen. Ehrlich gesagt, zähle ich darauf, dass du es tust. Sie müssen die Regeln ja auch verstehen."

Rowes Gesicht war gerötet, und ihr Atem ging stoßweise, als sie sich zur Tür wandte. Fast genauso plötzlich, wie sie erschienen war, verließ Miss Rowe die Krankenstation. Mattie floh ins Badezimmer, den Schmerz in ihrem Knie ignorierend. Sie musste sich übergeben, und sie mochte sich kaum vorstellen, was die Magensäure ihrem wunden Mund antun würde.

Stets wählte Ivy White Kleidung, in der sie sich unsichtbar fühlte. Heute war es ein grob gestrickter grauer Rollkragenpulli, kombiniert mit einer ausgewaschenen Jeans, die zwei Nummern zu groß war. Aber sosehr sie auch versuchte, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, man sah sie trotzdem. Vielleicht lag es daran, dass sie sich auf eine so merkwürdige Weise an der Wand entlangdrückte, jedenfalls zog Ivy die Aufmerksamkeit auf sich wie ein Magnet. Manchmal war sie sicher, dass ihre Klassenkameradinnen nur darauf warteten, sie in Verlegenheit zu bringen und ihr gemeine Worte an den Kopf zu werfen.

"Womit kämmst du dir die Haare, White? Mit einer Harke?"

"Hast du dir die Hose mit Schokoriegeln ausgestopft, Fettarsch?"

Sie wollten, dass sie sich übergewichtig und hässlich fühlte, aber Ivy wusste, dass nichts davon auf sie zutraf. Sie war nicht so kantig und geschmeidig wie Mattie oder so offensichtlich hübsch wie Breeze, aber sie wusste Bescheid über ihre eigene ätherische Schönheit. Die Leute sagten es ihr ja ins Gesicht. Fremde sprachen sie deshalb auf der Straße an. Es gab kein Entkommen, und vielleicht war sie deshalb so bestrebt, sich schäbig zu kleiden, mit ausgebeulten Hosen, oder sich einen Tag den Bauch mit Süßigkeiten vollzuschlagen, nur um den nächsten Tag zu hungern. Um die Vollkommenheit zu verbergen? Oder um das Hässliche zu enthüllen, das sie verbarg?

Heute Morgen war sie nur bis zu Matties Zimmer gekommen. Dort trafen sie sich, um gemeinsam zum Frühstück in die Cafeteria zu gehen. Für Ivy war das der beste Teil des Tages. Sie war sich nicht sicher, wie Zusammengehörigkeit sich anfühlte. Aber sie stellte sich etwas Ähnliches vor wie die Wärme, die sie spürte, wenn sie mit Mattie, Jane und Breeze zusammen war.

In der Schule war Ivy nicht besonders gut, außer in Kunst. Sie liebte es, Kreideskizzen anzufertigen, und stellte verblüfft fest, dass ihr Vater das guthieß. Dass er an ihren Zeichnungen irgendetwas Gutes finden könnte, hatte sie nicht erwartet. Er war der klassische Workaholic, der von seiner Tochter denselben Ehrgeiz forderte.

Ivy sah eine kleine Gruppe Mädchen auf sich zukommen, also spurtete sie zu Matties Tür und schlüpfte hindurch. Ein kleiner Flur führte zum Zimmer. Vor den Blicken der anderen geschützt, blieb sie stehen und hörte ihr Herz pochen, während die Schülerinnen draußen vorbeizogen. Als sie weg waren, erregten die flüsternden Stimmen von drinnen Ivys Aufmerksamkeit. Ivy hörte ihren Namen und fragte sich, ob über sie gesprochen wurde. Sie stellte sich so nah an die Tür, dass sie alles verstehen konnte.

"Das können wir Ivy nicht sagen. Sie wird sich zu Tode erschrecken."

"Rowe droht, sie umzubringen, und wir sollen ihr nichts sagen?"

"Ivy ist die Schwächste von uns allen. Deshalb hat Rowe sich entschieden, sie zuerst zu töten. Sie weiß, dass wir alles tun würden, um Ivy zu beschützen. Jetzt haben wir keine andere Wahl, als Rowes ekelhaften Regeln zu gehorchen. Sie weiß das."

Ivy erstarrte. Diejenige, die ihr es nicht sagen wollte, war Mattie. Ivy erkannte ihre krächzende Stimme. Es dauerte einen Moment, bis sie die grausame Neuigkeit begriffen hatte. Sie war die Außenseiterin, wo immer sie auch war, sogar unter ihren Freundinnen – die Schwache, die Zielscheibe, und sie mussten sich ihretwegen opfern. Jetzt war es schon so schlimm, dass Miss Rowe drohte, sie umzubringen und die anderen vielleicht auch.

Sie schlich aus Matties Zimmer und rannte den Flur hinunter. Dabei fegte sie an einer kleinen Gruppe tratschender Mädchen vorbei. Sie alle drehten sich um und sahen Ivy an, aber keiner sagte etwas. Vielleicht sah Ivy White diesmal zu verrückt aus.

In ihrem Zimmer angekommen, ging sie direkt zu dem großen Schrank und rückte ihn von der Wand. Er war antik und hatte hinten eine Ausbuchtung, die groß genug war, um sich darin zu verstecken. Sobald sie sich darin eingerollt hatte, zog Ivy den Schrank mit den Beinen zurück. Keine der Aufsichtsdamen hatte sie hier jemals gefunden. Nicht einmal ihre Freundinnen wussten von diesem Versteck.

Warum um alles in der Welt fühlte sie sich nur dann sicher, wenn man sie nicht sehen konnte?

Am liebsten hätte sie ihre Sachen gepackt und wäre nach Hause gegangen, aber sie konnte nicht. Ihr Vater würde es niemals erlauben, und er würde niemals etwas Schlechtes über Miss Rowe denken – erst recht nicht, dass die Direktorin einen Mord plante. Diese Vorstellung würde ihn wahrscheinlich amüsieren. Er hatte die Schule nicht nur selbst ausgewählt, er unterstützte sie auch mit großzügigen Spenden. Aber, das war typisch für ihn, er hatte darauf bestanden, dass Ivy sich unter einem anderen Namen einschrieb, damit sie nicht bevorzugt behandelt würde. Sie hatte sich um ein Stipendium bewerben müssen, als käme sie aus einer mittellosen Familie. Nicht einmal Miss Rowe wusste, wer Ivy White wirklich war.

Nein, sie konnte nicht die Schmach auf sich nehmen und nach Hause gehen. Ihr Vater würde sie vermutlich sofort zurückbringen. Er wollte, dass sein Nachwuchs genauso hartgesotten und furchtlos handelte wie er selbst. Ivy sollte ihre Probleme selbst lösen und nicht bei ihm angeheult kommen. Ihr sensibler Charakter hatte ihn immer wütend gemacht, sogar als Ivy noch ein kleines Kind gewesen war. Das Verhalten ihres Vaters erklärte sie sich damit, dass er Angst vor Gefühlen hatte.

Zusammengekauert in ihrer Kuschelecke, dachte Ivy über ihre nahe Zukunft nach. Sie konnte nicht nach Hause gehen. Das hier war ihre letzte Zuflucht.