13. KAPITEL
Sausalito, Kalifornien
Sommer 2005
Mattie zögerte, als Jane Mantle sich umdrehte und sie in dem Durchgang stehen sah. Zwar hatte Mattie eine Reaktion erwartet, aber nicht diese. Entsetzen verzerrte Janes perfekt geschminkte Züge in eine Schreckensmaske.
"Was ist passiert?", flüsterte sie, auf Matties Aufzug starrend. "Geht es dir gut?"
Mattie schaute an sich hinunter und stellte fest, dass ihre Kleidung durcheinandergeraten war. Ihre Kakihosen waren verdreht, und das Poloshirt hatte einen Riss bekommen, vermutlich während sie gegen die Tür gefallen war.
"Was machst du hier?", fragte sie Jane. Warum der Geheimdienst ihre Wohnung durchsucht hatte, war Mattie jetzt klar. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jane persönlich vorbeikam, wenn es sich nicht um eine Frage nationaler Sicherheit handelte. Dass dies nur ein Höflichkeitsbesuch war, glaubte Mattie nicht.
Unsicher trat Jane einen halben Schritt nach vorn. "Du hast eine dringende Nachricht hinterlassen. Ich dachte, ein Besuch wäre sicherer als ein Telefongespräch."
"Hat der Secret Service deshalb mein Haus auf den Kopf gestellt?"
Jane atmete frustriert aus. "Das tut mir leid. Sie lassen mich nirgendwo hingehen, ohne vorher die Lage zu sondieren."
Ihre Hand zitterte, als Mattie sich den Rücken stützte. "Sie sind sehr gründlich."
"Mattie, stimmt etwas nicht? Hast du dich verletzt?"
Matt blickte Mattie an sich hinunter und machte einen halbherzigen Versuch, ihre Kleidung in Ordnung zu bringen. Ihr Haar sah vermutlich auch schrecklich aus. Kein Wunder, dass Jane sich erschrocken hatte. Mattie ging einen Schritt und zuckte zusammen, als sie das Knie belastete. Großartig, sie hatte es sich irgendwie gezerrt.
"Du humpelst? Humpelst du?"
"Ich bin gestolpert." Mattie zuckte die Achseln, um es abzutun. "Du kennst mich. Ich kriege keine Preise in Sachen Koordination."
Jane schürzte die Lippen, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie mit der Antwort nicht zufrieden war. Über zwanzig Jahre schwanden mit diesem einen Blick, und Mattie fühlte sich augenblicklich in ihre Jugend zurückversetzt, als Jane mit ihrem streng mütterlichen Tonfall sagte: "Komm hierher, Mattie. Das will ich mir ansehen."
"Es geht mir gut." Widerwillig humpelte sie zu Jane hinüber. In der Schule hatten die vier Stipendiatinnen sie Lady Jane genannt. Und das nicht nur wegen ihrer Ausstrahlung. Sie hatte sich immer wie eine Glucke benommen, und es hatte keinen Sinn, zu versuchen, sich ihr jetzt zu widersetzen. Als Jane einen aufstrebenden Politiker geheiratet und ihn in einen Präsidentschaftskandidaten verwandelt hatte, war Mattie nicht überrascht gewesen. Denn Jane verfügte über Ehrgeiz, Antrieb und eine unerschütterliche Arbeitsmoral. Mattie hatte sich nur gewundert, dass Jane nicht selbst zur Wahl angetreten war.
Obwohl sie es versuchte, konnte Mattie das Humpeln nicht völlig unterdrücken.
Jane schnalzte mit der Zunge. "War das der Secret Service? Ist es dieses Arschloch Bratton gewesen?"
"Deine Jungs haben mir einen höllischen Schrecken eingejagt, und ich bin hingefallen, aber das war alles."
"Nun, das tut mir leid. Mr. Bratton kann etwas extrem sein. Offensichtlich hält man mich für schwierig zu beschützen, kannst du dir das vorstellen?", fragte sie trocken. "Also hat man mir Godzilla als Beschützer zur Seite gestellt. Er und ich machen uns gegenseitig das Leben schwer, aber alles natürlich unter dem Deckmäntelchen der Höflichkeit."
Mattie war ehrlich erfreut, das zu hören. Armer Bratton, sein schlechtes Benehmen holte ihn in Form einer Gegnerin wie Jane Mantle ein.
"Ich sollte ihn melden", sagte Jane. "Er hat in dieser Situation ganz klar übertrieben."
"Wem auch immer du das meldest, derjenige wird alles über dein privates Treffen mit mir wissen wollen. Und darauf können wir verzichten, oder?" Mattie setzte sich in ihren Rattanschaukelstuhl, um ihr Knie zu schonen. "Übertrieben zu agieren, ist wahrscheinlich eine gute Sache, wenn eine Wiederwahl ansteht und all die Sorgen über den Terrorismus vorherrschen. Sie versuchen, dich zu beschützen, Jane. Deine Sicherheit ist von nationalem Interesse. Vielleicht haben sie ja einige Vorbehalte gegen mich. Meine juristischen Entscheidungen waren ihnen möglicherweise zu kontrovers." Um nicht von den Gerüchten zu sprechen, die mein persönliches Leben angehen.
Jane schien besänftigt. "Mattie, ich konnte dich nicht vorwarnen", sagte sie mit sanfterer Stimme. "Die Telefonistin hat deinen Anruf als auffällig eingestuft. Dann treten sofort bestimmte Sicherheitsvorkehrungen in Kraft. Ich konnte nicht sicher sein, ob sie Anrufe von und zu deinem Apparat aufnehmen. Außerdem musste ich dich überprüfen lassen. Sonst wären sie misstrauisch geworden."
"Es ist schon in Ordnung, Jane. Es geht mir wirklich gut. Aber was ist mit uns hier drinnen?"
"Du fragst dich, ob wir hier reden können?" Jane formte die Worte lautlos mit den Lippen und sprach dann laut: "Ja, ich habe darauf bestanden, dass die Gestapo draußen wartet. Wir sind ungestört."
Neben einem Schreibtisch am Fenster stand Matties Stuhl. Sie ging hinüber, nahm ein Blatt Notizpapier und schrieb die Worte: "Sie haben die Räume mit einem Detektor abgesucht. Keine Wanzen gefunden, aber könnten sie welche angebracht haben?"
Jane hob die Hand, um Mattie zu bedeuten, dass sie einen Moment warten solle. Sie prüfte die Jalousien und zog die Lamellen noch fester zu. In Mattie stieg Panik auf. Sie konnte spüren, wie der Atem in ihren Lungen dicker wurde. Aber sie schwieg, in der Hoffnung, dass das Gefühl von allein verschwinden würde. Jane wusste seit ihrer Schulzeit von Matties Horror davor, eingesperrt zu sein. Damals hatten sie über fast alles gesprochen. Aber es war lange her, und Menschen verloren ihre Kindheitsphobien häufig. Mattie nicht. Wahrscheinlich handelte es sich um keine einfache Phobie. In ihrer Laufbahn hatte sie genug über posttraumatischen Stress gelernt, um die Symptome zu erkennen. Diese Möglichkeit hatte Mattie für sich selbst jedoch ausgeschlossen. Vielleicht wollte sie nicht glauben, dass sie ein ernsthaftes Problem hatte.
Jane kramte in ihrer Reisetasche und zog einen Gegenstand heraus, der wie Brattons Handy aussah. Augenblicke später hatte sie damit über die entscheidenden Möbelstücke, das Telefon und die Fußleisten gestrichen. Als sie fertig war, hielt sie die Daumen hoch.
"Ich habe das Ding Brattons Vorgänger abgenommen", erklärte sie und steckte das Gerät wieder zurück in ihre Tasche, "was einer der Gründe dafür ist, dass sie mir stattdessen Godzilla auf den Hals gehetzt haben, denke ich. Hey, Politik ist ein schmutziges Geschäft und der Feind lauert überall. Ich verlasse mich nicht gern auf den Zufall. Ich bin da natürlich viel zynischer als Larry."
Sie meinte ihren Ehemann Lawrence Mantle, der Unschuldigere der beiden – wenn das Wort noch in die Politik passte –, der bei schwierigen Entscheidungen oft den guten Cop spielte, während Jane den Gegenpart übernahm. Er fällte kaum eine wichtige Entscheidung ohne Janes Rat. Öffentlich stritt er das zwar ab, aber dieses Geheimnis kannte jede verheiratete Frau in Amerika. Sie waren natürlich mit anderen Präsidentenehepaaren wie den Clintons und den Reagans verglichen worden. Auch die Mantles bildeten ein fast unschlagbares Team, in dem ein charismatischer Mann und eine starke Frau zusammenarbeiteten.
Jane saß auf Matties blassgrüner Couch und legte die Hand auf das Kissen neben sich. "Wirst du mir jetzt endlich erzählen, was los ist?"
"Natürlich", sagte Mattie, aber sie konnte augenblicklich nicht viel mehr tun, als ihre Freundin eindringlich zu mustern. Sie hatte Jane im Fernsehen gesehen, aber persönlich begegnet waren sie sich zuletzt bei Janes Hochzeit vor fünfzehn Jahren. Mattie und Breeze hatten bei dem freudigen Ereignis die Rolle der Brautjungfern übernommen. Aber als Larry im darauffolgenden Jahr nach Washington, D.C., kam, war klar, dass Jane ständig unter Beobachtung stehen würde. Deshalb hatten die drei Frauen es für das Beste gehalten, den Kontakt einzuschränken.
Sie waren beruflich durchgestartet. Keine konnte sich eine Verbindung zum Fall Broud leisten oder zu den mysteriösen einsamen Mädchen, die er beschuldigt hatte, besonders Jane nicht. Sie hatten sich E-Mails geschrieben. Jedes Jahr hatten sie sich an den Jahrestag ihres Abschlusses in Rowe erinnert und in Ivys Namen eine Spende einer Wohltätigkeitsorganisation zukommen lassen. Aber seit Jane First Lady war, schrieben sie sich nicht einmal mehr E-Mails.
Jane hatte große Angst davor, Larrys Karriere zu schaden. Trotzdem hatte sie vor drei Jahren nicht widerstehen können und mit einem Anruf Matties Welt auf den Kopf gestellt. Sie hatte Mattie gesteckt, dass Präsident Larry Mantle sie für das Neunte Gericht nominieren würde. Und Mattie, die nie weinte, konnte nach dieser Nachricht gar nicht mehr damit aufhören. Es war kein Traum. Es war ein Wunder, ein Geschenk von Artemis, der Beschützerin junger Frauen, wie Jane es nannte. Sie hatten endlos gequatscht, all ihre Ängste vergessen und große wie kleine Neuigkeiten geteilt. Danach war Mattie bewusst geworden, wie sehr sie ihre Freundin vermisste.
Nachdem Mattie Jane mehrere Minuten lang stumm angeschaut hatte, lächelte sie schließlich. "Jane, bist das wirklich du? Du könntest eine Schönheitskönigin sein."
Jane verzog das Gesicht, aber Mattie meinte das als Kompliment. Jane war in Rowe zutiefst verunsichert worden. Ihre Sorgen hatte sie Mattie anvertraut. Für dumm und langweilig hatte sich Jane seinerzeit gehalten und, schlimmer noch, für stocksteif – zu unbeholfen, um jemals einen Jungen für sich zu interessieren. Im Stillen hatte sich Mattie damals oft gefragt, ob Jane sich nicht eher um erwachsene Männer sorgte. Um Miss Rowes Männer.
Jetzt fielen Janes dunkelblonde Haare ihr in einer sorgfältig gefönten Frisur auf die Schultern. Der schmale schwarze Hosenanzug war wahrscheinlich von Armani. Mattie hatte irgendwo gelesen, dass Jane am liebsten Designerkleider von Armani und Chanel trug. Auf jeden Fall sah sie bis zu ihren Via Spiga-Pumps perfekt gestylt aus – über Mattie hatte das noch nie jemand sagen können. Ihre Klamotten wirkten wahllos zusammengestellt. Zusammengewürfelt wäre der bessere Ausdruck. Wäre Mattie First Lady, wären die Designer gezwungen, sich mit Haargummis und Anoraks als Modetrends abzufinden.
Gegentrend hätte Mattie das genannt.
Als sie sich neben Jane setzte, dachte sie über den langen Weg nach, den beide zurückgelegt hatten.
"Du siehst wunderschön aus", sagte sie im Brustton der Überzeugung, sodass die unerschütterliche Lady Jane aus der Rowe-Akademie tatsächlich errötete. Das hat sich also nicht geändert, stellte Mattie fest. Jane kann immer noch nicht mit Komplimenten umgehen. Keine der Stipendiatinnen außer Breeze konnte das.
"Also, erzähl mir die schlechten Neuigkeiten", drängte Jane.
"Soll ich uns vielleicht erst mal einen Tee machen?" Mattie streckte die Hand aus, um zu prüfen, ob sie noch zitterte. Die Schmerzen waren verschwunden, aber das Zittern noch nicht. "Vielleicht habe ich noch Kamillentee da. Der beruhigt."
"Jeder Tee ist gut", sagte Jane, "füge einfach etwas Alkohol hinzu."
Einen Moment später kam Mattie mit einer dampfenden Kanne Tee und einer kleinen Karaffe mit Aprikosenbrandy aus der Küche zurück. Sie hatte Jane gerade eine Tasse eingegossen und einen Schuss Brandy dazugegeben, als sie von einem Klopfen an der Tür gestört wurden.
Prompt kam John Bratton herein und trat auf Jane zu.
Nach einigen kurzen, geflüsterten Sätzen glitt er hinaus, und Jane setzte sich wieder auf die Couch. "Es scheint, als hätten wir einen Besucher", sagte sie.
Die Haustür schwang diesmal weit auf, und Bratton eskortierte eine strahlend lächelnde Blondine in den Raum. Breeze Wheelers honigblonde Locken wippten mit jedem Schritt auf und ab. Ihre braunen Augen funkelten genauso schelmisch wie damals. Als Teenager war sie für die Freundinnen die Personifikation des Wortes "frühreif". Den Mädchen ihres Alters alarmierend weit voraus, galt Breeze schon mit vierzehn als kleine Sexbombe, aber mit einer inneren Unschuld, der kein Mann widerstehen konnte.
Nichts hatte sich verändert. Mattie war darüber wirklich froh. Die Welt brauchte Menschen wie Breeze. Sie erinnerte einen daran, dass das Leben auch aus Spaß bestehen konnte. Es musste nicht immer todernst zugehen. Bestimmt hatte auch Breeze Probleme, aber sie versteckte sie gut. Mattie hatte immer geglaubt, dass Breeze Rowe als Einzige unbeschadet überstanden hätte. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr sicher.
Breeze betrachtete sich als Opfer. Sie hielt die "Kunden" der Direktorin für traurige und bedürftige Männer, und es gefiel ihr , dass sie sie glücklich machen konnte. Vielleicht vermittelten sie ihr das Gefühl, etwas geleistet zu haben oder Macht zu besitzen. In jedem Fall hatte Breeze die Pflichtübung zur Kür gemacht. Sie war in einer Flowerpower-Kommune aufgewachsen, bevor sie das freie Leben und ihre Marihuana züchtenden Eltern verlassen musste und schließlich in einem Kinderheim landete. Daher konnte ihre Unverwüstlichkeit stammen, aber Mattie hatte sich oft gefragt, welche Rolle die Ablehnungen, die Breeze in ihrem Leben erfahren hatte, in ihrem Leben spielten.
Über die Jahre war Mattie zu einer genauen Beobachterin von Menschen geworden. Als Kind hatte sie nur so überleben können. Als Anwältin war sie damit bei der Auswahl der Geschworenen konfrontiert worden, und als Richterin musste sie sich in die Tiefen der menschlichen Psyche begeben, um ihren Pflichten nachzukommen. Breeze war ihr immer als leichtfertig erschienen, zu schnell dabei, Probleme einfach abzuschütteln. Es schien so, als hätte sie einen Teil von sich weggeschlossen und als würde sie ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der Bedürfnisse anderer ignorieren, vielleicht weil es sicherer war.
"Danke für das Abtasten", sagte Breeze zu Bratton und klimperte mit den Wimpern. "Sie waren sehr sorgfältig. Vielleicht können Sie das nachher wiederholen? Nur um sicherzugehen, dass ich nichts habe mitgehen lassen? Man kann ja nie wissen. Ich könnte etwas in meinem BH versteckt haben."
Breezes Outfit war ebenfalls schwarz, wenn auch nicht von Armani. Sie trug enge Caprihosen, einen passenden Sweater und Pumps mit schwindelerregend hohen Absätzen. Der Reißverschluss ihres Cardigans stand offen, Breeze zog die Schultern zurück, um Bratton einen Blick auf ihr sahniges Dekolleté zu gewähren – nur für den Fall, dass er nicht begriffen hatte.
Bratton versuchte, einen Witz zu machen, aber ihm versagte fast die Stimme. "Ich sehe zu, was ich machen kann", sagte er und ging, nein, stürzte hinaus.
"Was für ein reizender Mann", bemerkte Breeze mit einem charmanten kleinen Schulterzucken.
"Breeze? Was machst du denn hier?" Mattie war sich nicht sicher, ob sie an diesem Abend noch mehr Überraschungen vertragen würde.
Bevor sich Breeze Mattie zuwandte, salutierte sie vor Jane. "Sie hier hat's möglich gemacht, deshalb war sie ja auch unsere furchtlose Anführerin in den düsteren Zeiten der Rowe-Akademie. Und übrigens vielen Dank, Jane. So eine kleine Spritztour in einem Privatjet ist nicht von schlechten Eltern."
Verwirrt drehte sich Mattie zu Jane um. Es klang, als hätte sie dieses Treffen bis hin zu Breezes Anreise komplett durchorganisiert.
Jane setzte ihre Teetasse ab. "Man könnte sagen, ich habe nur auf deinen Anruf gewartet, Mattie. Ich lese den Chronicle seit Jahren, und ich weiß alles über William Broud und Jameson Cross. Ich nahm an, dass deine dringende Nachricht mit seiner Entlassung zu tun hat und dass du außerdem Breeze kontaktiert hast. Also habe ich keine Zeit verschwendet, um dieses Treffen hier zu arrangieren. Es tut mir leid, dass ich euch beide im Dunkeln tappen lassen musste, aber glaubt mir bitte, das war die einzige Möglichkeit in dem transparenten Leben, das ich führe."
"Du hast mir gesagt, es sei ein Schultreffen", sagte Breeze.
"Na ja, ich musste dir ja irgendetwas sagen, sonst wärst du nicht gekommen. Und außerdem ist das ja gar nicht falsch, Mädels!"
Sie hob die Teetasse höher, als wollte sie einen Toast ausbringen. Breeze spielte das Spiel mit und prostete Jane mit der Brandyflasche zu.
Mattie bedauerte flüchtig, dass sie nicht mehr Brandy in ihren Tee getan hatte. In dem Bewusstsein, dass das hier nicht mehr ihr Treffen war, sondern dass Jane die Führung übernommen hatte, stieß sie mit den anderen an. Aber warum sollte sie das überraschen? Jane war die Älteste, auch wenn der Altersunterschied nur ein paar Monate betrug, aber sie hatte die Führungsrolle von Anfang an innegehabt.
In allen Aspekten des Lebens kannte Jane sich gut aus, aber besonders gut mit Organisatorischem und im Umgang mit Autoritäten. Breeze wusste alles darüber, wie man sich schminkt, wie man sich heimlich rausschleicht und wie Zungenküsse funktionieren – was die Mädchen gezwungenermaßen miteinander üben mussten, weil keine Jungs verfügbar waren.
Matties einziger Beitrag war ihre Fähigkeit gewesen, im Stehen zu pinkeln. Das hatte ihr zwar Zuschauer, aber keinen Sonderstatus verschafft. Allerdings muss zu Janes Verteidigung gesagt werden, dass sie den Konkurrenzkampf überhaupt nicht wahrnahm. Jane war so zielorientiert, dass sie das Umfeld ausblenden konnte, ein Zug, den ihre Freunde genauso liebenswert wie lästig fanden.
"Amicus usque ad aras", sagte Jane. "Freunde bis zum äußersten Ende."
"Tria juncta in uno", fügte Breeze hinzu. "Drei sind eins."
Mattie wiederholte die feierlichen Worte, dann tranken sie.
Breeze nahm noch einen Schluck aus der Flasche und setzte sie ab. "Wer zur Hölle ist Jameson Cross? Kann mir das eine von euch ignoranten Schnecken mal sagen?"
Jane lachte. "Er ist ein erfolgreicher Krimiautor, der nur über wahre Fälle schreibt und der den Mord am Internat wieder aufrollen will. Sein Verleger behauptet, er sei unerbittlich und lebe sehr zurückgezogen."
"So zurückgezogen nun auch wieder nicht", fiel Mattie ihr ins Wort, ohne sich zu entschuldigen. Jane konnte vielleicht am besten organisieren, aber diese Geschichte gehörte ihr. "Er hat mich gestern am Bezirksgericht besucht."
"Jameson Cross?" Jane verschüttete ihren Tee, während Breeze einen kleinen Quietscher der Begeisterung ausstieß.
"Wie ist er denn?", sprudelte es aus Breeze heraus. "Ist er süß? Heiß? Umwerfend sexy?"
Mattie warf ihr einen bösen Blick zu. "Komm runter, Breeze. Wir haben uns getroffen. Wir hatten keinen Sex."
"Armer Hase. Nächstes Mal zieh dich an wie ein Mädchen. Dann hast du vielleicht mehr Glück."
"Hey!" Jane sprang vom Sofa auf, um die Ordnung wiederherzustellen. "Breeze, die Sache ist ernst. Dieser Mann könnte unser Leben zerstören."
Mattie sprang auch auf, mit Rücksicht auf ihr schmerzendes Knie allerdings etwas vorsichtiger als sonst. Sie versuchte, keinen Blick auf die abgedunkelten Fenster zu werfen. Die Jalousien zu öffnen, hätte sie erleichtert, wenn auch nur ein kleines Stück. Aber sie war sich nicht sicher, wie die Leute das deuten würden, die Jane als Gestapo bezeichnete.
"Er ist eine Bedrohung", sagte sie. "Er tat so, als wäre er an meinen Gerichtsfällen interessiert, aber das war nur ein Trick. In Wahrheit wollte er Informationen über uns und den Mord an Millicent Rowe."
Jane wurde unter dem perfekten Make-up aschfahl im Gesicht. "Bist du sicher? Wie viel weiß er bereits?"
"Gerüchte, Vermutungen, bestenfalls hat er Indizien. Was die offiziellen Aufzeichnungen betrifft, die sind alle fest unter Verschluss." Mattie kämmte sich mit den Fingern durchs Haar, in dem Bewusstsein, dass sie die Ungepflegte war, der ungeschliffene Stein in der Mitte von funkelnden Diamanten. "Er fischt noch im Trüben."
"Ich beiße an", grinste Breeze. Jane warf ihr einen strengen Blick zu, woraufhin Breeze missmutig die Schultern fallen ließ. "Okay, okay, es ist tatsächlich ernst."
"Es ist nur eine Frage der Zeit", warnte Mattie. "Wenn er noch nicht darauf gekommen ist, wer die einsamen Mädchen waren, dann wird er es bald. Wir haben es mit einer tickenden Zeitbombe zu tun."
In kurzen Worten schilderte Mattie die Einzelheiten ihres Treffens mit Cross. Als sie endete, schwiegen Jane und Breeze. Jane saß auf der Kante der Couch, die Beine so fest verschlungen wie ein französischer Zopf. Die Lippen hatte sie geschürzt, die Augen fest auf den Boden gerichtet.
Breeze rückte ein Stück nach vorn. "Jane?"
"Wenn er an die Presse geht, wird diese Geschichte wie eine Explosion wirken und alles zerstören, was uns wichtig ist", sagte Jane. "Mein ganzes Leben wird mir um die Ohren fliegen."
"Er wird nicht an die Presse gehen", bemerkte Mattie. "Schließlich würde er dadurch die Fäden aus der Hand geben. Er will den echten Mörder finden – und ihn mit seinem Buch zur Strecke bringen."
Jane sah auf. "Und wenn er herausfindet, wer ich bin? Dass eines der einsamen Mädchen die First Lady ist?"
Sofort erkannte Mattie die Verunsicherung der Freundin und übernahm die Rolle der Besonnenen. "Wenn er herausfindet, wer du bist, wird es ihn zurückwerfen. Er kann keine unbegründeten Vorwürfe gegen die First Lady erheben. Das würde Konsequenzen haben – schwerwiegende Konsequenzen – und er ist klug genug, das zu wissen. Seine Glaubwürdigkeit wird er nicht ruinieren."
Jane schüttelte den Kopf. "Ich vertraue ihm nicht. Wir müssen dafür sorgen, dass er den Fall aufgibt. Ihm Angst einjagen, verdammt noch mal, wenn es sein muss."
"Und die Angelegenheit damit noch verdächtiger machen?" Ein Geistesblitz schoss durch Matties Hirn. Jane hatte panische Angst. Es hatte etwas gedauert, bis sie das begriffen hatte, denn das passte überhaupt nicht zu Jane. Aber sie hatte unvorstellbar viel zu verlieren. Hier ging es nicht um drei einzelne Frauen. Das ganze Land könnte in Mitleidenschaft gezogen werden. Sogar die Regierung ihres Mannes wäre unter Umständen gefährdet.
Mattie ging zum Sofa und kniete sich trotz ihrer Knieschmerzen vor Jane hin. "Das Einzige, was wir tun können, ist schweigen. Schweigen ist Gold, in diesem Fall vierundzwanzig Karat. Wir werden uns nicht feindselig verhalten, aber wir werden nichts zugeben, allein der Anschein von Kooperation wird ausreichen. Ist das klar?"
"Du beschreibst mein Leben", seufzte Jane.
"Gut, fantastisch. Ich schlage noch etwas vor. Ich möchte einen Detektiv anheuern, der Cross überprüft. Als Richterin kenne ich viele Privatermittler – einer ist nahezu unfehlbar. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen, und er schuldet mir einen Gefallen."
Traurig schüttelte Jane den Kopf. "Wir können da niemanden hineinziehen. Es ist zu gefährlich."
Mattie wechselte einen Blick mit Breeze, deren hochgezogene Augenbraue eigene Vorbehalte anzeigte. Schon wollte Mattie eine Diskussion anstoßen, als Jane nach ihrer Hand griff.
"Larry darf das nicht wissen. Es würde ihn umbringen. Es geht ihm gesundheitlich nicht besonders gut. Es darf nicht herauskommen, Mattie."
Janes Griff nahm Mattie fast den Atem. Sie hatte Angst, dass sie ihr die Hand zerdrücken würde. "Natürlich nicht", gab sie zurück. "Er wird nichts davon erfahren. Niemand wird etwas herausfinden. Wir drei werden das gemeinsam sicherstellen, nur wir drei."
"Danke."
Erleichtert seufzte Jane auf, und Mattie hatte sofort instinktiv das Gefühl, dass sie sie beschützen musste. Noch nie hatte sie ihre Freundin so verletzlich gesehen.
"Ich kümmere mich darum", bekräftigte Mattie. "Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um Cross."
Breeze hielt die Daumen hoch, aber Mattie war sich überhaupt nicht sicher, ob sie das Versprechen, das sie soeben gegeben hatte, würde halten können. Sie hatte schon eine Idee im Kopf. Nur konnte sie ihnen den Plan nicht erläutern, und allein deshalb hatte Mattie schwerwiegende Zweifel. Im Allgemeinen war sie nicht abergläubisch, und die meisten Erwachsenen hielten Versprechen aus der Kindheit für albern. Aber egal, wie lange der Tag zurücklag, an dem sie es gegeben hatte, Mattie war nicht wohl bei dem Gedanken, ein Ehrenwort zu brechen. Besonders jetzt nicht.