20. KAPITEL

"Also sagen Sie mir, Frau Wahrsagerin, gibt es ein Hotel 'Vier Jahreszeiten' in meiner Zukunft?"

Breeze bezog sich auf ihre Handinnenfläche, die sie Mattie entgegengestreckt hatte, damit sie darin lesen würde.

"Könnte sein", sagte Mattie, ohne einen längeren Blick auf Breezes Lebenslinie zu werfen. "Es könnte aber auch eine Zelle in San Quentin sein." Ehrlich, die Frau fing an, ihr auf die Nerven zu gehen. Vor einer Stunde war Breeze durch die Tür gekommen, frisch von einer Shoppingtour und so begeistert von den Geschäften in der Stadt, dass Mattie gezögert hatte, ihr die gute Laune mit der Nachricht von Brouds Tod zu verderben.

Mattie hätte sich allerdings keine Sorgen machen müssen. Denn nicht einmal eine Augenbraue hatte Breeze hochgezogen, sie hatte noch nicht einmal nach der Todesursache gefragt. Nicht dass Mattie eine Antwort gehabt hätte, aber ihr war das Fehlen der Nachfrage aufgefallen. Breeze hatte es als Tod an einer Überdosis abgetan und sofort vorgeschlagen, eine Pyjamaparty zu veranstalten, um auf andere Gedanken zu kommen.

In diesem Augenblick wusste Mattie, dass sie auf sich gestellt war. Jane war zu angeschlagen, um ins Vertrauen gezogen zu werden, und Breeze stand dem Fall gleichgültig gegenüber. Schon immer hatte Breeze die erstaunliche Fähigkeit besessen, Dinge einfach auszusitzen. Langsam begann Mattie, sich zu fragen, ob es dafür noch andere Gründe als Ignoranz geben könnte. Angst vielleicht. Manchmal kam es ihr vor, als ob Breeze etwas verschwieg. Ganz offensichtlich wollte sie nicht über Brouds Tod sprechen.

Mattie schob Breeze einen Teller mit Keksen hinüber. "Kann dir das 'Vier Jahreszeiten' etwas Besseres bieten als Ingwerplätzchen und Bio-Kräutertee?"

"Herr im Himmel, natürlich nicht. Die Verrückten dort müssen sich mit Schokoladentrüffel und Champagner begnügen." Breeze drehte die Hand und inspizierte ihre Nägel.

Es war noch früh am Abend, aber Breeze hatte vorgeschlagen, dass sie es sich gemütlich machten. Obwohl sie der Meinung war, dass sie lieber eine Liste mit möglichen Verantwortlichen für Miss Rowes Tod aufstellen sollten, tat Mattie ihrem Hausgast den Gefallen. Das wäre wenigstens ein Anfang gewesen, und die einsamen Mädchen wären in der einzigartigen Position, über Verdächtige spekulieren zu können – leider hatte aber keine von ihnen je einen von Miss Rowes Männern gesehen. Entweder hatten sie eine Augenbinde tragen müssen, oder der Raum war verdunkelt gewesen, um die Anonymität des Mannes zu schützen.

Mattie zupfte an ihrem Fußballtrikot. "Mir kannst du nicht vorwerfen, dass ich es mir nicht gemütlich gemacht hätte."

Breezes Vorstellung von Gemütlichkeit entsprach eher ein eierschalenfarbenes Seidennachthemd. Die Leckereien auf dem Tablett, das sie auf das antike Holzbett in Matties Gästezimmer gestellt hatten, kam ihren Vorstellungen schon näher. Momentan hatte sie allerdings kein Interesse an Keksen. Sie blickte konzentriert auf etwas, das wie ein Riss in ihrem glitzernden Fingernagel aussah.

Mattie hätte eine Lupe gebraucht, um ihn zu entdecken, aber wenn es um Körperpflege ging, hätte Breeze ein Atom entdeckt, das einen Mikromillimeter aus der Spur geraten war. Sie achtete nicht nur minutiös auf ein intaktes Äußeres, sie lebte diese Perfektion.

Während sich Breeze in die Kissen gekuschelt hatte, lag Mattie auf dem Bauch ausgestreckt, um der Freundin aus der Hand lesen zu können.

"Versteh mich nicht falsch", sagte Breeze und griff nach einem Ingwerplätzchen. "Dein Häuschen ist süß. Ich liebe die Fensterläden und die derben Stoffe und die Klarheit. Es ist so gar nicht die wilde Mattie, die ich kannte. Aber … wenn wir im 'Vier Jahreszeiten' wären, könnten wir eine Masseurin auf das Zimmer bestellen, die jedes Zipperlein einfach wegmassiert. Oder einen Masseur, wenn wir das lieber hätten. Die Fußreflexzonenmassagen dort sind ein Traum. Und die Matratzen, Mattie …" Sie seufzte. "Mein Rücken ist so empfindlich."

"Mmm." Mattie war in die Betrachtung von Breezes Handinnenfläche versunken. Sie studierte eine wunderschöne, sinnliche Form mit einem Schattental zwischen zwei rundlichen Hügeln. Die Linien waren verzweigt und exotisch. "Deine Liebeslinie hat so viele Verzweigungen, dass sie ein Baum sein könnte – und der Venushügel, wow."

"Na ja. Was ist mit dem Geschäft und der Gesundheit? Und wie sieht die Schicksalslinie aus?"

"Eins nach dem andern. Ich versuche mich gerade zu erinnern, wie das noch ging. Ich glaube, eine fehlende Schicksalslinie kann Probleme bedeuten."

"Meine Schicksalslinie fehlt?"

Irgendwo im Haus klingelte ein Mobiltelefon, und Mattie erkannte es als ihres. Sie legte es normalerweise auf den Nachttisch, aber ihr Schlafzimmer befand sich am Ende des Flurs. Das Klingeln kam aus dem Wohnzimmer. Vermutlich hatte sie ihre Handtasche dort gelassen.

"Ich bin gleich zurück", sagte sie Breeze, die sich inzwischen interessiert ihre Hand anschaute.

"Welches ist die Schicksalslinie, Mattie?", rief sie hinter ihr her, als Mattie aus der Tür stürzte. "Mattie?"

Das Handy lag tatsächlich in Matties Tasche, so wie sie gedacht hatte. Sie hatte sie neben dem Brunnen auf dem Fußboden liegen lassen. Das verletzte Knie knackte, als Mattie sich hinkniete und nach dem Telefon tastete. Der Knieschmerz ließ sie zusammenzucken. Heute tat es mehr weh, sie sollte wirklich jede Belastung vermeiden. Es war an der Zeit, einen Termin beim Arzt zu machen.

Die Nummer, die im Display des Telefons erschien, gehörte dem Detektiv, den sie angeheuert hatte. "Vince? Hier ist Mattie."

Jane war gegen den Einsatz eines Privatdetektivs gewesen, aber Mattie hatte die Initiative ergriffen und ihn trotzdem angerufen. Sie kannte Vince Denny, weil sie oft als Anwältin mit ihm zu tun gehabt hatte, und sie vertraute ihm vollkommen.

"Ich habe einige Informationen zu dem Thema, über das wir gesprochen haben", sagte Vince.

Mattie sammelte sich. "Schieß los."

"Jameson Cross ist ein Pseudonym. Sein echter Name ist Jimmy Broud. Vielleicht erinnerst du dich sogar an den Kerl. Er lieferte Vorräte aus, und die Rowe-Akademie gehörte zu seinen Kunden. Es war zu der Zeit, als du dort zur Schule gingst."

Jimmy Broud. "Hat er einen Bruder?"

"Ich denke, du kennst ihn. Sein Bruder war William Broud, der Insasse des Todestraktes, der tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden wurde."

"Oh, mein Gott", flüsterte sie. Jetzt wusste sie, warum Jameson Cross ihr so bekannt vorgekommen war. Er hatte damals die Schule beliefert, der süße Stadtjunge. Mattie war lange heimlich in ihn verknallt gewesen, aber er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie existierte. In Ivy, die Schöne, war er verliebt gewesen. Es schien, dass jeder Mann in Ivys Reichweite dahinschmolz. Nur hatte sie dem wehmütigen Typ entsprochen, der überhaupt kein Interesse an Jungs zeigt. Mattie hatte irgendwann gedacht, dass schon jemand Ivy das Herz gebrochen hatte. Dafür hätte sie keinen dummen Schuljungen gebraucht.

Jetzt verstand Mattie auch Cross' Wut. Er hatte seinen Bruder tot aufgefunden und nahm an, dass sie und ihre Freundinnen ihn ermordet hätten, um ihr angeblich vor dreiundzwanzig Jahren begangenes Verbrechen zu vertuschen. Natürlich wollte Cross seinen Bruder rächen – und er war schon gefährlich gewesen, als er in der Vergangenheit nur herumschnüffeln wollte, um ein Buch darüber zu schreiben. Mattie konnte nur hoffen, dass Breeze recht hatte und Broud an einer Überdosis Drogen gestorben war.

"Mattie? Ich habe noch mehr."

Beinah hatte sie vergessen, dass sie sich immer noch das Telefon ans Ohr hielt. "Was ist es?" Sie wusste nicht, ob sie an diesem Abend noch mehr ertragen konnte.

"Cross hat Fragen gestellt. Er hat mit den Leuten in Rowe gesprochen und mit anderen aus Tiburon. Es geht um einen Mord, der dort vor dreiundzwanzig Jahren stattgefunden hat, und er interessiert sich für die Namen einiger Mädchen, die zu der Zeit in Rowe zur Schule gingen."

"Danke, Vince." Sie wollte das Gespräch beenden, aber Vince war noch nicht fertig.

"Ich schlage vor, dass du mit einer jungen Dame namens Tansy Black Kontakt aufnimmst", sagte er. "Sie ist die Anwältin, die William Broud aus dem San Quentin geholt hat, Spezialistin für Verfassungsrecht aus Stanford und laut meinen Quellen unglaublich clever und zwanghaft perfektionistisch."

"Stanford?" Da hatte Mattie seinerzeit auch studiert, aber das Abschlusszeugnis wahrscheinlich schon lange vor dieser Frau erhalten.

"Offensichtlich leidet sie unter dem Borderline-Syndrom oder einer anderen Persönlichkeitsstörung. Sie reizt alles bis zum Äußersten aus. Einmal hat sie den Angeklagten in einem Fall sexueller Belästigung in einer aufreizenden Aufmachung ins Kreuzverhör genommen und den armen Bastard tatsächlich dazu gebracht, das zu wiederholen, weswegen er vor Gericht stand. Sie soll von der Anwaltskammer bestraft worden sein, und sie ist erst dreiundzwanzig."

"Ich mag sie jetzt schon." Mattie lächelte. "Wo kriege ich sie zu fassen?"

"Sie ist außer Landes, auf einer Recherchereise, wenn man ihrer Mailbox glaubt. Willst du ihre Mobilnummer?"

Augenblicklich suchte Mattie in der Tasche nach einem Stift.

Kurz darauf lauschte sie der Ansage der Mailbox, von der Vince gesprochen hatte. Wenn Black tatsächlich außer Landes war, müsste ihr Handy auch im Ausland Gespräche empfangen können. Als Mattie Namen und Rufnummer hinterließ, überlegte sie, ob sie hinzufügen sollte, dass es dringend sei. Aber warum das jetzt schon verraten? Das könnte genau der Hinweis sein, auf den sie wartete. Eine kleine Anwältin wie Tansy Black, die auf einem Berg von Gold saß – und alles, was Mattie von ihr wollte, war, das Vermögen zu teilen. Worum es ihr ging, würde Black noch früh genug herausfinden.

Jameson schoss aus seinem Bett hoch. "Jesus", keuchte er. "Was war das?" Er suchte nach Shorts, Jeans, nach irgendetwas, das er sich überwerfen könnte. Sein Schlafzimmer erstreckte sich über das hintere Ende des Hauses und war nur durch einen hängenden Pergamentschirm abgetrennt. Der Knall, den Jameson gehört hatte, kam vom anderen Ende. Hatte jemand die Tür aus der Verankerung gerissen?

Ein Blick auf seinen Radiowecker verriet ihm, dass es ein Uhr nachts war. Er konnte noch nicht lange geschlafen haben. Adrenalin rauschte ihm durch die Adern, sein Nervensystem stand unter Strom.

War das schon wieder der verdammte Briefschlitz? Schnell stieg Jameson in die Jeans, die auf dem Schieferboden gelegen hatten und jetzt kalt waren. "Ich werde das Scheißding mit Brettern zunageln," fluchte er leise.

Als er zur Eingangstür kam, fand er eine Videokassette auf dem Boden. Jemand hatte das Ding mit Gewalt durch den Schlitz gequetscht. Auf einem Aufkleber stand: Angemessenes Verhalten für moderne junge Frauen – der Genuss von gutem Essen, Tischmanieren, besonnene Auswahl von Speisen und Gewichtskontrolle.

Daneben lag ein gefalteter Zettel. Jameson bückte sich und hob ihn auf. In handgeschriebener Blockschrift stand dort: Öffne die Tür. Da sind noch mehr.

Jameson sah durch das Schlüsselloch, entdeckte draußen aber niemanden. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, konnte er die drei versiegelten Kartons auf den Stufen nicht übersehen. Sie waren groß genug für mehrere Dutzend Kassetten, doch er zögerte, direkt nachzusehen. Obwohl Jameson keine polizeiliche Ausbildung genossen hatte, wusste er viel über Verbrechen. Außerdem hatte der 11. September einiges an seinem Umgang mit Kartons ohne Absender verändert.

Er stieß mit dem Fuß gegen den ersten Karton. Das Behältnis war schwer, konnte aber angehoben werden. Vorsichtig drehte Jameson es mit den Händen um und hörte, wie der Inhalt sich bewegte. Er entdeckte keine Markierungen, Flecken oder Gerüche, die auf eine Bombe hinwiesen. Deshalb nahm er das Taschenmesser, das er stets an den Jeans trug, und schnitt das Klebeband auf.

Kassetten, mindestens zwei Dutzend. Der zweite Karton war ebenfalls randvoll mit Bändern.

Wenn seine Vorahnung stimmte, lagen vor ihm die Lehrbänder von Miss Rowe, diejenigen, die als Beweisstücke weggeschlossen worden waren. Er hatte Frank nach dem Zugriff auf diese Bänder gefragt, und der hatte ihn ausgelacht. Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten, ging es Jameson durch den Kopf. In diesem Fall wäre er derjenige. Frank wollte vielleicht nicht, dass er die Bänder sah, aber irgendjemand anders offenbar schon.

"Hört ihr mir aufmerksam zu, Ladys? Ich habe eine wichtige Frage. Was würdet ihr für den offensichtlichsten Indikator sozialer Klasse halten? Irgendjemand? Nur keine Scheu."

Millicent Rowe durchschritt das Klassenzimmer, während sie sprach, eine Hand in der Tasche ihres bestickten marineblauen Blazers. Der hölzerne Zeigestock unter ihrem Arm glänzte von altmodischem Zitronenöl, ihre grauen Flanellhosen und die italienischen Lederhalbschuhe deuteten auf Geld und einen ziemlich guten Geschmack hin.

Als er die Aufnahmen betrachtete, erwartete Jameson eine Überraschung. Millicent Rowe war ein heißer Feger gewesen. Ihre leuchtend grünen Augen hatten fast die gleiche Farbe wie die Smaragdstecker, die an ihren Ohrläppchen funkelten. Ihr Gesicht war fein geschnitten, vielleicht ein bisschen zu vornehm für seinen Geschmack. Er hatte gelesen, dass sie mit dreißig Jahren gestorben sei. Dass die Direktorin eine derart heiße Lady gewesen war, hatte Jameson nicht erwartet.

"Der Beruf, Miss Rowe?", fragte eine der Schülerinnen.

"Der familiäre Hintergrund", sagte eine andere.

Der Ton der Direktorin war bissig. "Ihr hört nicht zu, Ladys. Ich will den offensichtlichsten Indikator, das Erste, was man bemerkt, noch bevor man sich vorstellt."

"Ähm … das Outfit?"

Sie wandte sich der Schülerin zu, die gerade gesprochen hatte. "So sprechen wir nicht über unsere Erscheinung, Deirdre. Wir tragen Kleidung, kein Outfit. Die Damen der Rowe-Akademie sind und werden nie Sklavinnen der Mode sein. Das wäre vulgär."

Die Direktorin schien sich der Spannung, die sie erzeugte, indem sie ihre jungen Schützlinge umkreiste und hinter ihnen entlangging, voll bewusst zu sein. Sie nutzte dieses Manöver schamlos aus und benutzte ihren Zeigestock, um damit gelegentlich auf die Wände und die leeren Tische zu klopfen. Zusammengesunkene Schülerinnen bekamen einen Klaps auf den runden Rücken, woraufhin sie sofort wieder einhundertprozentig anwesend waren.

Angst beherrschte das kleine Klassenzimmer, das war auf den alten Videobändern offensichtlich. Jameson drückte auf den Lautstärkeknopf seiner Fernbedienung. Er wollte kein Wort verpassen.

"Größe", sagte Miss Rowe. "Das Erste, was wir wahrnehmen, ist die Größe einer Person, und wir urteilen bereits aufgrund dessen über sie. Die gehobene Klasse ist tendenziell groß und dünn, dünn, dünn. Historisch betrachtet mussten sie keiner handwerklichen Arbeit nachgehen und sich nicht die Körpermasse der niederen Schichten aneignen, also kann man im Allgemeinen sagen: Je kräftiger der Körperbau, desto niedriger die Klasse."

Einige ihrer Studentinnen runzelten unzufrieden die Stirn. Andere, die meisten mit schlankem Körperbau, schienen insgeheim erfreut.

"Ich sagte nicht, dass das fair ist", fügte Miss Rowe hinzu, "aber ob wir es nun mögen oder nicht, unsere Wahrnehmung von Dingen gestaltet unsere Realität, und das war schon immer die Gesellschaft. Wer auch immer sagte, du kannst nicht zu reich oder zu dünn sein, hat sich darauf bezogen."

"Das Haus Windsor ist aber kleinwüchsig und stämmig."

Das Mädchen neben Matilda Smith hatte sich zu Wort gemeldet. Die Bildqualität des Videos war schlecht, aber Jameson hatte sie als eines der einsamen Mädchen identifiziert. Sie hatte dichtes, kastanienbraunes Haar, das ihr fast bis zu den Schultern reichte, dunkle Augen und einen herzförmigen Mund. Noch wichtiger, sie war sehr schlank.

"Ausnahmen wird es immer geben, Jane", sagte Miss Rowe, "aber auf sie können wir uns nicht stützen. Sie verwirren uns, also lehnen wir sie ab und hängen an dem Vertrauten. Deshalb gibt es Stereotypen, die wir vielleicht furchtbar finden, die allerdings in höchstem Maße hilfreich dabei sind, unsere Welt zu ordnen. Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass unsere Polizeibeamten die öffentliche Sicherheit schützen, obwohl einige das nicht tun. Denk darüber nach, wie es wäre, wenn wir uns nicht auf allgemeine Annahmen stützen könnten. Chaos."

Schweigend durchschritt sie den Raum und ließ die Klasse einen Moment lang nachdenken. Dann richtete sich ihr Blick auf eine wunderbare Gestalt, die ganz allein in der letzten Reihe saß und aussah, als wäre sie gern überall, nur nicht in diesem Raum.

"Wir machen einen kleinen Test", bestimmte Miss Rowe. "Ich brauche eine Freiwillige. Wie wäre es mit dir, Ivy? Warum kommst du nicht zu mir nach vorn?"

Ivy White, um dieses Mädchen kreisten Jamesons jugendliche Träume, seit sich eines Morgens beim Gang über den Hof ihre Blicke trafen, als er sie beobachtete. Sie wandte sich sofort ab, ihr Engelsgesicht glühte vor Verlegenheit. Damals war sein Name noch Jimmy Broud und sie für ihn unerreichbar – was sie für ihn noch viel verführerischer machte.

Ivy kämpfte sich hinter ihrem Schreibtisch hervor, hinter dem sie sich versteckt zu haben schien. Mit gesenktem Kopf ging sie nach vorn, und Jameson bemerkte etwas, das er vor vierundzwanzig Jahren nicht gesehen hatte. Ivy hatte immer noch Babyspeck. Er würde sie nicht als pummelig oder sogar üppig beschreiben, aber sie war weich und wohlgerundet, nicht elfenhaft. Das Gegenteil der Direktorin.

Ivy ging so langsam, dass Miss Rowe ihr entgegenkam und sie an der Hand nach vorn vor die Klasse zog. Einen Daumennagel drückte sie dem Mädchen in die Wirbelsäule. Als Ivy sich aufrichtete, hob die Direktorin das Kinn des Mädchens an und strich ihr die wilden tizianroten Locken aus dem Gesicht. Als Miss Rowe mit ihrem erkennbar unglücklichen Schützling fertig war, wandte sie sich an die Klasse.

"Welcher Klasse entspricht Ivy gewichtsmäßig? Irgendjemand?"

Ein Kichern ging durch den Klassenraum, bevor ein Mädchen murmelte: "Offensichtlich einer niedrigeren. Ihre Fußgelenke sind wie Baumstümpfe."

"Da kann sie nichts machen", erklärte eine andere, "sie hat Knochen wie ein Landarbeiter."

"Sie kann schon etwas dagegen machen", rief ein drittes Mädchen. "Sie könnte aufhören, Schokoriegel zu inhalieren."

Als wäre sie geschlagen worden, zuckte Ivy zusammen. Ihr aschfarbenes Gesicht wirkte auf Jameson, als könne sie jeden Augenblick ohnmächtig werden. Die Bosheit der anderen Mädchen erstaunte ihn. Ivy hatte keinen stämmigen Knochenbau, sie war nicht einmal besonders kräftig. Woher sie stammte, wusste er nicht, aber es überraschte ihn, dass die Direktorin nichts unternahm. Es war bloße Grausamkeit.

Als die Kamera das komplette Klassenzimmer zeigte, bemerkte er Mattie Smiths Reaktion und war sofort davon fasziniert. Das winzige Mädchen mit den kobaltblauen Augen war kurz davor, von seinem Sitz hochzuspringen. Hass blitzte in ihren Augen, und er richtete sich genauso gegen die Direktorin wie gegen die anderen Schülerinnen. Zu behaupten, dass sie ausehe, als wolle sie Millicent Rowe umbringen, war eine Untertreibung. Sie wirkte, als wäre sie bereit, einen Massenmord zu begehen.

Jameson beschäftigten zwei Gedanken. Er konnte Ivys Scham und Wut spüren. Und er hatte Mitleid, nicht nur mit ihr, sondern mit allen Mädchen. Sie waren Kinder, leicht zu beeindrucken und zu leiten. Jameson fragte sich, wie es zu einer so aggressiven Reaktion bei Mattie Smith kommen konnte. Zuvor musste es zumindest einen ähnlichen Vorfall gegeben haben. Es musste etwas zwischen ihr und der Schulleiterin passiert sein, und Jameson vermutete, dass es eine hässliche Geschichte war.

Er hatte Billys Anschuldigungen lange Zeit nicht geglaubt. Niemand hatte das. Billy war eine verlorene Seele, jemand, der schon zu oft gelogen hatte. Aber jetzt konnte Jameson einen Zugang zu den Behauptungen seines Bruders finden, auch wenn er sich durch neunundvierzig Videokassetten spulen musste.

Er stapelte die Bänder neben seiner Musikanlage. Weil er kein Verzeichnis gefunden hatte, konnte er nicht ermitteln, ob die Bänder komplett waren. Aber Billy hatte etwas auf ein Stück Papier gekritzelt, das Jameson jetzt wieder einfiel. Er hatte den Leser seiner Aufzeichnungen gedrängt, sich die Bänder zu besorgen, dann hatte er noch zwei weitere Wörter aufgeschrieben.

Eines fehlt.