8. KAPITEL

Mattie fluchte leise, als sie versuchte, ihre Teetasse in die Aktentasche zu quetschen. Die Tasche war stark ausgebeult, symptomatisch für die unwillkommenen Veränderungen. Matties wohlgeordnetes Leben war plötzlich aus den Fugen geraten, und das Schlimmste war, dass das Chaos wie aus dem Nichts entstanden war. Die Verhandlung des Entführungsfalls war furchtbar schiefgegangen, und jetzt drohte irgendein übereifriger Krimiautor Pandora zu spielen und eine Büchse zu öffnen, die randvoll mit Dynamit war.

Mattie funkelte die Tasse böse an. "Ich lasse dich hier. Willst du wirklich an einem Ort bleiben, wo das Wasser aus dem Automaten nicht heiß genug ist, um eine anständige Tasse Tee aufzubrühen?"

Eine Tasse zu bedrohen. Krankhaft. Und noch schlimmer, ihr Handy hatte nicht geklingelt. Fast zwei Stunden waren verstrichen, nachdem sie bei Breeze Wheeler und Jane Mantle angerufen hatte. Wenn man die Unterschiede der Zeitzonen in Betracht zog, konnte Mattie es jetzt noch einmal versuchen. Sie musste warten, und in diesem Fall war Geduld keine Tugend. Es war eine verdammte Höllenqual.

Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Fingernägel, bemerkte einen winzigen Nietnagel am Mittelfinger und knabberte selbstvergessen daran. Das entsprach nicht gerade Miss Rowes Standards.

Meine Mädchen meiden das unhöfliche Benehmen, das so viele junge Damen heute an den Tag legen.

Mattie betrachtete wieder die Tasse. Noch würde sie nicht aufgegeben. Ihr Blick fiel auf ihre Handtasche, die an der Garderobe hing. Perfekt. Da passte die Tasse hinein. Nach diesem Entschluss inspizierte sie die Kartons mit den Akten und die gestapelten Recherchematerialien und nahm schließlich den letzten Gegenstand vom Schreibtisch. Die zerknitterte Ausgabe des San Francisco Chronicle.

Sie stopfte sie ihn die Tasche und schloss sie. Fertig. Den Rest würde Jaydee zusammenpacken und transportieren oder wer auch immer, den er dazu überreden konnte. Als Mattie ihre Handtasche vom Haken nahm und ihre Tasse darin verstaute, fühlte sie die Spannung von sich abfallen. Vielleicht würde sich alles beruhigen, wenn sie erst wieder am Neunten Gericht arbeitete.

Möglicherweise hatte sie wegen des Artikels überreagiert. Die Leute wollten die ganze Zeit irgendwelche Mordfälle neu aufrollen, aber nur bei sehr wenigen hatten sie Erfolg.

Die Gesetzeshüter hatten alle Hände voll zu tun, auch ohne zwanzig Jahre alte Mordfälle wieder hervorzuholen, und die Stadtväter von Tiburon hatten bestimmt kein Interesse daran, dass dieser Fall neu verhandelt würde. Der Mord im Internat hatte sich als wahre Jauchegrube entpuppt. Er hatte alle beschmutzt, die damit in Berührung gekommen waren, von den Schülerinnen über die Fakultät bis hin zur Stadt selbst.

Vielleicht hatte sie tatsächlich überreagiert. Womöglich würde sich alles in Luft auflösen. Und in der Zwischenzeit musste sie sich um Ronald Langstons Berufung kümmern.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie herumfahren. Wer konnte das sein? Jaydee, der sich ein weiteres Mal entschuldigen wollte? "Na, es hat doch nicht wehgetan, oder?", rief sie lächelnd. "Komm rein."

Die Tür öffnete sich, aber der Mann, der eintrat, war nicht Jaydee.

Matties Lächeln verschwand. Ihre Mitarbeiter waren zwar gegangen. Doch sie hatte keine Ahnung, wie er an den Sicherheitskräften vorbeigekommen war. Bundesrichter wurden gut beschützt. Sie konnte den Mann nicht einordnen, aber sein mageres Gesicht und die dunklen Haare kamen ihr vertraut vor. Seine Augen waren eigenartig, so hellgrau, dass sie etwas Stechendes hatten. Sein Regenmantel wogte hin und her wie die Roben eines Richters und beschwor das Bild eines großen Inquisitors herauf.

"Es hat überhaupt nicht wehgetan", sagte er und erwiderte ihren Blick.

Sie hielt ihre Tasche fest und überlegte, dass die Tasse ein gutes Wurfgeschoss abgeben würde. Es gab auch einen Notrufknopf an der Unterseite ihres Schreibtisches, vorausgesetzt, sie gelangte vor dem Fremden dorthin.

"Wie sind Sie hier hereingekommen?", fragte sie ihn.

Er hielt ihr seine Visitenkarte hin, die sie aus der Entfernung nicht lesen konnte.

"Meine Referenzen öffnen mir normalerweise problemlos die Türen", erklärte er.

"Ich meinte meine Kammer."

"Ach so ja, offensichtlich dachten alle im Gebäude, Sie wären schon gegangen. Ihre Mitarbeiter sind verschwunden, und sogar der Gerichtsdiener hat sich abgemeldet. Übrigens – sind Sie Richterin Matilda Smith?"

Die Karte hielt er immer noch in der Hand, aber Mattie wollte nicht zu ihm gehen. Vorsichtshalber. Sie hatte reichlich Erfahrung mit Vergewaltigern und Mördern, aber er strahlte nichts Bedrohliches aus. Er hatte auch keinerlei Ähnlichkeit mit einem geflohenen Häftling, der sich rächen wollte. Er war sogar attraktiv, aber genauso unheimlich wie beunruhigend. Kannte sie ihn von irgendwoher?

"Richterin Smith?", wiederholte er.

Seine Stimme klang anders, als sie erwartet hatte, tief und auf seltsame Art melodiös. Schon setzte sie zu einer Antwort an, aber so leicht wollte sie sich nicht einwickeln lassen und sagte nichts. Er wirkte jünger, als sie zunächst angenommen hatte. Vielleicht vierzig, schätzte Mattie und spürte, dass sie es mit jemand extrem Intelligentem zu tun hatte. Alles an ihm strahlte Wachsamkeit aus.

Er entdeckte ihren Namen, der auf der Messingplatte ihrer Aktentasche eingraviert war.

"Euer Ehren", sagte er mit einem Hauch zu viel an Ehrerbietung. "Ich habe ihre Beurteilung über die Berufung im Fall Sunshine Toys gelesen. Sie war brillant. Ich schreibe für das Chronicle Magazine, und ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen."

Er steckte seine Visitenkarte ein. Offensichtlich hatte er es aufgegeben, sie ihr zu überreichen. Das besagte Magazin war eine Beilage in der Sonntagsausgabe der Zeitung. Darin ging es fast ausschließlich um die Menschen der Bay Area. Ein Zufall, dass er nach dem Artikel heute Morgen hier war? Mattie hätte es gern geglaubt.

"Über Sunshine?", sagte sie. "Der Fall ist doch schon seit Monaten erledigt."

"Über Sie, Matilda Smith, die Frau."

Mattie hatte zu tief und zu plötzlich eingeatmet. Sie verschluckte sich fast. "Tut mir leid, Ihr Timing ist leider sehr schlecht. Wie Sie sehen, bin ich zwar noch nicht ganz verschwunden, aber fast."

"Ich hätte um einen Termin gebeten, aber ich hatte so eine Ahnung, dass Sie ablehnen würden."

"Sie sollten auf Ihre Vorahnungen hören."

"Das tue ich auch. Als ich heute Morgen aufwachte, fühlte ich, dass ich heute Glück haben würde. Und hier bin ich."

"Hören Sie, ich muss heute noch viel zu Ende bringen."

Er warf einen Blick auf die Kartons. "Wo sollen die denn hin? Ich habe einen Van. Ich kann Sie überall hinbringen."

"Vielen Dank, aber ich bin noch nicht fertig mit dem Packen."

"Sie sind wirklich eine harte Nuss. Okay, ich helfe Ihnen dabei."

Er streckte erwartungsvoll eine Hand aus, die sie ignorierte. Ein neunmalkluger Reporter. Genau das, was ihr heute noch gefehlt hatte. Seine Schlagfertigkeit betrachtete er wahrscheinlich als großen Vorteil. Mattie war kurz davor, ihm von dem Notrufknopf zu erzählen, als sie etwas bemerkte. Nicht seine Augenfarbe war stechend. Es war sein Blick. Seine Iris lag irgendwo zwischen Lavendel und Grau, eine der schönsten, ungewöhnlichsten Farben, die Mattie jemals gesehen hatte.

"Was könnten Sie denn über mich wissen wollen?" Das fragte sie aus vollem Herzen. "Ich lebe ein sehr durchschnittliches Leben. Richter sind nun einmal keine Stars."

"Die meisten nicht."

Sie legte ihre Tasche auf den Tisch. "Soll das heißen, ich schon? Ich habe einige kontroverse Artikel verfasst, aber das haben viele Richter des Neunten Gerichts. Und da reiche ich Reinhardt und Kozinski nicht das Wasser."

"Sie haben offenbar nichts von dem Wettbewerb gehört."

"Wettbewerb?"

"Ja, im Internet. Sie sind die Hauptattraktion."

Bloß keine Details, dachte Mattie.

Natürlich erzählte er es ihr trotzdem. "Heute Morgen waren Sie die haushohe Favoritin beim Kampf um den Titel 'Schärfster Feger des Bundesgerichts'. Dabei haben Sie eine starke Konkurrenz. Sie treten gegen einundzwanzig Bundesrichter – Männer und Frauen – an, von denen behauptet wird, dass sie den 'Schönsten Stars' entsprechen, die das People Magazine immer auflistet."

Mattie legte die Fingerspitzen aufeinander und riss sich zusammen, so wie jede besonnene Person es unter diesen Umständen tun würde. Sie könnte ihn rauswerfen lassen, aber er war ein Journalist. Nicht, dass sie das besonders interessieren würde. Es war etwas anderes, das ihr sagte, sie solle ruhig sein und zuhören – ein kribbelndes Gefühl im Nacken, das zu beachten sie gelernt hatte.

"Ich gebe nur wieder, was ich gelesen habe", sagte er, ohne einen Gedanken an das sprichwörtliche Schicksal des Überbringers schlechter Nachrichten zu verschwenden. "Auf der Website gibt es außerdem einen großen Klatsch & Tratsch-Bereich. Die Namen werden ausgeblendet. Trotzdem erkennt man sehr leicht, wer gemeint ist, wenn es um die Süße des Neunten Gerichts geht, die bei ihren männlichen Kollegen gleichermaßen für philosophische Ergüsse wie Herzrasen sorgt."

"Männliche Kollegen?" Mattie lächelte kühl. Miss Rowe wäre begeistert gewesen.

"Ja, gibt es dazu vielleicht mehr zu erzählen?"

"Offensichtlich nicht, sonst hätten Sie es dort ja lesen können." Sie beendete das Thema mit einem schroffen Tonfall, um ihn in seine Schranken zu verweisen. "Irgendwer hat da offensichtlich zu viel Freizeit. Wenn ich in dieser Woche die Attraktion bin, ist es nächste Woche Richterin O'Connor."

Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er versuchte, den Faden wiederzufinden und dass er außerdem gern einen unauffälligen Blick auf ihren kakifarbenen Rock und ihre weiße Bluse werfen würde.

Mattie war froh, dass sie ihre klassischen Pumps trug. Nur Ballerinas wären besser gewesen. Sie hätte gern gegrinst. So gern gegrinst!

"Ich bin nur das Thema der Woche", sagte sie, als sei die Angelegenheit damit beendet.

Aufmerksam sah er sie an. Gemächlich ging er zum einzigen Gästesessel des Raumes, setzte sich und beobachtete sie noch genauer.

Mach weiter, frag schon, dachte sie. Sie würde vorgeben, nicht darüber reden zu wollen, und er wäre nicht mehr in der Lage, an etwas anderes zu denken.

Da wollte sie ihn haben.

Sie hatte alles unter Kontrolle und hätte sich in dieser Situation normalerweise wunderbar gefühlt. Beim Blick in seine Augen stellten sich ihr die Nackenhaare auf – als würde seine Anwesenheit den Raum elektrisch aufladen.

"Ich könnte Ihnen zustimmen, was das Thema der Woche angeht", sagte er schließlich, "wenn Ihr Name nicht regelmäßig auch in der seriösen Presse auftauchen würde. Wegen Sunshine Toys zum Beispiel."

Er sprach über einen Prozess im Neunten Gericht, in dem ein Verstoß gegen das Urheberrecht verhandelt worden war. Ein Künstler hatte die beliebteste Puppe des Spielzeuggiganten Sunshine Toys benutzt, um in einer Ausstellung darauf hinzuweisen, dass der Gewalt gegen Frauen immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt werde. Die Installation des Künstlers deutete Fesselspiele und erzwungene sexuelle Praktiken an. Weil sie die Arbeit für anzüglich hielten, hatten die Verantwortlichen der Firma geklagt, das positive und gesunde Image der Puppe sei beschmutzt worden.

Das Gremium der drei Richter, dem Mattie angehörte, sah keine Grundlage für einen Verstoß gegen das Urheberrecht. In ihrem Gutachten hatte sie damit argumentiert, dass derartige Darstellungen eine verfassungsmäßig geschützte Form der freien Meinungsäußerung seien. In ihrem Fazit hatte Mattie der Spielzeugfirma noch einen Denkzettel verpasst, indem sie unterstellte, dass die Puppen die natürlichen Konturen eines Frauenkörpers verzerrten – in einer gar nicht positiven und gesunden Weise verzerrten. So hätte man jungen, leicht zu beeinflussenden Mädchen mehr Schaden zugefügt, als die Arbeit des Künstlers jemals hätte anrichten können.

"Es hat Spaß gemacht, das Gutachten zu schreiben", gab Mattie zu.

"Natürlich", sagte er, "das Thema hat Ihnen offenbar gefallen."

Mattie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, er auch nicht.

"Warum sollte das etwas damit zu tun haben?", fragte sie.

"Keine Ahnung."

Sie wies ihn nicht darauf hin, dass sie weitaus kontroversere Urteile verfasst hatte. Aber es war ein gutes Beispiel für ihre Arbeit, und Matties Gutachten hatte ein großes Medienecho hervorgerufen. Es bestätigte die Vermutung, dass Matilda Smith nicht so sehr auf juristische Spitzfindigkeiten erpicht war – oder sogar auf die Rechtsprechung an sich –, sondern auf die Wahrheitsfindung, egal wie schwer definierbar und widersprüchlich dies im Einzelfall sein konnte.

Mattie war stolz auf ihre Arbeit. Sie glaubte, dass das Recht oft dem Höchstbietenden zufiel. Manche Staatsanwälte waren meisterhafte Zauberkünstler, aber Mattie glaubte auch, dass die Wahrheit niemanden bevorzugte. Es musste nur jemanden geben, der penibel nach ihr suchte. Und dieser Jemand versuchte Mattie zu sein.

"Was machen Sie da?", fragte sie.

Er war aufgestanden und hatte einen Stapel mit Papierkram bemerkt, unter dem sich auch eine zerfledderte Handlese-Karte befand. Sie stellte die menschliche Handinnenfläche dar, ihre zahlreichen Linien und ihre Bedeutungen. Die Karte hatte mal ihrer Mutter gehört. Mattie war überrascht gewesen, als sie sie zusammengefaltet in einem Seitenfach ihrer Aktentasche gefunden hatte. Wie die Anleitung dort hingelangt war oder warum sie sie mit sich herumtrug, wusste Mattie nicht. Bestimmt nicht aus sentimentalen Gründen.

"Handlesen?"

Lesen nicht alle heißen lesbischen Richterinnen aus der Hand? "Eine meiner vielen sinnlosen Fähigkeiten", sagte sie.

"Die meisten Richter haben Gerichtsakten auf ihrem Tisch liegen."

"Ich dachte, wir wären uns beide einig, dass ich nicht wie die meisten Richter bin."

"Richtig." Seine Stimme klang plötzlich bedeutungsschwer, und er bewegte sich langsam auf Mattie zu. "Können wir reden, Euer Ehren? Ist das möglich? Ich glaube nämlich, dass Sie etwas zu sagen haben, was die Menschen interessieren würde."

"Ja." Mattie sagte das eigentlich nur, um ihn sich vom Leib zu halten. Ganz offensichtlich war es ihm gelungen, ihren Widerstand zu brechen. Oder die Neugier trieb sie an. "Was möchten Sie wissen?"

"Alles, was Sie mir erzählen möchten. Lassen Sie uns mit Ihrer Vergangenheit – der nahen oder der länger zurückliegenden – anfangen, beides würde mich interessieren."

"Die nähere. Alles, was länger als zehn Jahre her ist, entzieht sich meiner Erinnerung."

"Wie Sie möchten." Er warf einen Blick auf den Sessel, den er gerade verlassen hatte, so als ob er diesmal auf eine Einladung wartete. Seine guten Manieren erstaunten Mattie. Sie nickte ihm zu und bemerkte, wie er gleichzeitig den Blick über ihren Körper schweifen ließ.

"Stimmen die Gerüchte, dass sie eine schusssichere Weste tragen?"

Sie zeigte mit der Hand auf ihre Kleidung. "Sieht das für Sie wie eine kugelsichere Weste aus?"

"Für mich sieht das gut aus."

Fast errötete sie. Jaydee hätte das sicher amüsiert, zum Glück war er schon gegangen.

Sie wechselte das Thema. "Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas zu trinken anbieten, aber wie Sie sehen, befinde ich mich im Aufbruch und …"

"Ich brauche nichts, danke." Er rutschte tiefer in den Sessel, der bei seiner ungewöhnlichen Größe nicht ausreichend Platz bot. "Erzählen Sie mir, wie Sie eine der jüngsten Bundesberufungsrichterinnen wurden. Das ist eine große Ehre."

"Nun, ich wurde berufen und dann ernannt. Ich bin mir sicher, dass es ihnen allen jetzt sehr leid tut."

"Sie sind zu bescheiden", sagte er mit einem trockenen Tonfall. "Ihre Erfolge sind beeindruckend. Sie haben sich sowohl als Verteidigerin als auch als Staatsanwältin profiliert. Wer erinnert sich nicht an diese stillende Mutter mit den großen Augen, die Sie gegen die Klage des Transportunternehmens wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verteidigt haben; oder an den Drogenkönig, den sie eingebuchtet haben. Das Volk gegen Victor Trabuco, nicht wahr? Das war ein starkes Schlussplädoyer."

Sie dankte ihm, während ihr durch den Kopf ging, dass nicht ihr, sondern Jaydee die Anerkennung gebührte. Ohne ihn hätte sie weder den Fall noch das Schlussplädoyer gehabt.

Ein kaltes Prickeln fuhr ihr durch den Magen. Es war genauso eine Warnung wie das Kribbeln in ihrem Nacken, und sie warf einen Blick auf die Uhr. "Sind wir fertig? Ich erwarte einen Anruf."

Statt sich zu erheben, sah er sie nur hellwach und durchdringend an.

"Eine letzte Frage?", bat er. "Wie stark ist Ihre Erinnerung an den Mord im Internat? Sie waren doch an der Rowe-Akademie, als es passierte? Meine Recherchen haben ergeben, dass Sie dort vor zweiundzwanzig Jahren Ihren Abschluss gemacht haben, ein Jahr nach dem Mord."

Matties Lachen war kurz und kalt. "Vor zweiundzwanzig Jahren? Sie wissen wirklich, wie man Komplimente macht!"

Diese Information stand in keiner veröffentlichten Biografie, aber es überraschte Mattie nicht, dass er es herausgefunden hatte. Wenn sie das Spiel nicht mitspielte, würde er vielleicht misstrauisch. Andererseits hatte sie nichts verraten. Sie wusste genau, was sie tun musste – ihn so schnell wie möglich hinausbefördern.

Sie ging hinüber zum nächsten Fenster. Die Jalousien waren so eingestellt, wie sie es mochte. Dunstige Streifen von Tageslicht fielen herein. Mattie fragte sich, ob sie die Kraft hatte, die Jalousien zu schließen. Würde er ihre Panik aufsteigen sehen wie den Staub? Ihre Angst davor, in geschlossenen Räumen zu sein? Sie hatte die Vorstellung, zu sehen ohne gesehen zu werden, immer gemocht. Aber sie konnte sich nicht in einem Raum aufhalten, in dem alles geschlossen war, die Türen, die Rollos, alles. Dann fühlte sie sich gefangen.

Sie drehte ihm das Gesicht zu. "Ich fürchte, diese Erinnerung ist sehr dunkel, tut mir leid. Es ist sehr lange her."

"Das dachte ich mir." Er erhob sich von seinem Sessel. "Sagen Sie, was sollte denn nicht wehtun?"

"Wie bitte?"

"Als ich an Ihre Tür klopfte, sagten Sie: 'Das hat doch nicht wehgetan, oder?'"

"Ach, mein Mitarbeiter hat eine Abneigung gegen Anklopfen. Ich dachte, er sei es."

"Vielleicht überrascht er Sie gern. Das ist kein unangenehmer Gedanke."

"Mr. … ich kenne Ihren Namen nicht", stellte Mattie laut fest. "Flirten Sie mit mir?"

"Ich heiße Cross", sagte er. "Jameson Cross."

Mist. Der Fluch blieb ihr im Halse stecken. Glücklicherweise. Sie unterhielt sich mit dem Schriftsteller, der den Mord am Internat wieder aufrollen lassen wollte. Er hatte offensichtlich die ganze Zeit in ihrem Büro auf der Lauer gelegen und darauf gewartet, sie ihn einem unachtsamen Moment zu erwischen. Ohne weiter darüber nachzudenken, ging Mattie zum Schreibtisch, griff unter die Tischplatte und drückte den Notrufknopf.

"Auf Wiedersehen, Mr. Cross", murmelte sie.