19. KAPITEL

Jameson berührte sein Gesicht und warf dann einen Blick auf seine Finger. Die Stelle, an der Mattie Smith ihn geschnitten hatte, war heiß und empfindlich, aber sie blutete zum Glück nicht.

Über ihm schoben sich schwarze Wolken mit silbernen Rändern über die nachmittägliche Sonne. Das seltsame Wetter verbesserte Jamesons Gemütszustand nicht, während er die Golden Gate Bridge verließ und auf den Highway 131 fuhr, eine Abkürzung, die nach Tiburon führte. Er fuhr allerdings nicht nach Hause. Er war auf dem Weg zum anderen Ende der Halbinsel, zur Rowe-Akademie.

Wer zur Hölle war Mattie Smith? Eine mordende Verrückte, die nicht nur zu einem schändlichen Verbrechen fähig war, sondern gleich zu zweien? Die umstrittene Bundesberufungsrichterin, die das Neunte Gericht mit ihren Entscheidungen in verschiedene Lager teilte? Oder die Person, die er gerade in ihrem Büro erlebt hatte, eine Frau mit einem eigenartigen Sex-Appeal und dunklem Lidschatten?

Jameson hatte das dumme Gefühl, dass vielleicht alles davon auf sie zutraf.

Und keines dieser Bilder passte zu dem kleinen Wildfang, der sich hinter Bäumen versteckt und ihn hemmungslos angespuckt hatte, als er sich ihr genähert hatte. Komisch, dass Ivy ihn die ganzen Jahre fasziniert hatte, ihre unerklärliche Schönheit und ihr mysteriöser Tod. Er hatte sich auf die falsche Frau konzentriert.

Als Jameson die Halbinsel erreicht hatte, nahm er den Weg an der Steilküste entlang. Die Rowe-Akademie lag am nördlichen Ende der Halbinsel, auf einem Grundstück, von dem aus man das Meer überblicken konnte. Die Stadt Tiburon, ein ruhiger Küstenort, der wie für eine Postkarte gemacht war, lag nur ein paar Meilen weiter die kurvige Straße hinunter.

Als Jameson durch die Eisentore fuhr, die am Eingang des grünen, hügeligen Campus standen, schaute er die Schilder, die zur Verwaltung, der Bücherei und der Kapelle wiesen, gar nicht an. Glücklicherweise wusste er genau, wohin er musste, war er doch in Gedanken immer noch mit dem morgendlichen Vorfall beschäftigt.

Das Letzte, was er erwartet hatte, als er in Matilda Smith' Gerichtssaal stürmte, war, einem Vamp zu begegnen. Er hatte eine hartherzige Killerin vor Augen, die weder Mata-Hari-Augen besaß noch wie Trauben glänzende Lippen. Was war da los?

Schutzfassaden hatten ihn immer fasziniert, besonders weil sie fast universell waren. Vielleicht war es Teil des Menschseins, die Enthüllung des versteckten Ichs zu fürchten, mit all seinen schamvollen Gefühlen und Sehnsüchten. Nur die ganz Kleinen, die nicht wissen, dass sie nackt sind, und die Sterbenden, die nichts mehr zu verlieren haben, riskierten es, den Zorn der Welt auf sich zu nehmen. Aber Mattie Smith schien keine Frau zu sein, die sich hinter ihrem Sex-Appeal versteckte. Im Gegenteil. Sie schien eher entschlossen, Männer zu verscheuchen, als sie zu verschlingen.

Er ließ das Auto neben der Ladezone stehen, in der er vor mehr als zwanzig Jahren den Lieferwagen geparkt hatte. Selbst die Rowe-Akademie hatte eine Schutzfassade, stellte Jameson fest. Die gotischen Hallen und hölzernen Fußböden hatten ihn immer an ein wunderschönes altes Schloss erinnert. Überall gab es wuchernde Grünflächen, dichte Bäume und verschlungene Pfade. Niemand würde an diesem Ort Leichen vermuten oder Korruption und Sexringe.

Der Weg führte ihn durch eine Reihe Pappeln, hinter denen er das Schulgebäude erkannte. Das mit Efeu berankte Mauerwerk war hufeisenförmig um einen großen Innenhof angelegt, in dem im Sommer die Kletterrosen an den Wänden rot, rosa und gelb blühten. In der Mitte des Hofes thronte eine zufriedene griechische Göttin mit Weintrauben im Arm über dem Brunnen. Große Steinbänke standen darum herum, jede von einem Gitter mit Weinranken umgeben.

Es war wie ein geheimer Garten, nur nicht ganz so unschuldig. Einige der Notizen in Billys Aufzeichnungen deuteten auf verschiedene Aspekte des Sexrings hin. Er schilderte einige verbotene Treffen, die in genau diesem Hof stattgefunden hatten. Offensichtlich konnte ein männlicher Kunde von einem der Fenster der Direktorin auf den Hof schauen, das Mädchen seiner Wahl aussuchen und Millicent Rowe den Rest überlassen. Leider erwähnte Billy die Namen dieser Kunden nicht. Entweder wusste er nicht, wer sie waren, oder er hatte sie bewusst nicht mit Namen genannt, möglicherweise wegen der Drohungen, die er erhalten hatte. Die Notizen enthielten Andeutungen, dass die beteiligten Schülerinnen die Stipendiatinnen waren, was Jameson sinnvoll erschien. Sie lebten im Internat, getrennt von ihren Familien und anderen Schutzmechanismen, sie waren leichte Opfer. Jameson warf einen Blick auf die Gebäude und stellte fest, dass Sommerferien waren und der Campus somit fast verlassen wirkte. Er bemerkte ein paar Jogger, die mehr wie Fakultätsmitglieder als Schüler aussahen. Nur in der Bücherei war etwas los. Sogar in den weiterführenden Schulen wurde schon rund ums Jahr recherchiert.

Jameson hoffte, dass einige Erinnerungen wach werden würden, als er weiterging. Kürzlich hatte er sich auf dem Campus aufgehalten, um mit dem Lehrkörper und den anderen Angestellten zu sprechen. Er hatte sie gebeten, sich an die Zeit vor dreiundzwanzig Jahren zu erinnern. Heute wollte er sich zurückversetzen, und das nicht nur wegen seines Bruders. Die ganze Geschichte schrie nach Gerechtigkeit, aber es war die Verschwörung, die Jameson genauso fesselte wie das Verbrechen. Billy hatte behauptet, dass es ein Sexring von VIPs gewesen sei. Für ihn klang es nach einer Clique von Männern, die glaubten, dass Macht und Geld ihnen Zugang zu allem verschaffte, minderjährige Mädchen eingeschlossen. Und wenn sich Jamesons Verdacht als richtig erwies, war es dieses Netz von Korruption, das zum Tod der Direktorin geführt hatte. Unglücklicherweise waren die Einzigen, die ein Motiv hatten, die Opfer selbst. Aber wenn sie seinen Bruder wissentlich als Unschuldigen ins Gefängnis hatten gehen lassen, waren sie nicht nur Opfer, sondern selbst Teil der Verschwörung.

Als William Broud senior, ihr Vater, starb, stattete Jameson San Quentin einen Besuch ab, um seinem Bruder davon zu berichten. Seit Ewigkeiten hatte er Billy nicht gesehen und war nicht überrascht, dass sein Bruder sich weigerte, mit ihm zu sprechen. Er ließ ihm lediglich ausrichten, er solle ihn in Ruhe lassen. Jameson hatte wenig andere Möglichkeiten, als einzuwilligen, und er hatte Billys Wunsch bis zu seiner Entlassung respektiert. Dann hatten ihn die Schuld und das schlechte Gewissen übermannt.

Billy hatte es nicht getan? Niemand glaubte an seine Unschuld, auch Jameson nicht. Die gesamte Gemeinde hatte es eilig gehabt, ihn zu verurteilen. Sie waren alle ein Teil der Verschwörung, auch Jameson.

Jameson lief an der Bibliothek und an der Krankenstation vorbei. Vor dem Turm, in dem sich Miss Rowes Apartment befunden hatte, stoppte er. Es war Zeit, die Fassaden einzureißen und die Wahrheit zu enthüllen. Mit seiner eigenen Schuld hatte er sich schon auseinandergesetzt. Jetzt wollte er die Bastarde finden, die einen unschuldigen Mann in den Tod geschickt hatten. Diese Verschwörung wollte er aufklären.

Er war in der Gegend aufgewachsen, und in seinem Kopf tauchten immer wieder die gleichen Fragen auf: Wer zur Hölle waren diese Männer in dem Sexring? War es jemand, den er kannte? Und warum hatte sein Bruder geglaubt, dass die drei vierzehnjährigen Mädchen die Direktorin getötet hätten?

Diese Fragen ließen Jameson nicht los, als er eine Gruppe Schülerinnen beobachtete, die aus der Bücherei kam und stehen blieb, um sich zu unterhalten. Vor zwanzig Jahren war er immer wieder Zeuge ähnlicher Szenen gewesen. Es war ein normales Verhalten für junge Mädchen – nur nicht für diese Mädchen. Sie saßen nicht unter den Bäumen und picknickten wie die anderen Schülerinnen. Nicht einmal hatte er gesehen, wie sie an den üblichen Ritualen oder dem Klatsch über Jungs teilhatten. Sie sprachen ihre eigene Sprache, hielten sich gegenseitig den Rücken frei und taten Dinge, die wie weibliche Mutproben wirkten.

Jameson wusste das, weil er in eine von ihnen vernarrt gewesen war und sie genau beobachtet hatte. Alle möglichen Ausreden hatte er sich einfallen lassen, um auf den Campus zu gehen. Gelegentlich hatte er sogar "vergessen", einige Dinge auszuliefern, damit er öfter herkommen konnte. Ein Wunder, dass er seinen Job nicht verloren hatte.

Wie eine Gruppe von Dieben unternahmen sie so gut wie nie etwas getrennt voneinander, und einmal musste er den Mut aufbringen, auf alle vier zuzugehen. Mehrmals hatte er versucht, mit ihnen zu sprechen, aber es war nicht leicht gewesen. Mehr als ein errötendes Hi war aus Ivy nicht herauszubekommen. Und das hatte ihn fertiggemacht. Breeze war lustig und charmant, aber ein bisschen zu selbstbewusst für einen schüchternen achtzehnjährigen Lieferjungen. Jane gab sich reserviert, Jameson hielt sie für die Anführerin, die ihre kleinen Schützlinge immer im Auge behielt. Mattie galt als der Wildfang, zu allen Schandtaten bereit.

Einmal hatte er die vier zusammengedrängt in einem Alkoven hinter der Greadon Hall gesehen. Sie hatten offensichtlich geglaubt, dass keiner sie beobachten würde, und ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit herumgereicht – möglicherweise etwas, das sie aus der Krankenstation gestohlen hatten. Das hatte er damals jedenfalls angenommen. Einige Tropfen hatten sich die Mädchen auf die Handrücken und Wangen gerieben und danach einen Schluck aus der Flasche genommen. Breeze Wheeler hatte sich an den Hals gegriffen, als würde sie ersticken. Nur Ivy hatte nicht gemerkt, dass das ein Witz war. Die anderen hatten über das kalkweiße Gesicht des Mädchens gelacht, als Mattie ihn entdeckt hatte. Sofort waren sie in den Kiefernwald gehuscht, was Jameson davon überzeugt hatte, dass sie nichts Gutes im Schilde führten.

Er hatte gedacht, dass es um Drogen oder Alkohol ging, wahrscheinlich irgendein Ritual, und Jameson ließ es dabei bewenden. Jetzt dachte er erstmals wieder darüber nach. Wenn es darum ging, high zu werden, rieb man kein Rauschmittel auf Hände und Wangen. Aber wenn es eine Art Kräutertinktur war, so etwas wie Herzwein …

Jameson überquerte den Hof und durchquerte einen der steinernen Durchgänge, die sich wie ein Labyrinth durch den Gebäudekomplex zogen. Er fragte sich, ob die alte Kapelle noch in Betrieb war. Heute wünschte er sich, er hätte die Mädchen damals besser im Auge behalten. Sie waren immer für sich gewesen. Keine ihrer Unterhaltungen hatte er je mitbekommen, doch sie hatten oft so gewirkt, als hätten sie etwas vorgehabt.

Woran er sich noch genau erinnerte, war der Morgen, an dem er seinen Bruder mit Miss Rowe streiten sah. Jameson war gebeten worden, einen ungeplanten Zwischenstopp einzulegen, und als er eine Kiste mit Vorräten in die Cafeteria brachte, hörte er Geräusche aus der Kapelle. Ein Mann und eine Frau debattierten, und der wütende Tonfall veranlasste Jameson, die Tür zu öffnen.

Anscheinend waren sie in die Kapelle gegangen, um ihre Ruhe zu haben, aber sie hatten nicht bemerkt, wie laut ihr Geflüster in dem Altarraum widerhallte. Jameson hatte Billys näselnde Stimme und seine schlechte Ausdrucksweise erkannt. Die weibliche Stimme kam ihm nicht bekannt vor, bis er um die Ecke lugte und sie sah.

Niemand trug sein Haar im Nacken so eng geflochten wie die Direktorin der Rowe-Akademie. Millicent Rowe bezichtigte Billy der Erpressung und drohte mit Rache. Jameson hörte sie sagen, dass es ihr egal sei, woher er die Drogen nehme, er solle sie damit in Ruhe lassen. Sie erinnerte ihn daran, dass er alles andere als clean sei. Billy hatte damals schon ein Vorstrafenregister, er war bereits im Knast gewesen. Miss Rowe warnte ihn, dass er es bereuen würde, wenn er etwas Dummes täte.

Dass es um Drogen ging, überraschte Jameson nicht. Billy war unter anderem wegen seines Drogenkonsums von den Eltern rausgeschmissen worden, und der Handel mit illegalen Substanzen hatte ihn für einige Zeit ins Gefängnis gebracht. James war allerdings überrascht von Millicent Rowe. Sie sah nicht wie eine Frau aus, die Gärtner oder Drogendealer zu ihren Freunden zählte, und Billy war beides.

Miss Rowes Vater war Gouverneur und ihre Familie wohlhabend, wenn nicht reich. Jameson hatte herausgefunden, dass das Geld in einem Erziehungsfonds steckte, den ihre Großmutter angelegt hatte. Darauf hatte Miss Rowe keinen Zugriff. Trotzdem hatte Jameson sie einige Male im Ort beim Einkaufen gesehen, einmal erstand sie teure Smaragdohrstecker. Jameson wusste in etwa, was eine Schulleiterin verdiente – ein Monatsgehalt hätte gerade mal für die Goldfassung gereicht.

Seinen Bruder mit ihr zu sehen, war ein anderer Grund gewesen, weshalb Jameson gezögert hatte, bei der Verhandlung auszusagen. Was er gehört hatte, konnte als Motiv für einen Mord ausgelegt werden. Wenn das herausgekommen wäre, hätte er Billy mehr geschadet als genutzt. Aber Jameson hätte sich deshalb keine Sorgen machen müssen. Von keiner Seite war er aufgerufen worden. Die Anklage verfügte nicht nur über Fingerabdrücke und Blutspuren: Sie hatten auch ein paar Schülerinnen, die behaupteten, Billy morgens gesehen zu haben, wie er das Apartment betreten habe. Ein klarer Fall. Jeder dachte das damals, und Jameson war da keine Ausnahme gewesen.

Gedankenversunken schlenderte er zurück zu seinem Auto. Als er wenig später in seinen Geländewagen stieg, dachte er über die nächsten logischen Schritte nach. Er wartete auf den Autopsiebericht über Billys Todesursache. In der Zwischenzeit beabsichtigte er, Tansy Black einen unangekündigten Besuch abzustatten. Sie hatte sich geweigert, ihn zu treffen, als er sie am Telefon darum gebeten hatte. Aber er würde ihr keine zweite Chance für eine Ablehnung geben. Noch gab er die Hoffnung nicht auf, die Originaldokumente in die Finger zu bekommen. Niemand schien ihm sagen zu wollen, wer die Akten hatte versiegeln lassen und warum. Und das war das Mindeste, was man normalerweise erfuhr.

Videokassetten. Eine fehlt.

Das war Jamesons nächster Schritt. Aber sogar als er damit beschäftigt war, diesen Plan zu Ende zu entwerfen, wanderten seine Gedanken zu einer anderen Unstimmigkeit – zu einer solch monumentalen Belanglosigkeit, von der er kaum glauben konnte, dass sie seine Gedanken schon wieder in Beschlag nahm. Gefangen wie eine Maus im Labyrinth, die immer wieder um die falsche Ecke läuft und da landet, wo sie gestartet ist.

Vor seinem inneren Auge kämpften zwei gegensätzliche Bilder von Mattie Smith miteinander – das eines Kindes, von Wölfen aufgezogen, das knurrte und spuckte, wenn jemand ihm zu nahe kam; und das Bild einer erwachsenen Frau, einer eisig schönen Kreatur, deren Richterzimmer er gerade verlassen hatte.

Er berührte die Schnittwunde auf seiner Wange.

Das war einfach. Er mochte das ungepflegte kleine Monster lieber.

Sie hatte sich nicht besonders schlau dabei angestellt, Jameson Cross in die Schranken zu weisen. Missmutig zog Mattie ein meterlanges Stück Klopapier von der Rolle, faltete es und ging zum Waschbecken, um es zu befeuchten. Sie wollte kein Stoffhandtuch ruinieren und wusste nicht, wie sie die Schmiere sonst entfernen sollte, die Breeze ihr aufgetragen hatte.

Auch die Anhörung gehörte nicht zu Matties Glanzleistungen. Die übliche straffe Kontrolle über die Verhandlung war ihr entglitten. Anscheinend hatte jeder ihre fehlende Konzentration gespürt, so wie ein Kind ahnt, wenn die Mutter Schwierigkeiten hat. Hinterher war Mattie direkt ins Bad gegangen. Auch wenn das Make-up nicht schuld war, es musste verschwinden. Sie mochte es nicht, wie die Leute sie so genau ansahen. Schlimmer noch, sie schienen nicht mehr mitzubekommen, was sie sagte. "Entschuldigung, Euer Ehren?" Den ganzen Nachmittag lang war Mattie gezwungen gewesen, sich zu wiederholen, und das hatte sie aus der Bahn geworfen.

Jaydee stand in der Tür zum Bad und sah zu, wie Mattie den Eyeliner abwusch. Der Ärmel ihrer Robe war klitschnass. Offensichtlich hatte sie ihn versehentlich auch unter das Wasser gehalten, als sie das Klopapier befeuchtete.

"Ich mochte diese Bette-Davis-Augen irgendwie."

Sie wrang den Ärmel über dem Waschbecken aus. "Ich mag sie auch – an Bette Davis."

Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans, aber die Finger rutschten nicht tiefer als zu den zweiten Knöcheln, weil der Schnitt zu eng war. Jaydee trug diese Hosen aus der Überzeugung, dass die Damenwelt seine maskulinen Vorzüge zu schätzen wusste.

"Wasserfester Eyeliner muss die halbe Lebenszeit von Plutonium haben", grummelte Mattie. "Guck dir das Zeug an. Es geht nicht ab."

Sie rieb an ihren Augen, bis sie blutunterlaufen waren. Damit zauberte sie jedoch nur zwei charmante schwarze Heiligenscheine um ihre Augenhöhlen. Den nächsten Job werde ich als Clown antreten, überlegte Mattie. Vielen Dank, Breeze.

"Wäre es vermessen zu fragen, was heute Morgen im Gerichtssaal passiert ist?", sagte Jaydee. "Den Gerüchten zufolge hast du dir einen Faustkampf mit Jameson Cross geliefert. Er blutete am Kopf, als ich reinkam."

"Wo warst du, Jaydee? Der Gerichtsdiener ging dich suchen, und ich war im Saal ganz allein."

"Tut mir leid, ein natürliches Bedürfnis, und ich habe es gerade rechtzeitig zu den Toiletten geschafft. Also, was ist passiert?" Er machte einen neuen Versuch. "Hat er einen Annäherungsversuch gestartet?"

"So, wie ich das sehe, warst du der Einzige, der Annäherungsversuche gemacht hat. Du warst ja ganz hin und weg von dem talentierten Mr. Cross."

Jaydee räusperte sich. "Mattie, das ist gemein."

Mattie bearbeitete den Eyeliner mit einem Papierhandtuch und Flüssigseife – und diesmal mit Erfolg. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nicht länger wie ein Waschbär aussah. Die Leute würden einfach denken, sie hätte fünf Tage lang nicht geschlafen.

"Was ist der Stand der Dinge mit Langston?" Ohne auf Jaydees Beschwerde einzugehen, wechselte Mattie das Thema und knöpfte sich die Bluse auf, während sie an Jaydee vorbei in ihr Büro ging. Die Robe landete auf einem Stuhl, mit nassem Ärmel und allem. Jetzt war Mattie in Arbeitsstimmung, erpicht darauf, so viel zu erledigen, wie sie nur konnte.

"Du hast den Fall den richtigen Anwälten übertragen. Sie haben sich bereits getroffen und einen Plan entwickelt. Der Antrag auf Berufung wird nächste Woche gestellt."

"Fantastisch", sagte sie mit großer Erleichterung. "Ich verlasse mich darauf, dass du mir in diesem Fall Augen und Ohren ersetzt, Jaydee."

Sie ging an ihren Schreibtisch, um die Termine für die nächsten Wochen zu checken. Gewöhnlich legte ihre Assistentin eine Kopie der anstehenden Gerichtsverhandlungen in den Eingangskorb, zusammen mit einer Auflistung der Fälle, in denen Mattie die Anhörung leiten musste. Aber weil sie während der letzten Wochen am Bezirksgericht gearbeitet hatte, fehlten die Unterlagen jetzt.

"Ich weiß nicht, wie mein Terminplan aussieht", sagte sie. "Kannst du mir eine Kopie des Gerichtsplans besorgen?"

"Sag nichts. Ich habe schon nachgesehen. Du sollst zwei Fälle von sexueller Diskriminierung übernehmen, Gott sei Dank. Ich lebe für diese Fälle, und der erste wird ein ziemliches Theater werden. Ich habe es für dich bis morgen fertig vorbereitet. Es gibt außerdem einen Fall zu einer Verfassungsänderung, der völlig aberwitzig ist, aber auf mich hört ja keiner."

Mattie ging zum Fenster. Sie wusste, was zu tun sein würde. Trotzdem war sie immer noch hin- und hergerissen. "Jaydee, ich muss alle Termine streichen lassen. Ein anderer Richter muss die Fälle übernehmen."

"Welche Fälle konkret?"

"Alle."

"Was?"

Sie nickte. "Ich nehme mir frei."

"Mattie, du machst nie Urlaub. Seit ich dich kenne, warst du jeden einzelnen Tag im Gericht. Was ist los?"

Da das Telefon klingelte, bedeutete Mattie ihm, zu gehen, mit dem Versprechen, später alles zu erklären. "Ja, Michelle?"

Die lebhafte Stimme ihrer Assistentin drang durch das Telefon. "Euer Ehren, eine Jane Dunbar möchte mit Ihnen sprechen. Sie wollte mir nicht sagen, worum es geht."

"Das ist in Ordnung, Michelle, stell sie durch." Jane benutzte ihren Mädchennamen. Alles andere hätte in dieser Situation wie ein Schuss mit einer Leuchtpistole gewirkt.

Mattie hörte ein mehrfaches Klicken, aber niemand sprach. Das tonlose Rauschen klang seltsam. "Jane?"

"Mattie, er ist tot. William Broud wurde ermordet."

Das letzte Wort ließ Mattie schaudern. Nichts von dem, was Jameson Cross gesagt hatte, erschütterte sie so sehr wie dieser Satz. Die Nachricht von Jane zu hören, ließ sie real erscheinen. Es war die Wahrheit.

"Von wo aus rufst du an?", fragte Mattie.

"Von meinem Mobiltelefon. Ich bin auf dem Weg zurück ins Weiße Haus. Ich hatte einen … Arzttermin."

"Woher weißt du das mit Broud?"

"Es war in den Nachrichten." Janes Stimme wurde zu einem Flüstern.

"In Washington, D.C.? Ist es eine landesweite Meldung?"

"Nein, lokal. Es gibt einen Fernseher in diesem Auto, und man bekommt Sender aus der Bay Area herein. Im Büro habe ich eine spezielle Satellitenleitung. Keiner denkt sich etwas dabei. Ich komme ja aus Kalifornien."

Als Jane fertig war, hakte Mattie nach. "Haben sie wirklich gesagt, dass er ermordet worden ist, Jane? Haben sie genau das gesagt?"

"Ja, sicher, natürlich. Meinst du etwa, das wurde er nicht?"

"Ich frage dich nur, ob die Medien das verbreiten." Jameson hatte ihr nicht gesagt, wie Broud gestorben war, und sie hatte nicht danach gefragt. Vielleicht bluffte er, in der Hoffnung, sie so zu ängstigen, dass sie gestehen würde.

Jane zögerte. "Na ja, ich bin mir nicht ganz sicher. Sie haben gesagt, dass er in San Rafael in einem Hotel tot aufgefunden wurde, und ich habe es einfach angenommen."

"Lass uns nichts annehmen, okay, besonders nicht das Schlimmste. Lass mich herausfinden, was passiert ist, und dann rufe ich dich wieder an."

"Mattie, was ist mit Jameson Cross? Hast du bei ihm schon irgendwas erreicht? Gott, wenn er das hört!"

Er hat es bereits gehört, Jane.

"Was ist mit Breeze?", fragte Jane. "Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie geht nicht ans Telefon. Ich habe es auch bei dir zu Hause versucht. Sie ist nicht da."

Mattie musste nachdenken. "Sie sprach davon, sich einen Wagen zu mieten und nach San Francisco zu fahren, wahrscheinlich zum Shoppen. Ich werde sie finden. In der Zwischenzeit keine Panik. Keiner kann beweisen, dass wir damit irgendetwas zu tun haben." Eine Lüge, Mattie, vielleicht sogar eine ganz schlimme Lüge. "Ich muss meine Termine streichen lassen, und dann kümmere ich mich darum."

"Mattie, warte …"

Janes scharfer Protest blieb Mattie im Ohr, sogar nachdem sie aufgelegt hatte. Trotzdem konnte sie jetzt nicht mit Fragen umgehen. Sie hatte keine Antworten. Was sie hatte, war ein Anruf, der zu erledigen war, und ein Gebet, das gesprochen werden musste, eine stille Anrufung des Himmels mit der Bitte um Erlösung. Und wenn nichts davon helfen würde, gäbe es immer noch die Augenbinde.