35. KAPITEL

Ich bin nicht verrückt. Ich terrorisiere und quäle keine Menschen. Ich schände keine Leichen. Ich entferne Hindernisse, nichts anderes. Alle großen Figuren der Geschichte mussten Stolpersteine aus ihrem Weg räumen. Moses musste das Meer teilen. Jesus räumte mit seinen Wundern Zweifel aus. Mutter Teresa bekämpfte Armut und Ignoranz mit dem Schwert der Liebe und heilte so einen Menschen nach dem anderen.

Nicht Hitler, natürlich. Kriege und Massenmorde sind übertrieben, das Produkt eines kranken, paranoiden Geistes. Menschen lernen anhand von Beispielen. Nur wenige müssen entfernt werden, um die Masse zu erziehen. Die Menschen sind lernfähig, selbst die Schafe unter ihnen.

Ich bin stolz darauf, so effizient und organisiert zu sein. Manche von uns wurden dazu geboren, Großes zu vollbringen. Ich gehöre dazu, ich bin ein Macher. Mein Geist funktioniert einfach so. Wenn andere das nicht erkennen können, wenn sie nicht genug Verstand besitzen, um mir aus dem Weg zu gehen, dann lassen sie mir keine andere Wahl, als sie zu eliminieren.

Aus Liebe tue ich es. Warum sollte ich sonst zu so extremen Mitteln greifen? Ich weiß, worauf es ankommt. Ich frage mich, ob sie das versteht. Sie würde ich lieber nicht töten, aber sie lässt mir keine Wahl. Und sie ist ein zu starker Gegner, um es dabei zu belassen. Sie wird ein Beispiel für andere abgeben, sie wird der Wendepunkt sein, der alles zu meinen Gunsten entscheiden wird. Und davor muss ich mich noch um jemand anders kümmern – sein Schicksal ist bereits besiegelt. Ihn zu erledigen, macht mir nichts aus. Ehrlich gesagt, vielleicht werde ich es sogar genießen.

Jetzt muss ich schlafen und dieser Maschine entfliehen, die mein Geist manchmal ist. Wenn sie es zulässt – die meiste Zeit tut sie es nicht. Ich quäle niemanden, doch manchmal foltert mein Geist mich. Ich kenne keine Ruhe, und in schwachen Momenten, wenn meine Gefühle mich kontrollieren, hasse ich die bequemen selbstgefälligen Schafe, die alles als selbstverständlich hinnehmen. Sie glauben, dass das Leben ihnen Gesundheit, Reichtum und Glück schuldet, Sicherheit, sogar Seelenfrieden.

Das Leben schuldet ihnen gar nichts. Es hat mir auch nichts gegeben. Ich kämpfe, kämpfe, um das Leben zu verstehen. Niemals werde ich ruhen. Warum sollten sie es dann? Die Natur ist das perfekte System, aber die Menschen haben es in ihrem Streben nach Kontrolle aus dem Gleichgewicht gebracht. Glück ist kein Geburtsrecht. Es muss verfolgt werden und verdient. Sogar unsere Verfassung bestätigt das.

Ich bin nicht Moses oder Jesus, und ganz bestimmt nicht Hitler. Ich bin ein Lehrer der Menschheit, meine Leistung besteht darin, einigen die Wahrheit des Lebens zu vermitteln. Bevor ich fertig sein werde, werden einige von ihnen sie kennen.

Mattie schaute noch einmal auf ihre Armbanduhr. Gerade erst sieben Uhr abends. Die getönten Scheiben vermittelten den Eindruck, als wäre die Sonne bereits untergegangen. Um die Fahrt zum Flughafen hatte sich Jane gekümmert, Mattie nutzte die Zeit in der Limousine, um ihre Mailbox abzuhören. Es gab ein paar Nachrichten aus dem Büro, meist fragte Michelle nach Details zu der Abwicklung der nächsten Fälle. Matties Frauenarzt hatte angerufen und den Termin für einen alljährlichen Check bestätigt, den Mattie bereits vergessen hatte. Und sie fand ein halbes Dutzend Nachrichten von Jaydee, bei denen es um den Langston-Fall ging.

Er hatte schlechte Neuigkeiten. Zwei der drei Richter, die über die Berufung entscheiden würden, sahen ein Problem in Matties unterschiedlichen Darlegungen in dem Fall. Auf die Egos der Richter hatte Mattie keine Rücksicht genommen, und das holte sie jetzt ein. Mattie hasste den Gedanken, dass ihre Fehler den Fall komplizierten.

Schadensbegrenzung, sagte sie sich. Sie würde einen Weg finden, das wieder in Ordnung zu bringen, wenn sie zurück sein würde.

Auch Jameson hatte Mattie zu erreichen versucht, aber sie hatte noch nicht gehört, was er wollte. Während des Treffens mit Jane und Breeze hatte Mattie ihm auf dem Anrufbeantworter eine kurze Nachricht hinterlassen und gesagt, dass sie wegen eines Notfalls wegmüsse. Offensichtlich hatte er ihren Anruf beantwortet. Aus irgendeinem Grund hob Mattie sich diese Nachricht bis zuletzt auf.

Weil es das Unwichtigste ist, sagte sie sich.

Sie wünschte, das wäre wahr, tatsächlich brannte sie regelrecht vor Neugier. Als sie am Morgen seine Wohnung verlassen hatte, war eine Spannung zwischen ihnen spürbar gewesen. Mattie hatte sich gesagt, dass es so besser sei. Sie musste sich von ihm distanzieren, wie sie es sonst auch tat. Sie war eine Einzelgängerin.

Vielleicht hätte sie sich davon überzeugen können, wäre nicht ein seltsames Verlustgefühl in ihr aufgestiegen. Sogar einen Druck auf der Brust spürte sie, einen Drang, tief einzuatmen.

Sie musste verrückt sein. Was sollte sie verloren haben? Außer eines Konflikts und einer Notsituation hatte sie mit Jameson nichts geteilt.

Ein Schild zum Dulles Airport tauchte vor dem Fenster auf, und Mattie schnürte sich der Magen zusammen. Bald würde sie da sein, sicher war sie sich mit ihrer Entscheidung jedoch immer noch nicht. Jane und Breeze hatten nicht nachgegeben. Sie hatten gebettelt, gefleht und gedrängt, dass Mattie sich mit David Grace treffen solle.

Sie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie in der Bar der Limousine entdeckt hatte. Leider gab es keine Snacks. Schon jetzt war Mattie so hungrig, dass sie fast alles gegessen hätte. Alle Anrufe waren mittlerweile beantwortet, Mattie hatte allen Nachrichten hinterlassen. Allen außer Jameson.

Bei dem bloßen Gedanken wurden ihre Wangen heiß. Warum war sie so neugierig auf ein paar Sätze von einem Mann, der ihr Leben so leicht zerstören könnte – ein Mann, der sie des Mordes beschuldigte? Wie einfach war das Leben noch gewesen, als jeder angenommen hatte, dass Mattie an keiner Beziehung zu einem Mann interessiert sei, und sie alle in dem Glauben gelassen hatte. Jameson Cross konnte genauso gut ihr Erzfeind wie ihr Liebhaber sein. Eine emotionale Verwicklung würde die Dinge nur komplizieren. Und trotzdem …

Sie drückte die Wähltaste und gab den Code ein.

"Mattie, hier spricht Jameson."

Der Klang ihres Namens aus seinem Mund wirkte auf Mattie so warm und gehaltvoll wie hochprozentiger Alkohol. Ihr brannte die Kehle, als hätte sie Whiskey statt Wasser getrunken. Dann unterbrach eine Störung in der Leitung einige Sekunden lang die Verbindung – als Mattie Jamesons Nachricht wieder hörte, war etwas mit seiner wunderbaren Stimme passiert. Sie war kalt und hart geworden.

"Ich weiß nicht, was du vorhast, Mattie, aber du hast achtundvierzig Stunden, um mir zu beweisen, dass du und deine Freundinnen keine kaltblütigen Mörderinnen seid. Eine überregionale Tageszeitung hat mich gebeten, eine Serie über den Fall meines Bruders zu schreiben. Sie warten auf den ersten Entwurf, und ich beabsichtige, alle Namen zu nennen. Jetzt liegt es an dir."

Die Limousine verlangsamte das Tempo und Mattie sah verwirrt auf. In dem engen Raum fiel es ihr plötzlich schwer, zu atmen. Sie hatte keine Ahnung, was mit Jameson los war. Sie hatte ihm keine ausführliche Nachricht hinterlassen können. Ihr Ziel hatte Mattie nicht nennen können, ohne gleichzeitig Janes Privatsphäre zu verletzen. Das hier hatte ein Tagestrip werden sollen, Dulles und zurück.

"Wir sind da, Ma'am", rief der Fahrer. "Welche Fluggesellschaft?"

Mattie war hin- und hergerissen. Sie zweifelte nicht daran, dass Jameson seine Drohung wahr machen würde. Nur verstand sie nicht, warum er ihr überhaupt drohte. Vielleicht wäre es das Beste, direkt zurückzufliegen und ihn zur Rede zu stellen.

Entschlossen wählte Mattie seine Nummer und war überrascht, als er ans Telefon ging. "Jameson, bist du es? Ich habe nicht viel Zeit, aber ich verstehe deine Nachricht nicht. Warum stellst du mir ein Ultimatum? Hallo? Bist du noch da?"

"Wo bist du, Mattie?"

"Ich bin am Flughafen. Jameson?"

Mattie hörte den Fahrer rufen. "Ma'am? Die Fluggesellschaft?" Jamesons Stimme klang metallisch und schwach. Ein Summen in der Leitung zeigte an, dass das Telefon keine Verbindung mehr hatte. Mattie hatte Jameson verloren, und sie hatte keine Zeit mehr, um ihn zurückzurufen. Was sollte sie jetzt machen? Das war doch Wahnsinn. Sie musste dem Fahrer antworten. Mattie hatte das Gefühl, ein Risiko einzugehen, egal, was sie tat. Und die falsche Entscheidung wäre verhängnisvoll.

Der Lärm in ihren Ohren nahm eine schmerzhafte Frequenz an. Das Rauschen übertönte alles, sogar die Stimme des Fahrers. Gegen die innere Lähmung ankämpfend, sammelte Mattie ihre Sachen zusammen. Ihre Glieder fühlten sich fremd an, als hingen sie nur an ihr, wie bei einer Marionette. Mit reiner Willenskraft bezwang Mattie den Lärm. Nachdem sie das Handy in der Tasche verstaut hatte und ihre Jacke in der Hand hielt, ließ der Geräuschpegel nach. Zwar konnte Mattie es noch hören. Doch der Lärm tobte nicht länger in ihr, sondern irgendwo anders, ganz weit weg, wo er sie nicht verletzen konnte. Nichts konnte sie verletzen.

"Zum internationalen Terminal bitte", teilte sie dem Fahrer mit.

Mit diesen Worten traf sie die Entscheidung, die ihr Leben veränderte. Nicht nach Westen, zurück nach San Francisco, zu Jameson und Tiburon, flog Mattie. Sie hatte ein Ticket nach Heathrow mit Anschluss nach Rom. Sie war auf dem Weg zur Amalfiküste, um sich mit David Grace zu treffen.

Mattie hatte Angst, in den Abgrund zu sehen. Der silberne Bentley fuhr fast vertikal die Klippen hinauf. Ein Blick aus dem Fenster gab ihr das Gefühl, immer noch im Flugzeug zu sitzen. Einige hundert Meter unter ihr donnerte das Tyrrhenische Meer gegen die Klippen, die Straße war so schmal, dass Mattie sie neben dem Wagen nicht ausmachen konnte.

Es war genauso beängstigend wie atemberaubend. Leider sprach der italienische Fahrer nur wenig Englisch. Deshalb musste Mattie sich auf Handzeichen beschränken, was ihn offenbar amüsierte. Wenigstens hatte sie am Flughafen einen Reiseführer mitgenommen, der einige Sätze auf Italienisch enthielt.

"Siamo quasi là?" Um das Motorengeräusch zu übertönen, musste sie die Stimme heben. Mit Glück hatte sie ihn gefragt, ob sie bald da wären.

"Drei Kilometer", rief er in stark gebrochenem Englisch zurück.

Drei Kilometer. Fast am Ziel. Mattie hatte schon geglaubt, dass das nie passieren würde. Von London war sie nach Rom geflogen, wo Grace' Limousine sie abgeholt hatte. Die etwa zweieinhalbstündige Fahrt an der Küste entlang hatte sie auf teilweise sehr abenteuerliche Straßen geführt.

Auf dem Gipfel des Bergs fuhr der Fahrer auf einen weißen Kiesweg, der von Bäumen und klassischen Statuen umsäumt war. Die Pracht des Anwesens hatte Mattie nicht erwartet, als sie darauf zufuhren. Anscheinend besaß Grace viele Häuser. Das Bauwerk, das Mattie jetzt erblickte, hatte Jane als Villa beschrieben, aber es war viel größer als das.

Der Eingang erinnerte Mattie an ein Senatsgebäude im alten Rom. Marmorstufen führten zu einem runden Vorbau mit alabasterfarbenen Säulen. Granitfiguren, die möglicherweise das Fabelwesen Greif darstellten, standen auf jeder Seite der Flügeltüren. Hellgrüne, kunstvoll beschnittene Bäume hatten wie von Zauberhand die Form von Zirkusfiguren angenommen.

Der Bentley kam direkt vor dem Eingang zum Stehen, wo ein großer silberhaariger Mann bereits wartete. Das ist nicht David Grace, stellte Mattie fest. Es war ein Bediensteter, ein Butler in Livree.

Sehr vornehm, dachte sie. Grace musste wie ein Lord in einem Palast leben.

Mattie schaute auf ihre Armbanduhr und rechnete zehn Stunden Zeitverschiebung dazu. In Italien war es mitten am Nachmittag, und Mattie hatte seit über vierundzwanzig Stunden weder geduscht noch die Kleidung gewechselt. Für den Ausflug hatte Jane ihr einige Stücke geliehen, glücklicherweise trugen sie fast die gleiche Größe. Mattie hatte sich auf der Flugzeugtoilette, so gut es ging, frisch gemacht. Trotzdem, sie fühlte sich unter diesen Umständen nicht besonders repräsentabel. Für ein Bad und ein paar Stunden Schlaf vor ihrem Treffen mit dem Gastgeber hätte sie einiges gegeben.

Douglas, der englische Butler, gab dem Fahrer Anweisungen, wo er ihre Taschen hinbringen sollte, und führte Mattie ins Foyer der Villa. Italienische Fresken, die an die Renaissance erinnerten, schmückten die gewölbte Decke. Die Wandbemalung zwischen den Säulen zeigte eine üppige grüne Landschaft. Hinter dem Foyer entdeckte Mattie eine Fläche glänzenden schwarzen Marmors. Sie führte zu einer Fensterfront, hinter der die Klippen und das Meer zu sehen waren.

Ein kobaltblauer Himmel dominierte das Fensterzimmer, wie Mattie es bei sich nannte. Sie sah goldene Stühle, die mit Versacestoffen bezogen waren, einen großen Konzertflügel und dünne Bambusrohre, die in lackierten Kästen standen. Bei dem Anblick wurde Mattie beinah schwindelig, und mitten drin stand David Grace.

"Euer Ehren, willkommen", sagte er und schritt auf sie zu, um sie zu begrüßen.

Mattie hatte einen großen Mann mit makellosen Manieren und den Wesenszügen eines Patriarchs erwartet. Dass er warmherzig und freundlich war, überraschte sie. Wenn er bemerkt hatte, dass ihre Kleidung zerknittert war und sie unter der Zeitverschiebung litt, ließ er sich nichts anmerken. Nur die Traurigkeit in seinen wolkengrauen Augen konnte er nicht verbergen.

Mattie war sofort fasziniert.

"Jane sagte mir, dass Sie wunderschön sind." Sein Lächeln verscheuchte einige Schatten in seinem Blick. "Ihre Beschreibung ist Ihnen allerdings nicht gerecht geworden. Ihre Augen stellen die Farbe des Horizonts in den Schatten."

Mattie wusste nicht, was sie tun sollte, als er ihre Hand küsste. Wieder betonte er, wie schön sie sei, und fast hätte Mattie ihm geglaubt.

"Sie müssen müde sein", sagte er. "Soll ich Ihnen kurz das Haus zeigen, bevor Douglas Sie zu Ihrem Zimmer bringt, oder möchten Sie sich direkt hinlegen? Wenn Sie ausgeschlafen sind, lasse ich uns auf der Terrasse einen Snack servieren, und wir können uns unterhalten. Ich habe Neuigkeiten für Sie."

"Neuigkeiten? Wirklich?"

"Gute Neuigkeiten", versicherte er, "aber das kann warten, bis wir allein sind."

Mattie zweifelte daran, ob sie genug Zeit hätte, um auszuschlafen. Trotzdem wollte sie sich eine Führung durch die Villa nicht entgehen lassen. Sie wirkte groß genug, um sich darin zu verlaufen.

"Zuerst der Rundgang", sagte sie. "Ich würde gern den Rest des Hauses sehen. Es ist wunderschön."

Er führte sie durch Räume, die mit unbezahlbaren Antiquitäten und Kunstwerken ausgestattet waren. Mattie versuchte, die prachtvolle Vielfalt an Farben und Stoffen in sich aufzunehmen. Insgesamt dominierten Blau und Gold, die Farben des Meers, das hinter den Fenstern wogte. Abschließend zeigte Grace Mattie einen Innenhof, der sie an den der Rowe-Akademie erinnerte, nur dass dieser komplett verglast war.

In der Mitte gab es einen kleinen Seerosenteich. Darin saß auf einigen Stufen eine Meerjungfrauenfigur, die eine perlmuttfarben glänzende Muschel in den Händen hielt, aus der ein Wasserfall in den Teich plätscherte. Zarte Farne reichten bis zur Glasdecke, die Licht hereinließ und vor dem Regen schützte.

"Wem gehören die?", fragte Mattie, als sie die Gemälde bemerkte, die auf Staffeleien im Raum standen. Grace war in eine Ecke getreten, in der mehrere Kohlezeichnungen aufgereiht standen. Als Mattie näher trat, erkannte sie, dass jedes Bild die gleiche Person zeigte, eine verlorene junge Frau, deren Gesichtszüge von Schatten verhüllt waren, nur die Augen nicht.

Mattie beschlich ein unheimliches Gefühl, denn ihr wurde klar, dass sie die abgebildete Frau kannte. Es erschien ihr völlig unmöglich, bis Mattie einfiel, dass David Grace eine Liebesbeziehung mit ihr gehabt hatte.

"Es sind meine", sagte er nur.

Mattie ging zu einem der Bilder hinüber, angezogen von dem distanzierten, nach unten gewandten Blick der Frau. "Sie sind wunderschön", sagte sie. "Einfach bezaubernd. Wer hat sie gemalt?"

Sie drehte sich um, sah Grace an und fragte sich, ob sie diese Frage hätte stellen sollen. "Die Bilder sind nicht signiert."

"Wie ich bereits sagte, es sind meine."

"Sie haben sie gezeichnet? Es ist dieselbe Frau, nicht wahr?"

Plötzlich hörte sie Schritte im Flur, die sich ihnen näherten. Douglas kam mit erwartungsvoller Miene um die Ecke. "Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung. Ein Anruf für Sie, Sir. Es ist wichtig."

Mattie blickte Grace immer noch an. Er lächelte sie entschuldigend an und schien zu begreifen, dass sie auf eine Antwort wartete.

"Ich habe immer geglaubt, dass Kunst dem Unaussprechlichen eine Gestalt gibt. Wenn Sie mich entschuldigen würden, ich muss dieses Gespräch annehmen."

Mattie sah ihn davongehen und wurde sich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was sie von David Grace halten sollte. Er wirkte wie um die fünfzig, war offensichtlich kultiviert, attraktiv, intelligent und sanftmütig. Aber genau wie die Frau auf den Bildern verrieten seine Augen ein großes Seelenleid. War dies das Gefühl, das er nicht ausdrücken konnte?

Die vielen Eindrücke erschöpften Mattie. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass Douglas noch immer in der Ecke stand.

"Miss Smith, möchten Sie jetzt auf Ihr Zimmer gehen?"

"Ja, danke, Douglas", sagte sie. "Ich bin wirklich müde."

Als sie die Obstschale entdeckte, lief Mattie das Wasser im Munde zusammen. Ihr Magen knurrte laut. Erdbeeren, helle Weintrauben, Mangos und Pfirsiche quollen aus einem Füllhorn, das auf der vergoldeten und mit Samt bezogenen Bank vor ihrem Bett stand. Auf dem Korbtablett waren außerdem eine Vase mit frischen Blumen, Irischer Cheddarkäse und eine Karaffe mit edlem Rotwein angerichtet worden.

An diesem schönen Nachmittag würde Mattie einfach schlemmen.

Der Raum war luxuriös ausgestattet, ein Schlafzimmer wie für eine Prinzessin. Das Federbett sah aus, als könnte es Mattie an die Decke katapultieren. Die Fensterläden ließen gerade so viel Licht herein, dass es im Zimmer rosa schimmerte. Mattie nahm sich kaum die Zeit, den spitzenbesetzten Bettüberwurf oder die teuren Kissenbezüge zu bewundern. Stattdessen griff sie nach einem Pfirsich und ging damit ins Nebenzimmer. Während sie badete, wollte sie ihn essen.

Auf eine moderne dreiköpfige Dusche mit goldenen Armaturen war Mattie nicht gefasst gewesen. Vorsichtig legte sie den Pfirsich auf die Frisierkommode aus Marmor, während sie sich von dem Wasser überfluten ließ. Rosafarbene Marmorsäulen umgrenzten den Duschbereich.

Eingekuschelt in einen dicken Frottierbademantel, legte Mattie sich später auf eine samtbezogene Liege und aß die saftige Frucht. Das einzig Gute an einem starken Hungergefühl ist, wie wunderbar das Essen dann schmeckt, dachte Mattie. Ihre Geschmacksnerven schienen stärker zu reagieren als sonst. Mattie seufzte. Als Nächstes probierte sie den Rotwein und dazu eine dicke Scheibe Käse. Köstlich. Der Wein hatte einen Hauch von Zimt, und der Cheddar war weich und überraschend scharf.

"Das sollte ich öfter tun", murmelte sie mit halb geschlossenen Lidern, während sie den Kelch in beide Hände nahm und nippte. Vielleicht war es dumm, Wein zu trinken, wenn sie schon so müde war, aber es war himmlisch …

Sie erinnerte sich nicht mehr daran, das Glas abgesetzt zu haben. Sie erinnerte sich nicht einmal daran, den Kopf auf das Kissen gelegt zu haben. Doch beides musste sie getan haben. Denn Sekunden nach dem ersten Schluck hatte Mattie die Hände im Schoß gefaltet und war eingeschlafen.

Mattie fragte sich, was sie auf einer Beerdigungsfeier machte. Sie hörte die Trauermusik, ein so eindringliches Klagelied, das Mattie jeden Schritt noch schwerer machte. Die Gesichter der anderen konnte sie nicht erkennen. Sie trugen schwarze Umhänge mit Kapuzen, alle außer ihr. Die Träger hatten den Sarg am Altar abgesetzt und schoben den Deckel zur Seite. Als die Trauernden daran vorbeigingen, um Abschied zu nehmen, überlegte Mattie, wer wohl in dem Sarg lag und warum die Kirche so dunkel war.

Miss Rowe, fiel ihr ein, vielleicht weil sie auf den Zeichnungen so traurig ausgesehen hatte. Die Musik wurde lauter und nahm einen seltsam disharmonischen Klang an. Plötzlich standen überall Kerzen, als schwebten winzige kleine Lichter durch den Raum.

Mattie hörte, wie jemand flüsternd fragte, wer der Verstorbene sei. Eine andere Stimme antwortete leise: "Es ist der Broud-Junge."

William Broud. Jetzt verstand Mattie. Sie war nicht zu seiner Beerdigung gegangen, und dies war eine Chance zu erklären, dass sie ihm nie etwas Böses gewollt hatte. Um sich zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten.

In der Erwartung, der furchterregenden Miene des Hausmeisters entgegenzutreten, näherte Mattie sich dem Sarg und sah hinein. Doch das Gesicht, das sie erblickte, war schön, dunkel und ruhig.

Nicht William. Jameson. Auf seiner Stirn war noch die Schnittwunde, die sie ihm mit dem Armband versehentlich zugefügt hatte. Irgendwie wusste sie, dass sie die Schuld an diesem Unheil trug. Genauso wie sie für alles Schlimme in ihrem Leben verantwortlich war – dass ihr Vater sie verlassen hatte, die Selbsterniedrigung ihrer Mutter, Ivys Tod, der von Miss Rowe, der der Brouds.

"Nein!" Mattie stieß flüsternd das Wort aus, das ihr Innerstes zerschnitt. Verzweifelt versuchte sie, ihn zu wecken. Als sie sein Gesicht berührte, verwandelte er sich in Jimmy Broud, den schüchternen Lieferjungen, der nur wissen wollte, wer sie war. Jetzt würde er es nie erfahren.

Tränen rannen ihre Wangen hinunter.

Hinter ihr begannen die Trauernden zu stöhnen und zu schluchzen. Es klang wie gequälte Ausrufe. Mattie wandte sich zu ihnen um, da standen alle von den Bänken auf und zogen die Kapuzen vom Kopf. Die ganze Kirche war gefüllt von Schülerinnen der Rowe-Akademie, und in ihren Augen spiegelte sich keine Trauer. Es war Hass.