EPILOG
Tansy Black hatte eine Identitätskrise. Auf dem Schreibtisch vor ihr lag eine Kopie des Testaments ihres Vaters. Um das Dokument einzusehen, hatte Tansy die Kombination des Bürosafes geknackt, denn sie traute den Anwälten ihres Vaters nicht. Sie wollte es selbst sehen. Aber sie war nicht auf das vorbereitet, was sie las.
Er hatte ihr alles hinterlassen. Alles.
Die meisten Dinge im Leben prallten von ihr ab, als wäre sie aus Stein. Und in vielerlei Hinsicht traf das auch zu. Tansy tat, was sie tun musste, und sie quälte sich selten mit Zweifeln oder Unsicherheit. Doch das warf sie aus der Bahn. Was bedeutete das?
Ich vermache meiner einzigen verbleibenden Erbin, Tansy Grace, all meine weltlichen Güter, Besitztümer und Anwesen, einschließlich meines Lebenswerkes, in dem Glauben, dass sie die unermüdliche wissenschaftliche Recherche und Entwicklung der Firma fortführen wird.
Tansy ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf den Stuhl, schlotternd. Sie zitterte, schwebte. Hände und Füße konnte sie nicht mehr spüren. Schwerelos. Er hatte ihr sein Geschäft überlassen – nichts hatte ihm mehr bedeutet als das, außer vielleicht Ivy.
Ivy. Der Gedanke an ihre Schwester löste diesmal keinen brennenden Schmerz in ihr aus.
Ein hysterisches Gelächter brach aus Tansy hervor. Mit den bloßen Fingerknöcheln schlug sie gegen die scharfen Kanten des Walnusstisches und zuckte bei dem Schmerz zusammen. Sie musste die Kontrolle zurückgewinnen.
Nichts davon bedeutete, dass er sie liebte. Es hieß noch nicht einmal, dass sie ihm etwas bedeutet habe. Trotzdem musste er sie geschätzt haben, wenn er ihr sein Imperium hinterließ. Möglicherweise hatte sie sich doch seinen Respekt verdient.
Gott, das war zu viel. Sein Lebenswerk hatte er ihr anvertraut, in dem Glauben, dass sie es weiterführen könne. Ja, zu viel.
Um es noch einmal zu lesen, langte Tansy nach dem Dokument. Sie würde die Worte immer wieder anschauen, bis sie es begreifen, bis sie es verinnerlichen würde. Es gab seitenweise Details. Wenn sie sie langsam und sorgfältig las, würden sie vielleicht einen Sinn ergeben.
Vertieft in die vor ihr liegende Aufgabe, überhörte Tansy ein leises schnappendes Geräusch. Es kam von der Wand oder vom Boden, Holz, das sich dehnte oder zusammenzog. Was Holz eben so machte. Erst langsam wurde Tansy bewusst, dass sich jemand bei ihr im Zimmer befand. Als sie hochsah, erblickte sie einen Mann in einem langen schwarzen Trenchcoat. Eine Halloween-Maske, die das unheimliche Grinsen eines Skeletts zeigte, verdeckte sein Gesicht. Seine Hände steckten in Handschuhen und in der rechten hielt er eine Pistole mit Schalldämpfer. Er hatte die Waffe nicht auf Tansy gerichtet, aber sie wusste, dass er es bald tun würde.
"Ich will nicht sterben", flüsterte sie.
"Das wollten sie auch nicht, Tansy – die Menschen, die du hingerichtet hast. Sie wollten auch nicht sterben."
Sie erkannte die Stimme nicht, doch das wunderte sie nicht. Viele Leute wollten sich möglicherweise an ihr rächen. Die einsamen Mädchen natürlich, außerdem Jameson Cross und der zukünftige Ex-Präsident Larry Mantle – oder jemand, der mit ihm in Verbindung stand. Nola Daniels, sollte sie herausgefunden haben, dass Tansy ihren Mann mit Anrufen terrorisiert hatte. Oder Lane Davison, weil Tansy den Tod ihres Mannes inszeniert hatte und Lane dann mit anonymen Drohungen verfolgt hatte, um sie zum Schweigen zu bringen.
Jeder von ihnen würde sie tot sehen wollen.
Tansy fiel noch jemand anders ein, und augenblicklich schien ihr Blut zu gefrieren. Sogar ihr Vater hätte ihren Tod gewollt.
Bitterkeit stieg in Tansy auf, als sie das Testament betrachtete und feststellte, dass es kein Erbe gab. Ihr Vater hatte seine Firma der Tochter anvertraut, die er zu kennen geglaubt hatte, der brillanten Anwältin Tansy Black. Sie hatte er respektiert. Nicht die Frau, die alles für ihn geopfert hatte. Ein Lügner und Heuchler. Von Furchtlosigkeit hatte er gesprochen und doch keine Ahnung davon gehabt. Er hatte sogar um sein Leben gefleht, etwas, zu dem sich Tansy niemals herablassen würde.
Scheiß auf ihn. Scheiß auf sie alle. Zorn brannte in ihrer Wut, und eine Träne rollte Tansy die Wange hinunter. Angesichts des Todes empfand sie keine Trauer. Nur: Wie konnte Tansy sterben, wenn sie nie gelebt hatte? Sie war nicht sicher, ob es auch nur einen glücklichen Moment in ihrem Leben gegeben hatte, außer ihre Vorfreude angesichts der Möglichkeit, dass ihr Vater stolz auf sie wäre.
"Erschieß mich", flüsterte sie. "Bring es hinter dich."
Der Eindringling starrte Tansy durch die Augenlöcher der Maske an und enthüllte die ewige Kälte im Blick eines Mörders. Es gab darin keine Hoffnung, kein Mitleid, kein Leben. Als erblicke Tansy ihr Spiegelbild. Der Mann schaltete Menschen aus, die im Weg waren, so wie sie es tat. Effizient und ohne schlechtes Gewissen.
"Töte mich." Sie schniefte. "Tu es einfach."
"Nein, tut mir leid", antwortete er. "So leicht wird es nicht. Dreh dich um."
Gehorsam drehte Tansy sich um und fragte sich, ob er ihr Gewalt antun würde. Einen Knoten knüpfen, der sie langsam erwürgen würde? War es Jameson Cross?
"Nimm die Hände auf den Rücken."
Er wollte sichergehen, dass sie nicht kämpfen konnte. Doch die Mühe hätte er sich sparen können. Tansy wusste nicht, wofür es sich gelohnt hätte, zu kämpfen.
Nachdem er ihr die Handgelenke mit etwas gesichert hatte, das sich wie Handschellen anfühlte, befahl er ihr, sich lang ausgestreckt auf den Boden zu legen. Sie fühlte einen Druck auf den Beinen – er drückte sie irgendwie nach unten –, dann spürte sie den brennenden Stich einer Nadel. Der Muskel ihres rechten Oberschenkels krampfte sich bei diesem Angriff zusammen wie eine Faust. Der Killer hatte die Spritze einfach durch die Kleidung gestoßen. Herzwein? Nein, ein starkes Beruhigungsmittel. Tansy spürte bereits, wie ihre Gedanken verschwammen. In ein paar Minuten würde sie weg sein.
Ein humaner Mörder also, der ihr eine lange Qual ersparte. Aber er hatte gesagt, dass es nicht leicht werden würde. Tansy verstand das nicht …
Im Dunkeln wurde sie wieder wach, vom Kreischen eines Feuers und einer Hitze geweckt, die stark genug war, Steine zum Schmelzen zu bringen. Die Luft stank nach Antiseptikum und muffiger Pappe. Tansy lag in einem Leichenkarton. Sie wurde eingeäschert. Wenn der Mörder eine Frau war, hätte Tansy auf Mattie Smith gesetzt.
Tansy hätte die Schlampe verbrennen lassen sollen.
Sie hätte die Identität ihres Mörders gern gekannt. Stolz überlegte sie, dass es ihm nicht gelungen wäre, wenn sie noch hätte leben wollen. Manche hielten es vielleicht für ein passendes Ende. Tansys Opfer waren, ohne es zu merken, unter die Erde gebracht worden, alle außer Frank. Und es war interessant gewesen, ihm dabei zuzusehen, wie er es begriff.
Sein eigener Speichel hatte ihn am meisten entsetzt. Er hatte sich das Kinn nicht abwischen können, mit der Zunge war es ihm auch nicht gelungen. Gelähmt, nur die Augen hatten zu jenem Zeitpunkt noch funktioniert. Sie waren groß geworden und hatten irre geguckt. Tränen waren ihm über das traurige, versteinerte Gesicht gelaufen.
Niemand könnte Tansy Blacks Tod bezeugen, das wusste sie. Aber wenigstens würde sie nicht so ein Chaos hinterlassen wie ihre Schwester.
Sie lächelte. Wenn du in der Hölle schmorst, Vater, rutsch rüber und mach Platz für dein kleines Mädchen.
"Sie tasten mich ab – am ganzen Körper –, und das vor und nach jeder Besuchsstunde", sagte Jane mit gesenkter Stimme.
"Ist das gut oder schlecht?", fragte Mattie.
"Das hängt ganz davon ab, wer die Durchsuchung vornimmt."
Jane grinste zuerst. Matties Lächeln war zögerlicher und breiter.
In einem engen Raum saßen sie sich an einem Tisch gegenüber. Draußen stand ein Wächter und beobachtete sie durch eine verspiegelte Glaswand. Jane hatte Mattie in ihr Verteidigungsteam geholt, was bedeutete, dass Mattie sich nicht an die Besuchszeiten halten musste. Trotzdem wurden sie heute beobachtet, weil jemand anderes erwartet worden war.
Dass Jane gut aussah, überraschte Mattie nicht im Mindesten. Jane hatte Gewicht verloren, aber das etwas hagere Aussehen stand ihr gut. Außerdem hatte sie eine Mission. Die Reform der Gefängnisse. Jane war immer am besten, wenn die Aufgaben unlösbar schienen.
"Dein Team will und kann jederzeit loslegen", erinnerte Mattie sie. "Sag ein Wort, und wir gehen in die Berufung."
"Die Antwort lautet nein." Jane war standhaft.
"Ernsthaft? Du willst das hier noch drei Jahre lang durchziehen?" Fast ein Jahr ihrer Strafe hatte Jane bereits abgesessen, den viermonatigen Prozess eingeschlossen. Ihr Verteidigungsteam hatte vor dem Hintergrund, dass Jane zur Tatzeit erst vierzehn war, auf vier Jahre plädiert. Wäre Jane damals achtzehn gewesen, hätte der Fall nicht länger dem Jugendgericht unterstanden. Doch so war sie mit maximal vier Jahren davongekommen. Der milde gestimmte Richter hatte den Anwälten recht gegeben.
"Na ja, schau dich hier mal um", sagte Jane. "Es gibt hier so viel zu tun, Mattie. Ich habe bereits eine Gruppe für Frauen organisiert, und …"
Die Tür flog auf und Breeze betrat den Raum, begleitet von einer Wächterin. Sobald die Gefängniswärterin verschwunden war, glitt Breeze auf einen Stuhl. Ihre Augen funkelten, als sie den Blick erwartungsvoll zuerst auf Mattie und dann auf Jane richtete. "Sie ist tot. Die böse Hexe ist tot."
"Was?", fragte Mattie. "Wer?"
"Tansy Black."
"Den Nachrichten zufolge hat die Polizei einen anonymen Anruf erhalten. Jemand informierte sie, dass Tansy Blacks Überreste im Krematorium von Tiburon gefunden werden könnten."
Mattie konnte sich kaum rühren. Das war der Ort, an dem Tansy sie angegriffen hatte. "Wer hat das getan?"
"Das könnte eine ganze Heerschar von Menschen gewesen sein, wenn man den blutigen Pfad betrachtet, den sie eingeschlagen hat." Breeze zuckte die Schultern.
Einen Augenblick dachte Mattie nach. "Stimmt, aber warum hätte jemand der Polizei einen Tipp geben sollen?"
"Um ein Exempel zu statuieren?", schlug Breeze vor.
"Ich weiß nicht." Matties frisch manikürte Fingernägel trommelten auf dem Tisch. "Das klingt, als würde es sich um ein organisiertes Verbrechen handeln, vielleicht die Mafia oder … die Regierung?"
Beide sahen Jane an, deren Augen wütend funkelten. "Das könnt ihr nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Ich? Aus dem Gefängnis heraus? Während ich versuche, alles wiedergutzumachen? Ich bin ein Vorzeigekind mit Bonusfreizeit wegen guter Führung."
Mattie nickte und dachte weiter über die Möglichkeiten nach. "Es hätte auch eine aufmerksame Geheimdienstgruppe sein können", sagte sie mit einem Seitenblick auf Breeze.
"Wie kommst du nur darauf?" Breeze bemühte sich, beleidigt zu klingen. Vergeblich, denn es lag ein Grinsen in ihrer Stimme. Überhaupt schien sie zu strahlen.
"Ist etwas dran an dem Gerücht, dass du dich mit John Bratton triffst?", fragte Mattie sie.
Dass Breeze nur lächelte, genügte.
Mattie hatte ihre Antwort bekommen. Vielleicht auf beide Fragen. So wie sie John Bratton einschätzte, war er durchaus der Typ für Aufräumarbeiten. Und er war heiß auf Breeze. Mattie hätte es nicht überrascht, wenn die beiden miteinander ins Geschäft gekommen wären. Sie hätte sich Sorgen um die moderne Zivilisation gemacht, aber sie wäre nicht überrascht gewesen. Mattie beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen. Die Welt war ohne Tansy Black ein besserer Ort. Das zu wissen, war ihr genug.
Sie sah sich im Raum um und dachte an das letzte Mal, als sie drei zusammen gewesen waren. "Das hier ist nicht gerade das 'Vier Jahreszeiten', oder?"
"Wenn es das wäre", sagte Jane, "würden wir jetzt Champagner schlürfen."
"Wegen Tansy?", fragte Breeze.
"Nein, wegen Ivy. Morgen ist ihr Todestag."
Ein Blick auf die Uhr bestätigte Mattie, dass Jane recht hatte. Vor dreiundzwanzig Jahren und aus Gründen, die sie heute noch nicht kannten, war Ivy gestorben. Mattie spürte, wie das bittersüße Gefühl von damals sie übermannte. Sie hoffte, dass ihre Freundin jetzt in Frieden ruhte, da nun so viele offene Fragen beantwortet worden waren. Ivys Tod würde allerdings ein Rätsel bleiben.
Mattie hob ein imaginäres Glas, und die anderen zwei folgten ihrem Beispiel.
"Alis volat propriis", sagte sie. "Auf Ivy."
"Eine Heiße-Girls-in-Action-Videosammlung?"
Jaydee jauchzte, als Mattie ihm das Abschiedsgeschenk überreichte. "Ich hatte so etwas Langweiliges wie eine Brieftasche erwartet."
"Von den langweiligen Dingen findest du etwas in dem anderen Paket", sagte Mattie. Trocken fügte sie hinzu: "Die Videos wirst du dringender brauchen. Zum Spannungsabbau."
Jaydee hatte seine Zulassung bekommen und würde bald als Anwalt gegen das organisierte Verbrechen im Büro des Staatsanwalts von Washington, D. C., arbeiten. Ein Job, für den er wie gemacht schien, das wusste Mattie – auch wenn sie sich gewünscht hätte, dass Jaydee sich für etwas weniger Aufregendes entschieden hätte.
Lächelnd stellte Jaydee die Videosammlung auf Matties Schreibtisch ab und bedankte sich mit einer ungestümen Umarmung. "Ich hätte dir auch ein Geschenk besorgen sollen", sagte er, als er sie losließ.
Sie tat empört. "Warum? Ich gehe doch nirgendwo hin."
"Ich weiß, armes Mädchen. Du steckst hier fest, am Neunten Gericht."
Vor einigen Monaten hatte Mattie noch darüber nachgedacht zu gehen, lange bevor Jaydee sich dazu entschlossen hatte. Mattie hätte reisen oder in die Lehre wechseln können. Schließlich hatte sie jedoch erkannt, dass sie es nicht konnte. Nicht mit gutem Gewissen. In dieser Hinsicht war sie wie Jane. Auf dem Richterstuhl zu sitzen, empfand Mattie als Privileg, aber es bedeutete auch, Verantwortung zu tragen. Und es gab noch so viel zu tun.
"Melde dich", sagte sie und warf Jaydee einen strengen Blick zu.
"Versuch erst mal, mich loszuwerden. Du bist die Erste auf meiner Kurzwahlliste."
Ein plötzliches Summen warnte Mattie. Noch bevor sie auf den Schalter am Schreibtisch drücken konnte, öffneten sich die Türen zu ihrem Büro. Als Mattie den Kopf hob, sah sie Jameson Cross über die Türschwelle treten. Offenbar war er an den Sicherheitskräften vorbeigekommen. Schon wieder. Und an Matties Empfangsdame. Michelle hatte keine Chance gehabt, ihn anzukündigen.
"Entschuldigung", sagte Jameson. "Deine Sekretärin war am Telefon, also bin ich einfach reingekommen."
Nun, immerhin ein Fortschritt, dachte Mattie. Bisher hatte Jameson keine Erklärungen für sein Eindringen abgegeben. Auf den ersten Blick wirkte er etwas erschöpft, müde um die Augen. Seit Tansys Verhandlung hatte Mattie ihn nicht mehr gesehen, und seitdem waren Monate vergangen. Oft hatte Mattie sich in der Zeit gefragt, warum sie ihn nicht einfach anrief. Irgendwie wäre ihr das wie ein Annäherungsversuch vorgekommen. Und ihr fehlte der Mut dazu, sogar wenn Jameson interessiert gewesen wäre. Es war einfach zu turbulent zugegangen.
"Wie geht es dir?", fragte er Mattie.
"Ich bin überrascht … dich zu sehen."
Er bewegte sich auf den Stuhl zu, der vor Matties Schreibtisch stand. Als das Tageslicht aus dem Fenster auf Jameson fiel, erkannte sie, dass er gut aussah. Einige Falten mehr vielleicht, aber er war in seinem schwarzen Trenchcoat so attraktiv wie immer. Plötzlich begriff Mattie, warum Michelle Jameson nicht hatte aufhalten können: Er war einschüchternd. Er gehörte zu den Menschen, die genug Energie und Entschlossenheit ausstrahlten, um ihre Absichten ohne Worte klarzumachen. In ihrem eigenen Gerichtssaal hatte Mattie das auf die harte Tour erfahren müssen.
Taktvoll packte Jaydee seine Videos zusammen und hob sie samt dem ungeöffneten Geschenk auf die Arme.
"Ich wollte gerade gehen", sagte er. "Schön, Sie zu sehen, Mr. Cross. Mattie, mein Flug nach D. C. geht morgen früh um sieben. Kann ich bei dir mitfahren?"
"Das könntest du, wenn ich zum Flughafen fahren würde. Verschwinde hier, Jaydee. Viel Glück weiterhin."
Scherzhaft runzelte Jaydee die Stirn und schlich aus der Tür. Mattie hoffte, dass sie sehr bald von ihm hören würde.
Aus irgendeinem Grund, der nur mit ihrer Nervosität zu tun haben konnte, trat Mattie hinter ihren Schreibtisch und suchte hinter seiner glänzenden Breite Schutz. In ihrem Büro fühlte sie sich wie in einer Burg, außer wenn Jameson Cross sich darin aufhielt. Jetzt war der Schreibtisch ihre letzte Festung.
"Was führt dich her?", fragte sie ihn.
"Ich dachte, dich interessiert das hier vielleicht." Jameson legte etwas auf den Tisch, das wie ein gebundenes Manuskript aussah. "Es sind die Druckfahnen meines Buches über Billy."
Mattie betrachtete es, wagte jedoch nicht, es zu berühren. In Gedanken wog sie ab, welchen Schaden das Buch anrichten könnte, wenn überhaupt. "Komme ich drin vor?"
"Du bist eine der wichtigsten Figuren."
Mit unruhigem Blick sah sie ihn an. "Ich habe immer noch meinen Notrufknopf", warnte Mattie. Ob Jameson sich noch daran erinnerte, was sie das erste Mal gesagt hatte, als er sie hier überrascht hatte und sie den roten Knopf gedrückt hatte?
Goodbye, Mr. Cross.
"Kein Grund zur Panik – diesmal", sagte er und deutete ein Lächeln an. "Es wird nicht veröffentlicht."
"Warum? Hat es dem Verlag nicht gefallen?"
"Der Verlag fand es toll. Sie halten es für den nächsten Bestseller, schon wegen der Hauptfiguren. Aber das musste ich die ganze Zeit über tun: an die Hauptfiguren denken. So möchte ich Billys Andenken nicht ehren. Meine Kämpfe mit Billy waren privater Natur, und das sollten sie auch bleiben."
Ein kurzer Augenblick verging, bevor Jameson weitersprach. "Meine Kämpfe mit dir waren ebenfalls privater Natur", sagte er. "Und ich wollte uns nicht der gierigen Meute vorwerfen."
Mattie wusste nicht, was sie sagen sollte. Doch sie spürte dieselbe Erleichterung wie in jener Nacht, in der er ihr gesagt hatte, dass er seinen Artikel nicht schreiben würde. Sie hatte Jameson gedrängt, zuzugeben, dass er es ihr zuliebe nicht tun wollte. Das hatte ihr gefallen, sehr sogar.
Dass ihr Finger immer noch auf dem Notrufknopf lag, hatte Mattie beinah vergessen. Jeden Augenblick könnte sie Jameson hinauswerfen lassen. Einen der vielen Schutzmechanismen in ihrem Leben aktivieren. Vielleicht sollte sie darauf verzichten. Vielleicht sollte sie ihn hereinlassen.
Mattie legte beide Hände auf den Tisch.
"Hallo, Mr. Cross", sagte sie und begegnete dem Lächeln in seinen rätselhaft lavendelgrauen Augen.
– ENDE –