31. KAPITEL

Jamesons Ton war gemessen. "Vielleicht sollte ich auf deinen Geisteszustand Rücksicht nehmen?"

Mattie verzog das Gesicht. "Ich bin nicht verrückt."

"Verrückt nicht, aber traumatisiert."

Sie schwankte zu sehr, um noch länger stehen zu können, also ließ sie sich auf die Bettkante sinken. Er setzte sich neben Mattie, offenbar entschlossen, ihr so nahe zu rücken, dass sie ihn nicht missverstehen könnte.

"Wir hatten keinen Sex."

"Jemand hat mich ausgezogen und mich in die Badewanne gesteckt. Erzähl mir bitte nicht, ich hätte mir das nur eingebildet."

"Du warst in der Wanne. Ich musste deine Körpertemperatur wieder normalisieren, und so ging es am schnellsten. Aber mehr war es nicht."

Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und unterstrichen den ratlosen Gesichtsausdruck. "Woher hast du das? Wieso denkst du, dass wir Sex hatten?"

"Vergiss es." Sie wünschte, sie hätte nie gefragt. Seine Gegenfrage war Mattie peinlich genug. Er klang, als könnte er sich nicht einmal vorstellen, sie zu berühren. Als wäre es das Letzte, was ihm einfallen würde.

Ganz bewusst sah sie in die andere Richtung, obwohl es wehtat.

"Kann ich dir irgendetwas bringen?", fragte er. "Etwas zu essen, ein Getränk, eine Schmerztablette?"

"Meine Sachen?"

"Ich hole sie dir – unter einer Bedingung. Du bleibst hier, bis du wieder fit bist, egal wie lange es dauert. Draußen bist du nicht sicher, und du bist nicht in der Verfassung, dich verteidigen zu können."

"Das nächste Mal bin ich vorbereitet", versicherte sie schnell. "Niemand erwischt mich mehr hinterrücks."

Mit einer kühnen Bewegung fasste er ihr ans Gesicht und drehte es, damit er sie ansehen konnte. Der Ausdruck seiner Augen war wieder wie Stahl, trotzdem blieben Mattie seine Verzweiflung und seine Sorge nicht verborgen.

"Vorbereitet auf was, Mattie? Du hast keine Ahnung, wer dich verletzen will. Keine Ahnung, wie du dich schützen sollst oder vor wem."

"Außer vor dir?"

"Touché." Seine hochgezogenen Augenbrauen verrieten, dass er ihre Lage verstand. "Trotzdem, vor mir musst du dich schützen, solange du mir nicht die Wahrheit sagst. Ich will dir nicht an den Kragen – zumindest will ich keine Rache. Ich will Gerechtigkeit für meinen Bruder und muss seinen Mörder zur Strecke bringen."

Mattie wusste darauf nichts zu sagen, denn etwas ließ sie innehalten. Es war vielleicht sein Blick – oder die Ruhe, die sie plötzlich ausfüllte. Keine Schmetterlinge im Bauch. In ihrem Inneren herrschten Frieden und Stille, wie in einer Kathedrale. Nur der Pulsschlag an ihrer Schläfe pochte unruhig. Das war nichts, verglichen mit den Träumen in ihrer Jugend. Das hier war echt.

Er strich ihr über das Gesicht und ließ sie los.

Mattie atmete tief ein, als er von ihr abrückte, und sagte sich, dass es ein Seufzer der Erleichterung war. Doch der wunderbare innere Frieden verschwand gleichzeitig. In ihrem Bauch schien es mit einem Mal immer stärker zu summen.

Seine grauen Augen nahmen einen warmen Glanz an, als er lächelte. "Ich besorge dir etwas zu essen und mache eine heiße Zitrone mit Whiskey. Das ist ein altes Familienrezept. Wenn du davon einen Becher getrunken hast, reden wir darüber, ob du hier bleibst oder nicht."

Mattie versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Vermutlich sah es lächerlich aus, weil sie dabei auf die Innenseite ihrer Lippen biss. Impulse zu bekämpfen, erforderte mehr Kraft, als ihnen nachzugeben. Die heiße Zitrone klang seltsam, aber lecker, und Mattie hatte tatsächlich Hunger.

Jameson durchquerte so etwas wie den Flur zur Küche. Von ihrem Platz sah das Haus wie eine offene Galerie aus, mit dem Bett und dem Bad auf der einen Seite und einem Fitnessbereich, der Küche und dem Essbereich auf der anderen. Alles war geräumig und durchgestylt. Mattie konnte nicht sehen, was sich hinter der Milchglasscheibe befand, die das Schlafzimmer begrenzte. Vermutlich ein weiterer riesiger Raum.

Seltsam, wie sicher sie sich hier fühlte, auch wenn die Tatsache, dass jemand sie umbringen wollte, Mattie unbegreifbar war. Beide Angriffe hatten nach ihrem Treffen mit Lane Davison stattgefunden. Zufall? Wahrscheinlicher war, dass es etwas mit ihrem Besuch bei Nola Daniels zu tun hatte. Besonders weil Nola Daniels ihr die Information beinah aufgedrängt hatte, dass der Amtsarzt im Krematorium verbrannt werden sollte. Und der verstohlene Blick des Polizeichefs, den Mattie im Aufbruch wahrgenommen hatte, war ihr komisch vorgekommen.

Während sie sich in die Decke kuschelte, dachte Mattie weiter über die Angriffe nach. Wer auch immer sie das erste Mal angegriffen hatte, er war jetzt verletzt. Sie hatte ihn so heftig am Knie erwischt, dass er davongehumpelt war. Sie würde wohl keine Gelegenheit bekommen, sich Jamesons Knie anzusehen, aber er bewegte sich ganz normal. Erleichtert atmete Mattie auf. Vielleicht war sie doch nicht dem Feind in die Falle getappt.

Sie überlegte, ob sie die Mailbox ihres Handys abhören sollte. Am Vortag hatte Mattie Frank O'Neill eine Nachricht hinterlassen. Ob er sich gemeldet hatte? Außerdem musste Mattie sich danach erkundigen, was im Büro los war. Bei Jane und Breeze sollte sie sich auch melden, um ihnen zu sagen, dass sie am Ball geblieben sei. Bis zu diesem Moment hatte sie noch keine Zeit gehabt, sich über ihren nächsten Schritt Gedanken zu machen. Jetzt würde sie sich ohnehin erst mal entspannen und alles vergessen, soweit das möglich war.

Ihren Gastgeber beim Kochen zu beobachten war eine interessante Ablenkung. Es überraschte Mattie nicht, dass er sich damit auskannte. Die Gerüche, die zu ihr herüberwehten, waren köstlich. Sie nahm den feinen Duft von Safran und heißer Hühnerbrühe war. Machte er ein Hühnchengumbo? Der kochende Zitronensaft verbreitete eine scharfe Süße, die ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Ein Teil von ihr wollte glauben, dass Cross die Sorge um ihr Wohlergehen nicht vortäuschte, trotz allem, was geschehen war. Aber es erschien Mattie immer noch zu riskant, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Warum dachte sie überhaupt daran?

Vielleicht hatte er ihr das Leben gerettet. Doch deshalb waren sie nicht automatisch Freunde. Und trotzdem gab es eine Art Band zwischen ihnen, das musste sie zugeben. Dass sie ihn weder klar als Freund noch als Feind betrachten konnte, machte ihn gefährlich.

Er schien seine Unterstützung anzubieten, und sie brauchte jede Hilfe, die sie bekommen konnte. Aber konnte sie bei ihrer Mission auf Jameson Cross zählen? Er wollte Gerechtigkeit für den Mörder seines Bruders. Und er hatte ihr geholfen. Um sich zum Richter über Schuld und Unschuld aufspielen zu können? Sein Misstrauen Mattie gegenüber saß tief.

Ihr ging es umgekehrt genauso. Sein Bruder war das schwarze Schaf der Familie gewesen. Er und Jameson hatten sich nicht nahegestanden. Trotzdem wollte Jameson seinen Bruder rächen … Es war sogar möglich, dass er die zwei Mordversuche an Mattie inszeniert hatte, damit er ihr das Leben retten und so ihr Vertrauen gewinnen konnte.

Weit hergeholt, aber möglich.

Sie zog die Decke noch enger um sich und beobachtete Cross.

Wenn Mattie ehrlich war, wusste sie nicht, ob sie ihm jemals würde trauen können. Und dabei ging es nicht einmal um ihn oder ihre besondere Situation. Seit früher Kindheit hegte Mattie ein tiefes Misstrauen gegen das männliche Geschlecht. Ihre Mutter war wie eine welke Rose gewesen, die zu früh erblüht war. Auf die denkbar schlechteste Art hatte sie ihren Sexappeal eingesetzt. Die Männer in ihrem Leben hatten sich brutal und machtbesessen benommen – Matties Vater eingeschlossen: ein LKW-Fahrer, der verschwunden war, bevor Mattie zu krabbeln gelernt hatte.

Lela Smith hatte für eine Männergeschichte ihr eigenes Kind aufgegeben, als Mattie vier war und er ein ungesundes Interesse an ihr zeigte. Mattie wurde daraufhin zu ihrer alleinstehenden Tante abgeschoben, deren unerschütterliche feministische Ansichten sie im Laufe der Jahre annahm. Bevor sie an die Rowe-Akademie kam, hatte Mattie Spaß am Lernen, überall gute Noten und Auszeichnungen gehabt – und Jungs genauso konsequent ignoriert wie die viel zu hübschen Gesichtszüge, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

Schönheit hatte sie als etwas Gefährliches betrachtet. Sowohl ihre Qualen im Internat als auch Ivys Tod hatten Mattie das bestätigt. Dass Männer die Verletzlichkeit einer Frau lieben könnten und sie sie deshalb beschützen wollten, daran glaubte Mattie nicht. Sie hatte beschlossen, sich selbst so zu schützen, wie es am sinnvollsten war. Von niemandem wollte sie abhängig sein.

Es hat sich nicht viel verändert, überlegte Mattie jetzt, außer dass es mit achtunddreißig schwieriger ist, die Umwelt – und sich selbst – davon zu überzeugen, dass man das andere Geschlecht nicht braucht. Und Jimmy Broud, dessen Augen sie an den Himmel in der Abenddämmerung erinnerten, war kein schüchterner Junge mehr.

"Ich hoffe, du magst Salmagundi", sagte Jameson.

Kein Gumbo, aber dicht dran. Salmagundi war eine scharfe Hühnerbrühe mit Frühlingsgemüse und Würstchen. "Ich liebe es."

Er hielt ein Tablett in Händen und wartete, bis Mattie sich aufgesetzt hatte, bevor er es ihr auf den Schoß stellte. Er hatte ihr einen Topf Suppe gebracht, einen Becher heiße Zitrone und einen kleinen Laib saftiges Pumpernickelbrot, dampfend und mit Rosinen gespickt. Die eisgekühlte Flasche Bier musste für ihn gedacht sein.

Beim Anblick der Suppe verspürte Mattie einen Bärenhunger und aß, bis sie keinen Bissen mehr herunterbekommen konnte. Jameson schien sich darüber zu amüsieren, während er zusah und dabei an seinem Bier nippte.

Die Suppe war göttlich, und Mattie wäre gern bereit gewesen, an einem Zuviel des warmen Rosinenbrots zugrunde zu gehen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es mit Frischkäse bestrichen geschmeckt hätte.

Kurze Zeit später schob Mattie das Tablett mit zufriedenem Gesichtsausdruck weg. Gegen ein Lächeln anzukämpfen, hatte sie aufgegeben.

"Köstlich, vielen Dank. Kann ich jetzt meine Kleider bekommen?"

Jameson nahm das Tablett und stellte es auf die Kommode. "Ruh dich erst einmal aus", schlug er vor. "Du bist müde. Ich sehe ja, dass dir die Augen schon fast zufallen."

Der sanfte tiefe Ton, in dem Jameson zu ihr sprach, hätte fast seine Aufgabe erfüllt. Mattie war wirklich müde. Sie fühlte sich, als hätte sie sich zusammenrollen und einen Winterschlaf halten können. Aber sie musste Anrufe tätigen und sich einen Plan überlegen. In Jameson Cross' Schlafzimmer konnte sie das nicht, so verlockend die Vorstellung auch war. Mattie musste sich ins Gedächtnis rufen, dass er ein Feind war. Wenn es nur um sie ginge, könnte sie vielleicht bleiben. Doch ihre Freundinnen zählten auf sie, und sie konnte kein Risiko eingehen.

"Ich muss gehen", sagte sie und bemühte sich um eine feste Stimme. "Ich werde mich in meinem Hotelzimmer einschließen und die Sicherheitskräfte alarmieren. Wenn das nicht funktioniert, lege ich mir einen Leibwächter zu, okay?"

"Wenn das nicht funktioniert, könntest du tot sein."

"Hör auf mit deinen Detektivgeschichten."

Vorsichtig rutschte Mattie an den Rand des Bettes und freute sich über die Kraft, die sie spürte. Schützend schlang sie die Decke um sich, aber als ihre Füße den Boden berührten, hörte sie ein knirschendes Geräusch.

"Scheiße", sie keuchte vor Schmerzen auf. Ihr Knie musste behandelt werden. Schon eine kleine Belastung tat weh. Mattie warf einen abschätzenden Blick zum Badezimmer und fragte sich, ob sie so weit humpeln könnte. Sie würde kriechen müssen, wenn sie dorthin wollte.

Die Decke erschwerte jede Bewegung. Deshalb knautschte Mattie sie an einer Stelle zusammen und hielt sie an anderer Stelle fest, so musste sie nicht nackt zum Bad gehen. Den skeptischen Blick ihres Gastgebers ignorierend, humpelte Mattie auf das Iglu aus blauem Glas zu, das etwa fünf Meter entfernt war. Sie tat, als bemerke sie nicht, dass Cross scheinbar alle negative Energie des Universums in seinen Augen bündelte, während er sie beobachtete. Mattie würde es schaffen, so oder so.

Als sie ankam, war sie außer Atem, was hauptsächlich von dem Kampf mit der Bettdecke herrührte. Jameson hatte Matties Kleidung sorgfältig über einen Korb gelegt und ihre Tasche danebengestellt. Jetzt musste sie sich nur noch anziehen.

Sie saß auf der Toilette, zog die Decke um die Schultern wie ein Zelt und begann mit der Unterwäsche. Der BH stellte die größte Schwierigkeit dar, gleich nach der Hose. Um den Stoff über die Beine zu ziehen, musste Mattie aufstehen und sich wieder hinsetzen. Sie hatte nicht geahnt, wie geschwollen ihr Knie war und wie anstrengend es sein konnte, sich anzuziehen.

"Alles in Ordnung?"

Jamesons Stimme überraschte sie. Sie zog sich gerade den Cardigan über den dazu passenden Pulli, als Jameson plötzlich in der Tür erschien. Dass er sie so hilflos sah, wollte Mattie um keinen Preis. "Natürlich", log sie, als sie nach dem Waschbecken griff und sich festhielt. "Ich muss nur … oh!"

Ihr Knie gab nach und zwang Mattie, sich zu setzen. "Nur eine Minute."

"Ich habe eine bessere Idee", erwiderte Jameson. "Ich hole etwas Eis für das Knie. Und vielleicht finde ich auch noch eine Schmerztablette."

Sie hätte ahnen können, dass er tolle, schöne Hände hatte. Die Innenflächen waren groß und stark, die Finger lang und kräftig. Er hätte Geige spielen können. Oder Basketball. Noch nie hatte Mattie einen schöneren Jupiterhügel gesehen, der so weit entwickelt war, dass es an Arroganz grenzte. Sie musste zweimal hinschauen. Interessant, dass seine weichen Finger auf so viele körperliche Fähigkeiten hindeuteten. Und außerdem auf eine sensible Natur.

Mattie lag ausgestreckt auf Jamesons Couch im Wohnzimmer, mit reichlich Eis auf dem Knie, während sie seine Hand hielt und in ihr las.

"Werde ich hundert?" Jameson saß auf der Truhe vor der Couch, hatte sich zu Mattie hinuntergebeugt und sah nun dabei zu, wie sie sich in die Deutung seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versenkte.

"Mal sehen", murmelte sie.

An die Handlesekunst hatte Mattie nie ernsthaft geglaubt. Ihre Mutter hatte sie benutzt, um mit den Hoffnungen und Ängsten anderer Leute Geld zu verdienen, und Lela Smith war besonders geschickt bei Männern gewesen. Sie hatte es geschafft, sie in Idioten zu verwandeln, indem sie die Liebeslinien mit ihren glänzend roten Fingernägeln nachzeichnete und ausrief, was für wunderbare Liebhaber sie sein müssten.

Vielleicht hatte Mattie deshalb eingewilligt, als Jameson sie gebeten hatte, aus seiner Hand zu lesen. In einem schwachen Moment hatte sie gedacht, es würde ihr irgendeinen Vorteil verschaffen. Natürlich hatte er nicht nach seiner Liebeslinie gefragt. Fast wünschte Mattie sich, er hätte es getan.

"Deine Uhr ist abgelaufen."

"Woran siehst du das?"

Sie zeigte auf die Unterbrechung der Lebenslinie und erklärte, dass das nicht unbedingt den Tod bedeute. Ihm stünden große Veränderungen bevor. "Aber es könnte natürlich auch heißen, dass du stirbst."

Seine lavendelgrauen Augen musterten sie. "Das hast du mir gern erzählt, oder?"

"Natürlich nicht."

"Sag mir die Wahrheit. Wenn ich morgen von einem Auto überrollt werde, täte es dir nicht leid."

Sie würde den Jungen vermissen, der die Vorräte ausgeliefert hatte – und der gerufen hatte, dass er nur wissen wolle, wer sie sei. Aber das sagte sie ihm nicht.

"Du verweigerst die Aussage? Kann ich in diesem Fall noch eine Frage zum Handlesen stellen?"

Sie zuckte teilnahmslos die Achseln. Das schuldete sie ihm wahrscheinlich.

"Wenn ich mir deine Hände ansehe, würden sie mir verraten, was du gestern im Krematorium gemacht hast?"

Mattie richtete den Eisbeutel auf ihrem Knie und ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie waren ins Wohnzimmer gegangen, weil Mattie auf einem Ortswechsel bestanden hatte. Sie hatte lang genug in seinem Bett gelegen. Und er hatte sich das Hemd zugeknöpft. Auch darauf hatte sie bestanden.

"Noch eine Verweigerung der Aussage?"

"Glücklicherweise muss ich das nicht", sagte sie. "Das hier ist kein Gericht und ich muss nicht antworten. Aber, da du gefragt hast, sage ich dir, dass ich etwas gesucht habe. Und dabei belassen wir es."

Aufmerksam sah er sie an. "Ein Video vielleicht? Das Band, das in Miss Rowes Lehrsammlung fehlt?"

Mattie atmete tief ein. "Wie kommst du darauf, dass eines fehlt?" Gott sei Dank versagte ihr die Stimme nicht. Um zu erfahren, was er wusste, musste Mattie das Spiel mitspielen. Er war also auch auf der Suche nach der Aufzeichnung, was ein interessantes Dilemma für Mattie darstellte. Wenn die Männer aus dem Sexring auf dem Band zu sehen waren, konnten auch die einsamen Mädchen gefilmt worden sein. Das bewies zwar nicht, dass sie jemanden getötet hatten, Jane wäre trotzdem ruiniert.

"Es stand in den Notizen meines Bruders", erklärte Cross. "Er behauptete, dass die Direktorin einen Sexring geleitet habe und dass das fehlende Band es beweisen würde. Es soll angeblich ihre privaten Sozialstudien zeigen. Das würde ich mir gern mal ansehen."

Er ließ den Gedanken im Raum stehen. "Ich kann mir vorstellen, dass du das auch gern würdest."

Beinah glaubte Mattie, er wolle mit ihr gemeinsame Sache machen. Mattie hatte jedoch nicht die Absicht, sich mit Jameson Cross zu verbrüdern. Aber das musste sie ihn ja nicht wissen lassen. Das könnte ihre Chance sein, einen Einblick in die Aufzeichnungen von William Broud zu bekommen, auch wenn sie selbst dafür ein paar Dinge enthüllen müsste. Manchmal musste man dem Fisch ein paar Köder hinwerfen, bevor er anbiss.

"Wer würde nicht gern einen Blick darauf werfen", sagte sie, "wenn es das Band tatsächlich gibt. Ich würde auch gern wissen, warum die Bänder als Beweismittel angeführt, aber nie benutzt wurden und warum niemand zu bemerken schien, dass eines fehlte."

Jameson nickte. "Stimmt. Ich wusste nicht, dass die Bänder zu den Beweismitteln gehörten."

Mattie zuckte die Schultern. Verbündeten sie sich? Sie hoffte, dass er es glaubte. Natürlich konnte er sie genauso in die Irre führen wie sie ihn, das durfte Mattie nie vergessen.

Er hatte die Musikanlage eingeschaltet, und die Klänge, die das kellerartige Haus füllten, hatten einen südamerikanischen Rhythmus – ein sanfter, verträumter Samba, der dazu verführte, die Augen zu schließen und sich dem Beat einfach hinzugeben.

Sehr sinnlich, dachte sie und sah auf seine Finger. Warum hielt sie immer noch seine Hand? Bei der Frage zog sich ihr der Magen zusammen. Lag es an der Hitze seiner Haut? Plötzlich war er ihr zu nah.

Ich sollte es wirklich lassen mit der Handlesekunst, schalt sich Mattie. Das geht immer nach hinten los.

"Da wir schon dabei sind", sagte sie und ließ seine Hand los, "ich muss meine Mailbox abhören. Möglicherweise hat mir der Staatsanwalt von Marin County bereits eine Nachricht hinterlassen."

"Wer? Frank O'Neill?"

Lässig streckte sie die Hand nach ihrer Tasche aus, die neben der Couch stand, und öffnete den Reißverschluss. Mattie hatte beschlossen, das Spiel ein bisschen weiterzutreiben, dem Fisch den Köder noch ein bisschen schmackhafter zu machen.

"Ja, er ist einer der Menschen, mit denen ich hier sprechen wollte", erklärte sie. "Ich kann mir vorstellen, dass das verschwundene Video entlastende Beweise enthält, die in der Verhandlung übersehen wurden."

"Entlastend für meinen Bruder oder für dich?"

Sie hatte gerade zugegeben, dass sie nach dem Band suchte. Interessant, dass er darüber hinweggegangen war. "Für beide", sagte sie, "jedenfalls hoffe ich das."

Sie hatte gerade das Handy aufgeklappt, aber Jameson hielt ihre Hand fest.

"Wie wäre es mit einer Party heute Abend?"

"Ist das dein Ernst? Ich kann kaum laufen."

Er zuckte die Achseln. "Schade. Ich bin mir sicher, dass Frank dich gern kennengelernt hätte."

Cross schien sie nun seinerseits locken zu wollen. "Frank, der Staatsanwalt? Du kennst ihn?"

"Wir sind seit Jahren befreundet. Ich bin heute Abend bei ihm zu einer Party eingeladen, es ist der Geburtstag seiner Frau. Ich wollte eigentlich nicht hin, weil mir eine Begleitung fehlte."

Sie seufzte. "Dann werde ich wohl deine Begleitung sein. Das könnte meine einzige Chance sein."

"Mit mir auszugehen?"

"Frank zu treffen."

Seine Augen schimmerten dunkel. "Also ist das ein Ja? Von der Frau, die kaum laufen kann?"

"Mir geht es gut."

"Geht es deinem Kopf genauso gut wie deinem Knie? Das wäre mir neu."

"Meinem Kopf geht es viel besser. Tut kaum noch weh." Ein schmerzhafter Stich zwang Mattie, eine Sekunde lang die Augen zu schließen. "Und mein Knie ist … okay. Ich werde diesen Eisbeutel mit ins Hotel nehmen, und ich werde die Schmerztablette nehmen, die du mir angeboten hast."

"Na schön, aber ich fahre dich hin."

Dagegen hatte Mattie einiges einzuwenden. Doch sie sah ein, dass es keinen Sinn ergab. Selbst fahren konnte sie nicht, abgesehen davon, dass ihr Mietwagen vermutlich noch auf dem Parkplatz des Krematoriums stand. Außerdem wollte sie noch nicht allein sein, egal, wie sehr sie vorhin darauf gepocht hatte. In der friedlichen, kleinen Gemeinde von Tiburon konnte sie sich einfach nicht sicher fühlen.

Plötzlich erhob sich Jameson, und Mattie fragte sich, was er vorhatte. Sie verfolgte, wie er nach hinten ins Wohnzimmer ging und in einem Bereich stoppte, der wie sein Büro oder seine Bibliothek aussah. Ein Bücherschrank, der vom Boden zur Decke reichte, bildete eine Wand. Davor stand eine meterlange Leiter, die auf Rollen bewegt werden konnte, und aussah, als gehörte sie in eine Staatsbibliothek. Sie war aus dunklem poliertem Holz und hatte drei Plateaus mit Geländer. Mattie hatte noch nie zuvor ein so schönes Stück gesehen.

"Es ist wunderschön", sagte sie, ohne zu erklären, was sie meinte.

Auch eine Sammlung gerahmter Poster fiel ihr auf. Sie konnte die Bilder nicht gut erkennen, hatte jedoch den Eindruck, es handele sich um alte Cover eines Männermagazins.

"Was machst du?", fragte sie, als Jameson sich über einige Kartons beugte, die auf dem Boden neben seinem Schreibtisch standen.

"Jetzt muss ich dir ein Geständnis machen", sagte er und kam mit einer Videokassette in der Hand zu ihr herüber. "Das hier ist eines von Miss Rowes Bändern. Ich habe hier vermutlich Kopien des gesamten Sets, außer der Nummer fünfzig, der letzten Aufnahme. Jemand hat sie mir anonym zugeschickt."

"Wer würde so etwas machen?"

"Keine Ahnung."

Ihr Herz klopfte. Sie hatte auf ein paar Informationen gehofft, doch das hatte sie nicht erwartet. "Hast du sie alle gesehen?"

"Ja, und das hat viele Fragen aufgeworfen."

Offensichtlich wollte er, dass sie nachhakte. Aber das hätte sie nicht tun können, ohne dass ihr die Stimme gebrochen wäre. Dass Jameson in das Grauen ihrer Vergangenheit eingedrungen war, schmerzte sie. Er war Zeuge zumindest einiger Demütigungen geworden, von denen niemand erfahren sollte. Manchmal ertrug Mattie es kaum, dass Jane und Breeze Bescheid wussten. Sie war so furchtbar erniedrigt worden, dass sie die Erinnerungen fest in sich verschlossen hatte. So fest, dass sie selbst kaum herankam. Ein lähmendes Chaos – um sich zu schützen, hatte Mattie es eingemauert.

"Was weißt du über den Sexring, Mattie? Hat sie wirklich junge Mädchen wie dich verkauft? Hattest du etwas damit zu tun?"

Sie zwang sich zu einem kleinen Lachen. "Jetzt verweigere ich tatsächlich die Aussage."

"Das wette ich." Ein Stück schwarzer Stoff schaute aus seiner Hosentasche hervor. Er zog daran, faltete ihn auseinander und zeigte ihn Mattie. "Du hast dich wahrscheinlich gefragt, was damit passiert ist."

Matties Herz zog sich zusammen, als sie erkannte, was Jameson in der Hand hielt. Ihre Augenbinde. Er wollte wissen, ob das etwas mit dem Sexring zu tun habe. Eines machte diese Frage deutlich: Jameson kannte keine Grenzen.

"Ich habe mir gedacht, dass vermutlich jemand diese Augenbinde nötiger braucht als ich", sagte sie mit kalter Stimme.

"Ich glaube, das hängt davon ab, wie sehr du sie brauchst."

Sie zuckte die Schulter, um ihm das Gefühl zu geben, dass es ihr egal sei. Doch die Eile, mit der sie ihm die Binde aus der Hand genommen hatte, hatte sie vielleicht verraten. Wenigstens hatte sie sie wieder. Er konnte das Stück nicht gegen sie verwenden. Zum Glück wusste er nicht, dass es tatsächlich ein Beweisstück war. Ob er ahnte, wie sehr er sie enttäuscht hatte?