4. KAPITEL

Bundesbezirksgericht

San Francisco

Sommer 2005

Der Hammer hüpfte, als Mattie ihn auf den Block schlug, um das Gericht zur Ruhe zu rufen. Es fühlte sich komisch an, wieder einer Verhandlung vorzusitzen, obwohl sie es noch vor ein paar Jahren regelmäßig getan hatte. Sie hatte zwei Jahre hier am Bezirksgericht verbracht, bevor sie zum Berufungsgericht kam. So oft hatte sie bereits in genau diesem Raum auf genau diesem Richterstuhl gesessen.

Er war vielleicht nicht so groß und prunkvoll wie die Gerichtssäle des historischen Gebäudes, in dem das Neunte Gericht ansässig war, aber überall strahlte der Glanz von Messing und Mahagoniholz, und überall war auch die Anwesenheit von Macht und Gerechtigkeit zu spüren. An diesem Morgen, als sie auf den Angeklagten Ronald Langston warteten, war das Gefühl von Macht und Endgültigkeit irritierend, selbst für Mattie.

Sie wandte sich an den Sprecher der Geschworenen, einen ergrauten zierlichen Mann mit einer gerahmten Brille, die ihm vorn auf der Nase saß.

"Sind Sie zu einem Urteil gekommen?"

"Ja, Euer Ehren."

"Bitte übergeben Sie das Urteil dem Gerichtsdiener."

Mattie nahm den wachsamen Gesichtsausdruck des Angeklagten wahr. Sie spürte aus der Ferne, dass seine Nerven blank lagen. Aber sie mochte sich kaum vorstellen, wie es sein mochte, der Gnade der Männer und Frauen ausgeliefert zu sein, die als Geschworene fungierten. Mit etwas Glück würde sie es auch nie herausfinden müssen.

Heute Morgen würde über sein Schicksal entschieden, und sein Lebensweg wäre mit ein paar Worten besiegelt. Sie hoffte, dass es die richtigen Worte sein würden. Aber als Richterin war sie gezwungen, ihre Gefühle und Ansichten für sich zu behalten. Das bedeutete, dass sie sich unter Kontrolle haben musste, egal, was sie empfand. Sie hatte ihr Bestes getan, um keinen Einfluss auf die Geschworenen auszuüben. Mattie hatte nur sichergestellt, dass sie das Gehörte verstanden und sich in ihrer Entscheidung von den Tatsachen und dem Gesetz leiten ließen. Sie hatte sich außerdem vergewissert, dass sie sich über die Konsequenzen ihrer Entscheidung im Klaren waren.

Der Gerichtsdiener reichte Mattie das Urteil. Ihre Hände waren ruhig, aber ihr Herz schmerzte, als sie es las. Sie gab es dem Gerichtsdiener zurück. Als er auf die Geschworenen zuging, brachte sie die Worte heraus: "Mr. Foreman, bitte verlesen Sie das Urteil."

Der Sprecher der Geschworenen räusperte sich. "Im Anklagepunkt der Entführung befinden wir, die Jury, den Angeklagten für schuldig. Im Anklagepunkt der Kindesbedrohung befinden wir den Angeklagten ebenfalls für schuldig."

Mattie streckte die Hand nach dem Hammer aus, aber ihre Finger waren außerstande, nach ihm zu greifen. Sie fühlte sich, als hätte sie einen heftigen Schlag bekommen, der ihr Rückenmark so gewaltig erzittern ließ, dass es vielleicht nie wieder nachlassen würde. Diesen Ausgang hatte sie befürchtet, aber sie hatte doch nicht glauben wollen, dass dies wirklich passieren würde. Irgendwie musste sie sich zusammenreißen. Ihr Job war noch nicht beendet. Sie musste einen Termin für den Haftbeginn festsetzen und die Sitzung für beendet erklären. Aber was sie am meisten fürchtete, war die Notwendigkeit, Ronald Langston noch einmal anzusehen. Das konnte sie nicht ertragen. Sie konnte es nicht ertragen, in seinen Augen zu lesen, dass er sich wie ein verängstigtes Tier im Käfig fühlte.

Mattie schaffte es noch nicht einmal, um den Schreibtisch herum zu ihrem Stuhl zu gehen. Sie ließ die Ledermappe und die Gerichtsakten direkt neben die nicht angerührte Zeitung fallen und registrierte kaum, dass sie keine Zeit für ihr morgendliches Ritual gehabt hatte. Sie las den San Francisco Chronicle normalerweise bei einer heißen Tasse Tee mit Honig – während Ronald Langston in seiner Zelle so etwas wie Haferschleim bekäme.

Zieh deine Robe aus, ermahnte sie sich, aber sie kam nicht weiter als bis zum Reißverschluss. Die Tür hinter ihr öffnete sich, und Mattie stieß an den Schreibtisch, als sie sich umdrehte. Etwas fiel zu Boden, aber sie hatte keine Zeit, es aufzuheben.

Jaydee schüttelte den Kopf, offenbar niedergeschlagen.

"Sie mich nicht so an", sagte sie. "Sosehr ich mir auch gewünscht habe, dass Langston nicht ins Gefängnis muss, ich konnte doch diesen blöden Pflichtverteidiger nicht zu einem Fehler verleiten. Ich hatte einfach gehofft, dass er von selbst einen macht."

"Richtig", erwiderte er und stieß einen schweren Seufzer aus. "Ich hätte das nie ansprechen sollen. Was machen wir jetzt?"

Mattie hatte darüber schon nachgedacht. "Ich werde zwei der besten Anwälte, die ich kenne, damit beauftragen, in Berufung zu gehen. Sie werden mich dafür hassen, aber ich werde es trotzdem tun. Ich werde einen Brief schreiben, in dem all die Gründe stehen, die aus meiner Sicht eine faire Verhandlung verhindert haben, einschließlich meiner zweifelhaften Entscheidung, das falsche Geständnis als Beweis zuzulassen. Und natürlich wird er nur das Mindestmaß der Strafe bekommen."

Jaydee klopfte auf seinen gelben Block. "Deine eigene zweifelhafte Entscheidung? Bist du sicher, dass du das tun willst? Das wird in deinem Lebenslauf nicht gut aussehen."

"Was sollen sie tun? Mich meines Amtes entheben? Bundesrichter sind auf Lebenszeit ernannt." Mattie wusste, dass es sich nicht gut machen würde, aber was sollte sie tun? Ein einundzwanzigjähriger Mann hatte keine ordentliche Verhandlung bekommen, weil sie die Beweislage falsch eingeschätzt hatte.

"Sie werden wissen wollen, warum du solche Entscheidungen triffst", stellte er fest.

Mattie hatte viel mit Jaydee geteilt, aber niemals die Qualen ihrer Vergangenheit. Sie zweifelte nicht daran, dass er Mitleid haben würde. Aber bisher war sie in ihrer Beziehung immer diejenige gewesen, die Trost und Rat gespendet hatte, und es widerstrebte ihr zutiefst, die Rollen zu tauschen. Es war sowieso schon zu viel durcheinandergeraten.

"Ich werde mich darum kümmern."

"Hör mal, ich bin immer da, wenn du reden willst."

"Es ist schon in Ordnung", unterbrach sie ihn sanft. "Ich habe den Vorteil, dass ich Berufungsrichterin bin, also habe ich eine ziemlich gute Vorstellung davon, was ich machen muss, um den Fall vor das Berufungsgericht zu bekommen, und du ja wohl auch."

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. "Soll ich die Mitschriften nach Fehlern durchsuchen?"

"Bitte."

"Soll ich den Brief entwerfen? Du kannst die Zweifelhaftigkeiten dann selbst hinzufügen."

"Bitte."

Nach kurzem Zögern fragte er vorsichtig: "Ist alles in Ordnung zwischen uns? Ich meine, wegen heute Morgen."

Er meinte die Art, wie er sie berührt hatte, aber darüber konnte Mattie nicht sprechen. Der Fall hatte Erinnerungen geweckt, und seine Geste hatte sie in eine Situation katapultiert, in der sie nie wieder sein wollte. Er konnte das natürlich nicht wissen, aber er war zu weit gegangen, trotz allem.

"Lass uns nicht mehr davon sprechen, okay?"

"Mattie, komm schon. Ich bin's. Wir können über alles reden."

Sein drängender Tonfall riss an ihren gespannten Nerven. "Okay, wenn du es so willst", sagte sie und atmete tief ein, "dann lass uns darüber reden, dass du manchmal nicht weißt, wann es genug ist. Du machst Witze über meine Unterwäsche, und du platzt ohne Vorwarnung in mein Büro. Das ist unprofessionell, Jaydee. Unprofessionell und unhöflich."

Wie Miss Rowe klinge ich, erkannte Mattie in diesem Moment. Wie Miss Rowe, wenn sie über Manieren dozierte, während die Korruption an der Schule fraß wie Würmer an einem vergammelten Stück Holz. Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden meine Mädchen wissen, wie man lächelt und redet und andere unterhält. Meine Mädchen werden die Anmut selbst sein.

Jaydee wich einen Schritt zurück und zog die Augenbrauen hoch. Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Sie hatte es geschafft, ihn ein Stück von sich wegzutreiben, aber das schenkte ihr wenig Trost. Schließlich wollte sie mit ihm über den Vorfall sprechen, aber nicht so.

"Hey, es tut mir leid", sagte er. "Wenn ich anklopfen soll, klopfe ich in Zukunft."

Mattie versuchte, die ganze Episode mit einem Schulterzucken abzutun, aber das akzeptierte er nicht.

"Ich glaube, dass du wegen der Geschichte echt sauer bist. Ich habe mich schon zweimal entschuldigt. Ich könnte mir auch die Hand abschlagen, wenn das helfen würde."

"Behalte deine Hand und entspann dich." Sie bemühte sich um einen strengen Tonfall. "Alles ist in Ordnung, und wenn es nicht so wäre, läge es nicht an heute Morgen." Mattie zitterte. Ein Schweißfilm zog sich über ihre Stirn, sogar die Kopfhaut war feucht. "Ich brauche nur ein bisschen Zeit, um den Kopf freizubekommen."

"Sicher", sagte er und sah ihr direkt in die Augen. "Geht es dir wirklich gut?"

"Ja, wirklich." Sie setzte ein Lächeln auf. "Ich habe mit Michelle Rücksprache gehalten, und abgesehen von der Anhörung wegen der Haftstrafe habe ich in den nächsten Tagen keine Termine, also werde ich meine Sachen packen."

Die Verhandlung war früh zu Ende gegangen, und Mattie musste erst nächste Woche wieder am Neunten Bezirk sein. Was auch immer für Langston getan werden konnte, sie würde es von dort aus erledigen. Um wichtige Termine würde sich Matties Mitarbeiterin Michelle kümmern.

"Du hast mit Michelle darüber gesprochen?"

"Ja, ich habe ihr den Nachmittag freigegeben. Du könntest auch freinehmen."

Jaydee war Matties wichtigster Assistent, und er hatte einige Monate lang doppelt gearbeitet, als eine Teilzeitangestellte im Schwangerschaftsurlaub gewesen war. Nach seinem Abschluss in Berkeley hatte Mattie Jaydee eingestellt, und sie musste zugeben, dass er gut war. Er würde bald die Zulassung bekommen, und er machte keine Scherze, wenn er vom Obersten Gerichtshof sprach. Dass nur ein Prozent der Besten dafür infrage kam, schien ihn nicht zu irritieren.

"Okay … aber du würdest es mir sagen, wenn irgendetwas los wäre, oder?"

"Ja, Jaydee, es ist zwar nichts los, aber danke, dass du fragst." Sie drehte sich um, damit er nicht sah, wie sie an ihrer Robe zerrte, um den Reißverschluss zu öffnen. Sie wartete darauf, dass die Tür sich schloss, aber sie hörte das Klicken nicht.

"Mattie, du weißt, dass ich dir immer den Rücken freihalten würde, oder?", sagte er. "Egal was passiert, ich würde dir immer aus der Patsche helfen."

Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. "Ich weiß, Jaydee, danke."

Wie gern hätte sie ihn beim Wort genommen. Sie wusste, dass es ehrlich gemeint war, aber er ahnte ja nicht, was er ihr da anbot. Das einzige Mal in ihrem Leben, dass ihr jemand beiseite gestanden hatte, war während eines brutalen Jahres im Pensionat gewesen, als sie und zwei ihrer Mitschülerinnen einander gelobt hatten, mit dem Leben füreinander einzutreten. Ein Schwur, der sich als prophetisch erweisen sollte.

Mattie wusste nicht genau, was sie als Erstes tun sollte. Unbedingt wollte sie sich wieder in ihrer eigenen Kammer einrichten, aber ihr fehlte die Energie, etwas einzupacken, nicht einmal ihre persönlichen Dinge. Eine lange Mittagspause klang ganz verlockend, zumal ihr Frühstück ausgefallen war. Aber dann müsste sie nach Hause, um sich umzuziehen, und sie schien ja noch nicht mal aus der Robe herauszukommen.

Plötzlich trat sie mit dem Schuh gegen etwas, und als sie nachschaute, fand sie die Zeitung auf dem Fußboden. Sie musste hinuntergefallen sein, als Mattie gegen den Tisch gestoßen war. In der Hocke kniend, öffnete sie das Blatt gleich dort, wo es auf dem Fußboden lag, und warf einen Blick auf die Schlagzeile, bevor sie weiterblätterte.

Ihr Knie tat in dieser Haltung weh, aber sie blätterte weiter, nicht so sehr aus Gewohnheit, sondern aus wachsender Neugier. Wonach sie suchte, wusste Mattie nicht, aber sie hatte ein seltsames Gefühl. Etwas trieb sie an. Es war, als ob ihre Augen ein Bild gesehen hätten, das ihr Bewusstsein nicht registriert hatte.

Ein Artikel im Lokalteil erregte ihre Aufmerksamkeit. Anfang des Monats war ein örtlicher Arbeitsstreit vor der Richterversammlung des Neunten Gerichts ausgefochten worden, Mattie war mit dabei gewesen. Sie hatte die Forderungen abgelehnt mit der Begründung, dass einige Sicherheitsvorkehrungen unnötig und eine Zumutung für die ohnehin schon überlasteten Auftragnehmer seien. Das hatte sie bei den Gewerkschaftsfunktionären nicht besonders beliebt gemacht, aber andererseits schätzte man sie in der Wirtschaft ohnehin nicht. Letztes Jahr hatte sie sich auf die Seite des streikenden Großhandels gestellt.

Ihr Mangel an ideologischer Prägung sorgte sogar manchmal unter ihren Kollegen für Verwirrung. Manchmal fragte Mattie sich, ob das der schwierigste Teil war. Sie war eine einsame Streiterin in ihrem Beruf, und bis jetzt hatte sie keine engen Verbindungen zu anderen Richtern geknüpft. Das war manchmal ein Hindernis, aber es gab ihr auch die wertvolle Freiheit, unabhängig zu denken und zu entscheiden.

Sie überflog den Sport- und den Immobilienteil und blätterte weiter zu den Reportagen. Was auch immer sie dazu bewog, intuitiv weiterzusuchen, hielt an. Vielleicht hatte sie unbewusst eine Schlagzeile oder ein Zitat wahrgenommen.

Der Leitartikel über Jameson Cross, einen lokalen Krimi-Schriftsteller, ließ sie innehalten. Sie las die Schlagzeile ein zweites Mal.

"Das kann nicht sein", flüsterte sie.

Das Papier raschelte laut, als sie aufstand. Sie hielt die Seite fest, überflog den Text so schnell, dass sie einige Informationen überlas. Das Wichtigste war die Gegendarstellung, irgendwo musste der Absatz sein, in dem stand, dass dies hier ein Witz sei, ein Fehler. Das konnte nicht wahr sein.

Jameson Cross rief dazu auf, den Mordfall im Mädcheninternat wieder aufzurollen. Er wies auf William Brouds Entlastung hin und war der Meinung, dass Brouds Behauptungen über einen Sexring und eine Verschwörung, die zur Vertuschung des Mordes geführt hatte, ernst genommen werden sollten. Zitiert wurde Cross' Ankündigung, seine eigenen Untersuchungen mit dem Ziel der Wiederaufnahme des Falls zu beginnen. Außerdem behauptete er, einige prominente Verdächtige zu haben.

Mattie las den letzten Absatz laut. "Cross, der als literarischer Kopfgeldjäger nach Justizirrtümern gräbt, plant ein Buch über den Fall. Durch seine vergangenen Untersuchungen sind einige Gefangene, die fälschlicherweise des Mordes oder anderer Vergehen bezichtigt worden waren, für unschuldig befunden und entlassen worden. Außerdem half er der Polizei, die wahren Mörder zu finden."

Wenige Momente später saß Mattie an ihrem Schreibtisch und starrte auf das Telefon. Ihr erster Anruf würde in ein Luxusressort nach Mexiko gehen, der zweite ins Weiße Haus.