36. KAPITEL
Mattie rang nach Atem und wachte schließlich dadurch auf. Verwirrt öffnete sie die Augen und blinzelte durch etwas hindurch, das Tränen gewesen sein konnten. Einige Sekunden lang sah Mattie nichts als dunstige Helligkeit, so als hätte jemand eine Schneekugel geschüttelt und wieder hingestellt. Alles schwebte und glitzerte. Allmählich nahm das Zimmer wieder Konturen an, und Mattie wusste, wo sie war.
In David Grace' Villa. Einen Kontinent von ihrem Alltag entfernt, wo die Menschen entweder versuchten, sie zu töten, sie bedrohten oder ruinieren wollten.
Um den Kopf klar zu bekommen, setzte sie sich auf. Wenn sie nicht verrückt war, fühlte sie sich zumindest so. Sie hatte Tränen in den Augen, ihre Brust fühlte sich an wie zerquetscht. Es war nur ein Traum gewesen, aber das tröstete Mattie nur wenig. Die Gefühle waren schmerzhaft realistisch gewesen, und sie hatte keine Ahnung, was dieser Traum bedeutete. Betrauerte sie den Verlust eines Kindheitswunsches? War Jimmy Broud für sie gestorben und verloren? Oder wollte ihr das Unterbewusstsein sagen, dass Jameson in Gefahr schwebte?
Vielleicht wünschte sie, er wäre tot. Beide, der Lieferjunge und der erpresserische Erwachsene, der er geworden war. Das würde Sinn ergeben. Beide hatten ihr das Leben zur Hölle gemacht, wenn man so wollte.
Tiefgoldene Lichtstrahlen fielen durch die Fensterläden und kündeten vom Spätnachmittag – oder vom frühen Abend. Einige Stunden musste Mattie geschlafen haben. Sie setzte sich langsam auf, erhob sich und suchte ihre Tasche.
Das Handy fand Mattie in der Seitentasche. In den Staaten war es vermutlich mitten in der Nacht. Dennoch musste Mattie einen letzten Versuch unternehmen, sich mit Jameson zu einigen. Er verlangte Unmögliches von ihr, und er könnte all ihre Pläne und Hoffnungen so leicht zunichte machen.
Ihr Telefon sprang automatisch auf die gegenwärtige Zeitzone um. In Italien war es halb sieben am Abend. Davon ausgehend, hätte Mattie ausrechnen können, wie spät es in Kalifornien war. Aber sie machte sich die Mühe nicht. Es kostete sie schon genug Konzentration, sich an die richtigen Ziffern zu erinnern. Minuten vergingen, bis die Verbindung zustande kam, doch schließlich erreichte sie Jamesons Mailbox. Sie wollte mit ihm reden, statt einem weiblichen Androiden zuzuhören, der darum bat, eine Nachricht zu hinterlassen. Immerhin hatte Mattie die richtige Nummer gewählt.
"Jameson, hier ist noch mal Mattie", sagte sie. "Ich musste wegen eines Notfalls nach Europa, aber in ein paar Tagen bin ich zurück. Jameson, ich brauche mehr Zeit. Ich bitte dich, zu warten, bis ich zurück bin und wir darüber reden können."
Ein Piepsen signalisierte, dass sie eine neue Mitteilung empfangen hatte. Eilig beendete Mattie den Anruf bei Jameson und rief ihre Mailbox ab, überrascht, Breezes Stimme zu hören. Sie und ihr Typ vom Militärgeheimdienst hatten begonnen, Recherchen über David Grace anzustellen, und bereits etwas in Erfahrung gebracht.
"David Grace' Frau, Cynthia, starb vor über zwanzig Jahren bei der Geburt eines Kindes", berichtete Breeze. "Er hat nie wieder geheiratet, aber hör dir das an: Rowe wurde sechs Monate nach dem Tod seiner Frau ermordet. Cynthia Grace war kurz vor ihrem Tod in einer Klinik in der Nähe von Ravello, nicht weit von der Villa entfernt, in der du dich gerade aufhältst. Dort sind sie und das Baby gestorben. Vielleicht kannst du ein bisschen herumschnüffeln, solange du da bist."
Breeze nannte Cynthia Grace' Mädchennamen, unter dem die Klinik sie registriert hatte und das Todesdatum. Dann verabschiedete sie sich mit dem Versprechen, sich wieder zu melden, wenn sie etwas Neues erführe.
Die Direktorin und David Grace' Frau starben innerhalb von sechs Monaten? Mattie rechnete von Miss Rowes Tod im Februar 1982 zurück zum Sommer des Jahres davor. War es Zufall, dass Miss Rowe in den Monaten vor ihrem Tod begonnen hatte, einen aufgelösten Brief an Grace zu schreiben, in dem von einem wertvollen Geschenk und einem tragischen Verlust die Rede war? Mattie fragte sich, ob möglicherweise beide Frauen ihre Babys verloren hatten.
Jetzt hatte sie keine Zeit, diese Überlegungen zu Ende zu führen. Aber sie hatte die feste Absicht, dem nachzugehen. Wenn es möglich wäre, würde sie der Klinik einen persönlichen Besuch abstatten. Zuvor musste sie auf der Terrasse eine Verabredung mit ihrem Gastgeber wahrnehmen.
Zwanzig Minuten später betrat Mattie in einem schwarzen Sommerkleid und mit frisch gewaschenem Haar den Balkon, der dem Wohnzimmer gegenüberlag. Es war der mittlere dreier verbundener Balkone, die sich über die gesamte Länge der Villa zogen. Wenn Mattie sich richtig an die Aufteilung des Hauses erinnerte, waren die anderen vor dem Schlafzimmer des Hausherrn und vor dem Esszimmer angebracht.
Die Aussicht war atemberaubend. Vom Balkon aus konnte man einen perfekt gepflegten Rasen mit kunstvoll beschnittenen Sträuchern bewundern. Mattie sah einen Pool funkeln, der von Marmorsäulen flankiert wurde. Es erinnerte sie an römische Ruinen. Dahinter konnte man die rauen, dunstverhangenen Klippen der Amalfiküste und den Golf von Salerno erblicken. Seine rosafarbenen Schattierungen verdankte der Dunst der untergehenden Sonne.
Ihre Sandaletten klackten auf den Marmorböden. Aber falls Grace sie kommen hörte, gab er dies nicht zu erkennen. Er saß an einem großen mit Patina überzogenen Eisentisch und sah auf das Meer hinaus. Das bunte Seidenhemd, die sandfarbenen Hosen und die geflochtenen Sandalen entsprachen dem lässigen Chic eines reichen Europäers. Die Melancholie, die Mattie schon zuvor aufgefallen war, hatte sich tief in sein Gesicht eingegraben.
Mattie war sich sicher, dass es etwas mit einer Frau zu tun hatte. Mit Miss Rowe vielleicht, oder mit seiner Ehefrau. War sie die wunderschöne, von Schatten umgebene Figur, die er immer wieder malte? Oder war es Millicent Rowe – das würde erklären, warum das Gesicht Mattie vertraut vorgekommen war. Es erschien ihr unmöglich, dass die traurigen Augen Miss Rowe gehörten. Dennoch, irgendetwas hatte die Direktorin zu ihren Grausamkeiten getrieben, vielleicht ein unerträglicher Schmerz.
"Wunderhübsch", sagte Grace und sah hoch, als Mattie zu ihm trat. Er ließ einen kritischen Blick über ihr Kleid gleiten, bevor er anerkennend nickte. Mattie fühlte sich so geschmeichelt und erleichtert, als hätte sie eine Inspektion überstanden.
"Kommen Sie doch zu mir." Um Mattie den Stuhl zurechtzurücken, stand David Grace auf. "Douglas sollte bald mit dem ersten Gang hier sein. Er zählt Kochen zu seinen vielen Talenten und hat Ihnen zu Ehren den ganzen Nachmittag in der Küche verbracht. Möchten Sie ein Glas Champagner?"
Mattie nickte, und er schenkte ihnen beiden ein und murmelte "Salute", als die silbernen Gläser beim Anstoßen klirrten. Wenige Augenblicke später erschien Douglas mit einem Teller Kaviar-Kanapees in der Hand. Einen bunten Antipastisalat und eine Auswahl regionaler Delikatessen trug er dazu auf. Mattie nahm sich von den Kanapees und beträufelte sie mit dem Saft einer Zitrone, die in einem Baumwolltuch eingewickelt war.
Sie knabberte selig, genoss jeden pikanten Happen, bis David sie überredete, die Calamari zu probieren. Tintenfisch hatte nie zu ihren Favoriten gehört, doch der hier war in Oliven, Tomatensaft und Knoblauch eingelegt, einfach köstlich.
Als sie fast fertig waren, erschien Douglas mit einer zweiten Platte. Auf dieser befand sich eine Ansammlung von Muscheln, Garnelen und Krabben in einer butterigen, scharfen Soße. Außerdem gab es gegrillten Sägebarsch, geschmorte Trüffel und frischen Spargel.
David riet Mattie, mit dem Sägebarsch zu beginnen, damit sie die feinen Aromen zuerst genießen konnte. Sie tat, wie geheißen, und kostete anschließend die Muscheln und ein zweites Glas Champagner. Mattie hätte seufzen können, so lecker war alles.
Dass David Grace sie während der Mahlzeit beobachtete, war Mattie nicht entgangen. Sein Gesichtsausdruck hatte ihr gezeigt, dass etwas so Einfaches, wie eine Frau gutes Essen genießen zu sehen, ihm Freude bereitete. Mattie hatte den Eindruck, dass Grace die meiste Zeit allein verbrachte.
Während eines leichten Desserts, bestehend aus italienischem Eis, stellte sie die Frage, die ihr seit Stunden unter den Nägeln brannte. "Jane sagte mir, dass Sie bei meiner Ernennung ans Bundesgericht behilflich waren. Darf ich fragen, wie Sie das gemacht haben?"
Seine Ellbogen waren auf dem Tisch abgestützt. "In Ihrem Fall ging alles sehr glatt. Ihre Erfolge sprechen für sich, und der Kongress hatte nicht viel einzuwenden, weil Sie sich politisch nicht verzettelt hatten. Im Übrigen, Mattie, repräsentieren Sie in meinen Augen das Ideal einer Juristin. Wir haben einfach zu wenige Rechtsgelehrte, die bereit sind, ihre persönlichen Neigungen zu vernachlässigen und sich nur auf den Fall zu konzentrieren. Sie tun das grundsätzlich und es ist … erfrischend."
Er nickte ihr mit Bewunderung in den Augen zu, und Mattie fühlte sich aufrichtig geschmeichelt.
"Vielen Dank für alles", sagte sie einen Moment später, als sie zum Abschluss entkoffeinierten Espresso aus kleinen Tassen tranken. "Ich werde morgen wieder abreisen." Sie hoffte, ihn mit dieser Ankündigung dazu zu bringen, dass er ihr die Neuigkeiten verriet.
"Es ist eine Schande, dass Sie nicht länger bleiben können. Sie haben noch nichts von der Gegend gesehen. Aber die Pflicht ruft, das verstehe ich natürlich. Ich habe morgen früh selbst geschäftlich zu tun, deshalb habe ich dafür gesorgt, dass Ihnen ein Fahrer zur Verfügung steht. Er wird Sie zum Flughafen bringen, wenn Sie so weit sind. Falls Sie noch irgendwo anders hinmöchten, sagen Sie ihm einfach Bescheid. Er stammt aus der Gegend und könnte genauso gut als Fremdenführer fungieren."
"Das ist sehr freundlich." Sie setzte die Tasse auf dem winzigen Unterteller ab. "Sie sagten, Sie hätten gute Neuigkeiten."
"Nun, vielleicht nicht im herkömmlichen Sinne." Er stand auf und ging ein paar Schritte auf das Terrassengeländer zu. "Jane erzählte mir, dass Sie drei von einem Schriftsteller namens Jameson Cross belästigt werden. Wenn ich etwas im Leben gelernt habe, dann, dass die meisten von uns Geheimnisse haben, die nicht entdeckt werden sollen. Und dass wir bis zum Äußersten gehen, um diese Geheimnisse zu schützen."
"Jameson hat so ein Geheimnis?"
"Seine Arbeit hat ihn zu einer öffentlichen Person gemacht – und damit zum potenziellen Opfer für Erpressungsversuche. Das ist der Preis des Erfolgs."
Die Wendung des Gesprächs überraschte Mattie – sie war nicht sicher, ob sie Grace' Neuigkeiten noch hören wollte. Würde er ihr erzählen, dass die Zweifel gegenüber Jameson berechtigt seien? Vielleicht zog er tatsächlich nachts los und tat Dinge, wie sie die Zeichnungen an seiner Wand abbildeten. Oder noch schlimmer, er hatte Mattie angegriffen. Natürlich musste sie es wissen. Und wenn sie diese Information nutzen konnte, würde sie es.
"Warum tun Sie das?"
"Weil Jane eine Freundin ist und mich um Hilfe gebeten hat."
Ganz so einfach war es nie, aber Mattie wollte sich jetzt auf keine Diskussion einlassen.
"Habe ich irgendwelche Grenzen überschritten?", fragte er. "Wenn Sie die Information lieber nicht hätten, dann sagen Sie es einfach."
"Nein, bitte sagen Sie mir, was Sie wissen."
Er kam zurück zum Tisch und füllte die Champagnergläser erneut. Als er sich hinsetzte und ihr alles erzählte, wurde der Himmel zuerst rosa, dann violett und schließlich nachtblau. Das Grinsen des Halbmondes spiegelte sich auf dem weinfarbenen Meer. Mit jeder Sekunde wurde alles in Matties Umgebung immer schöner – während David Grace ihr eine Geschichte erzählte, die Mattie zutiefst verstörte, sodass sie sich von ganzem Herzen wünschte, sie hätte nicht gefragt.
Als Mattie aufwachte, war das Frühstück in ihrem Zimmer angerichtet. Ein Tablett mit Brötchen, Kaffee, frischen Früchten und Saft stand auf der Samtbank am Fußende ihres Bettes. Mattie hatte nicht einmal gehört, wie Douglas den Raum betreten hatte. Das fand sie etwas unheimlich, aber vielleicht waren die Reichen daran gewöhnt, dass Leute in ihren Zimmern herumschlichen und sich um Dinge kümmerten, während sie selbst schliefen.
Das Festessen von gestern Abend hatte sie mehr als gesättigt, und sie konnte das Frühstück deshalb nicht anrühren. So griff sie nur nach ein paar Apfelschnitzen, während sie sich fertig machte. Sie hatte nicht einmal ausgepackt, also gab es nichts zu tun, außer zu duschen, sich anzuziehen und loszufahren. Sie würde den Fahrer bitten, in Ravello anzuhalten, damit sie etwas Sightseeing machen könne. Natürlich wollte sie in Wahrheit die Klinik besuchen und so viel Informationen wie möglich über David Grace' Frau sammeln.
Die Fahrt in die Stadt dauerte nicht lang, obwohl die Strecke über die schlechte Straße an den Klippen entlang gefährlich war. Der Fahrer ließ Mattie im malerischen Stadtzentrum aussteigen und versprach, sie dort in einer Stunde abzuholen. Kaum war er aus ihrem Blickfeld verschwunden, rief Mattie ein Taxi und ließ sich zur Klinik fahren. Das Krankenhaus war in einem wunderschönen, verwinkelten alten Anwesen untergebracht, das in blumenreichen Gärten lag und atemberaubende Ausblicke auf das Meer bot.
Der erste Eindruck täuschte Mattie nicht. Die Patienten der La-Serena-Clinica waren reich, dementsprechend streng wurden die Sicherheitsvorkehrungen beachtet. Glücklicherweise sprachen die Angestellten gut Englisch. Doch Matties Geschichte, dass sie als Baby adoptiert worden sei und die Unterlagen ihrer biologischen Mutter wegen einer mysteriösen genetisch bedingten Krankheit einsehen müsse, stieß auf taube Ohren. Der Verwalterin mit dem steinernen Gesichtsausdruck konnte Mattie nicht einmal entlocken, ob sie zwanzig Jahre alte Unterlagen noch aufbewahrten oder wie lang sie selbst schon in der Klinik arbeitete. Mattie fragte sich, ob die Frau überhaupt ihren Namen verraten hätte, wenn er nicht in das Metallschild auf ihrem Schreibtisch eingraviert gewesen wäre.
Auf dem Weg hinaus wandte sich Mattie mit der gleichen Geschichte an eine ältere Empfangsdame. Die Frau hatte Mitleid, konnte ihr aber auch nicht helfen. "Ich wüsste nicht, wo ich nach einer zwanzig Jahre alten Akte suchen sollte", erklärte sie Mattie, während sie sie zur Tür begleitete. "Der Einzige, der schon so lange hier angestellt ist, ist unser Gärtner Alessandro."
Mattie bedankte sich und ging hinaus, um sich auf dem Gelände umzusehen. Offensichtlich kümmerte sich jemand hingebungsvoll um das Anwesen. Ob ein Gärtner das allein schaffen konnte? Die weitläufigen Grünflächen waren perfekt gemäht und beschnitten, der Hartriegel stand in voller Blüte. Sie ging einen weißen Kieselweg entlang, der durch leuchtende Blumenbeete führte und an einer grottenähnlichen Nische mit einem Springbrunnen und kühlen Steinbänken endete.
Einen Moment setzte sich Mattie und hoffte, dass die Klarheit dieses Ortes ihre Enttäuschung lindern würde. Von dem Besuch hätte sie sich wahrscheinlich nichts erhoffen sollen. Trotzdem konnte Mattie sich nicht vorstellen, dass das Krankenhaus die Akten seiner Patienten zwanzig Jahre lang aufbewahrte. Private Kliniken wie diese waren die Brutstätte eifersüchtig bewachter Geheimnisse. Das waren die Aktien, mit denen sie handelten. Wenn sie keine Geheimhaltung gewährleisten konnten, würden sie nicht die Klientel erreichen können, die ihre Rechnungen bezahlte. Zu dumm, das es hell am Tag war und Mattie nicht einfach einbrechen und suchen konnte.
Sie erhob sich, um zu gehen, und stellte fest, dass ihr das Knie nicht mehr wehtat. Dafür sollte ich dankbar sein, dachte sie und schüttelte den Kopf.
Auf dem Rückweg fiel Mattie ein wettergegerbtes Gesicht auf. Er trug einen alten Strohhut, schmutzige Jeans sowie Gummistiefel und kniete in einem Beet mit riesigem rosafarbenem Oleander. Alessandro? Wenigstens konnte sie kurz anhalten und ihm ein Kompliment für seine Blumen machen. Sie bezweifelte, dass er sich an eine Patientin von vor so langer Zeit erinnerte. Doch Mattie hatte gelernt, auch die kleinste Möglichkeit wahrzunehmen, gerade bei schwierigen Fällen.
"Bella fiores", sagte sie, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er zog den Hut vom Kopf und warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Die Gartenschere in seiner Hand sah bedrohlich aus, als er auf die Füße kam.
"Was wollen Sie?", fragte er mürrisch mit starkem Akzent auf Englisch.
Mattie sah auf ihre Uhr. Sie hatte noch ein bisschen Zeit. "Ich bin auf der Suche nach Informationen über meine Mutter", sagte sie, in der Hoffnung, dass er ihre Geschichte glaubte.
"Ist sie hier? Waren Sie in die Büro?"
Bei Alessandro wollte Mattie einen leicht veränderten Kurs einschlagen. Der Mann sah so weise und welterfahren aus wie ein Schutzheiliger.
"Da war ich", erwiderte sie langsam, damit er ihr folgen konnte, "aber sie konnten mir nicht helfen. Keiner erinnert sich an sie. Es ist vierundzwanzig Jahre her, seit sie hier war. Ich kannte sie selbst nicht. Sie hat mich als Baby zur Adoption freigegeben."
Sie wartete, bis sie sicher war, dass er sie verstanden hatte. Als er nickte, fuhr Mattie fort. "Sie war einige Tage in der Klinik, aber das war das letzte Mal, dass jemand sie lebend gesehen hatte. Mir wurde gesagt, dass sie bei der Geburt eines Kindes starb. Die Leichen wurden nie nach Amerika überführt, weder ihre noch die des Babys."
"Sie stirbt hier? Ihre Mama?"
"Ja", sagte sie, erfreut darüber, dass er ihre Geschichte verstanden hatte. "Am siebten August", fügte sie hinzu, als ihr das Detail aus Breezes Nachricht wieder einfiel.
"Il sette agosto?" Fragend zog er die Augenbrauen hoch. "Sie ist eine amerikanische Frau wie Sie?"
"Ja, eine Amerikanerin. Erinnern Sie sich an sie?"
Er ließ die Gartenschere in den Eimer mit Werkzeugen fallen und winkte Mattie zu, damit sie ihm folgte. Der Gärtner ging so schnell auf den Abhang zu, dass es Mattie schwer fiel, mit ihm Schritt zu halten.
"Il sette agosto", sagte er und deutete auf eine alterwürdige Zypresse, die nahe am Rande der Klippen stand. "Ich erinnere mich genau an den Tag, weil ich sie gefunden habe."
Mattie verstand nicht. "Sie haben sie dort beim Baum gefunden?"
"Nein, wo sie gefallen war von den Klippen. Ich finde sie auf den Steinen da unten."
"War es ein Unfall?", fragte Mattie, gespannt auf Details.
"Einige sagen ja, aber ich, ich habe es nie geglaubt."
"Hat jemand sie geschubst, oder ist sie gesprungen?"
Mattie war viel zu sachlich für eine trauernde Tochter. Alessandro schien es nicht zu bemerken. Als hätte er all die Jahre darauf gewartet, dass jemand fragte, brannte er offenbar darauf, diese Last loszuwerden.
"Ihre Mama, sie geht jeden Tag zu den Klippen. Ich sehe sie immer. Sie öffnet die Arme, als ob sie fliegen könnte. Als ich sie am Morgen fand, waren ihre Arme geöffnet und es war Frieden in ihrem Gesicht."
"Also ist sie gesprungen?"
Er erklärte es ihr geduldig. "Wenn man fällt, man guckt nicht friedlich. Aber Ihre Mama, sie hat gemacht Entscheidung, sie sieht friedlich aus."
Die Achtundvierzig-Stunden-Frist war bereits abgelaufen, als Mattie am Abend in San Francisco landete. Ein Flug war abgesagt worden, ein anderer hatte Verspätung, doch sie hätte Jamesons Deadline sowieso nicht einhalten können. Natürlich wartete diesmal kein Fahrer in einem eleganten schwarzen Luxuswagen auf sie. Weil sie den Mietwagen bereits abgegeben hatte, bevor sie nach Washington geflogen war, nahm Mattie jetzt ein Taxi, nannte dem Fahrer Jamesons Adresse und fügte hinzu, sie müsste bis gestern da sein.
"Bemühen Sie sich ja, uns beide nicht in den Bay zu manövrieren", warnte sie, als er wenig später über die Golden Gate Bridge schoss.
Das Klingeln eines Handys irritierte sie. Ihr erster Gedanke galt Jameson und der Deadline, aber sie hatte bereits ihre Nachrichten abgehört. Von ihm war keine dabei gewesen. Nachdem Mattie ihr Mobiltelefon aus der Tasche genommen hatte, drückte sie auf den Knopf und zögerte kurz, bevor sie sich meldete.
Die sanfte Frauenstimme am anderen Ende konnte sie wegen der Motorengeräusche kaum verstehen. "Miss Smith, sind Sie es? Hier ist Nola Daniels. Sie haben mir seinerzeit Ihre Nummer gegeben."
"Die Frau von Chief Daniels?", fragte Mattie. "Wie geht es Ihnen? Ist alles in Ordnung? Ich kann Sie kaum verstehen."
Nola sprach etwas lauter. Dennoch klangen ihre Worte genuschelt, so als hätte sie den Hörer näher an die Lippen gepresst. "Es geht um meinen Mann. Er glaubt, dass er sich an etwas erinnert. Er möchte mit Ihnen sprechen. Können Sie herkommen? Können Sie gleich jetzt herkommen, bitte?"
Mattie warf einen Blick auf die digitale Uhr ihres Handys. Sie musste mit Jameson sprechen. "Ich kann leider nicht, Mrs. Daniels. Ich habe einen Termin und bin bereits spät dran. Kann ich Sie anrufen, sobald ich fertig bin?"
"Ich weiß nicht, Miss Smith."
"Es tut mir sehr leid, wirklich, mehr kann ich im Moment nicht tun. Eine Stunde. Geben Sie mir eine Stunde, geht das?", bat sie.
"Ich werde mit ihm sprechen."
Sobald der Wagen vor Jamesons Haustür hielt, verabschiedete sich Mattie eilig. Sie atmete tief ein, stieg aus dem Wagen und bezahlte den Fahrer, der bereits ihre Taschen aus dem Kofferraum lud. Das Trinkgeld war üppig, ein Dankeschön, weil er sie nicht beide umgebracht hatte.