5. KAPITEL
Jane Mantle war nicht erfreut, ihre persönliche Assistentin Mia von der anderen Seite des runden Empfangszimmers für Diplomaten winken zu sehen. Mia war zwischen den Flügeltüren hindurchgeschlüpft und stand nun etwas unschlüssig in der Nähe eines mit gelbem Damast bezogenen Sofas. Die Handbewegung der jungen Frau signalisierte, dass es wichtig war, und ihre Einschätzung musste Jane ernst nehmen. Die Besprechung mit der Frau des peruanischen Botschafters hätte Mia nicht ohne guten Grund gestört.
Sie nickte Mia kaum merklich zu.
"Vergeben Sie mir, Señora Velasquez." Jane achtete darauf, eine Hand auf den Arm der zierlichen Frau zu legen, und versprach, sofort zurück zu sein. Was den persönlichen Kontakt mit ausländischen Würdenträgern anging, variierte das Protokoll. Aber Jane war gesagt worden, dass die südlichen Nachbarn weniger Wert auf die formelle Konversation legten als auf den Körperkontakt, obwohl das bei den Männern über Handschütteln nicht hinausging. Jane fand das seltsam, aber sie achtete penibel darauf, es richtig zu machen.
Mit ihren achtunddreißig Jahren gehörte sie zu den jüngeren First Ladys der Geschichte, aber das war für sie kein Grund, etwas im Alleingang zu unternehmen oder die Vorschriften zu missachten. Regeln gaben ihr Sicherheit. So viel Sicherheit, dass sie dafür bekannt war, selbst welche aufzustellen, wenn Zweifel auftraten. Die Medien bezeichneten sie gern als die bestorganisierte First Lady der Gegenwart, obwohl das nicht unbedingt ein Kompliment war. Man hatte sich in der Presse darüber lustig gemacht, dass sie genau drei vierminütige Pausen in ihren Zwölf-Stunden-Tag eingeplant hatte, in denen sie auf die Toilette verschwinden konnte. Auch die Bemerkungen über ihre pastellfarbenen Anzüge waren wenig schmeichelhaft.
Sie war ein Frühlingstyp, Herrgott noch einmal. Was sollte sie denn tragen? Schwarz?
Als Jane die Frau allein ließ, tauchte wie von Geisterhand eine Angestellte auf, um Señora Velasquez eine Erfrischung anzubieten.
"Sie haben einen Anruf, Ma'am", sagte Mia. "Ich glaube, es ist dringend."
"Ist es der Präsident?" Janes erster Gedanke galt Larrys Gesundheit. Er hatte über Brustschmerzen geklagt, und sie glaubte fest an die Heilkraft von Kräutern und Naturmedizin. Sie hatte ihn selbst behandelt, statt die ganze Nation durch einen Arzttermin des Präsidenten in Alarmbereitschaft zu versetzen. Es würde schon wieder werden. Es musste. Das Land brauchte ihn, und sie brauchte ihn auch. Aber sie würde ihn sofort in die Bethesda-Herzklinik bringen, sollte sich sein Zustand verschlechtern.
Seit fünfzehn Jahren waren sie verheiratet, aber Jane hatte sich und ihren Beruf nicht für Larry Mantles politische Karriere geopfert, wie so viele glaubten. Sie hatte sich bewusst dafür entschieden. Im Gegensatz zu vielen anderen Präsidenten-Ehepaaren hatten sie keine Kinder, ebenso wenig Hunde oder Katzen, aber sie waren ein eingeschworenes Team. Das verstanden die wenigsten. Was würde sie tun, wenn sie sein Schiff nicht mehr steuern konnte? Er war der Pilot, aber sie war seine Lotsin.
"Nein, Ma'am, es ist Matilda Smith. Es tut mir leid, aber …"
"Matilda Smith?" Es war Jahre her, aber Jane würde Mattie Smith nie vergessen. Sie konnte sich nur nicht vorstellen, dass sie hier anrief, einfach so, ohne Vorwarnung.
"Sie sagte, sie sei eine alte Freundin", erklärte Mia. "Sie seien zusammen zur Schule gegangen. Sie beharrte darauf, dass es dringend sei und dass Sie die Unterbrechung gewollt hätten. Ich hoffe, ich habe keinen Fehler gemacht."
Jane legte die Finger an ihren Hals, auf die Perlenkette, die sie trug. "Nein, das ist in Ordnung. Lassen Sie sich die Nummer geben und sagen Sie ihr, dass ich zurückrufe, sobald das Gespräch mit Señora Velasquez beendet ist."
Alle möglichen Fragen gingen Jane durch den Kopf, als sie zu ihrem Gast zurückkehrte, der nun auf einem blau-gold gemusterten Diwan saß und weder den Anistee noch das Karamellbaiser – beides peruanische Spezialitäten – angerührt hatte. Kein gutes Zeichen, wenn Würdenträger im Weißen Haus nichts aßen. Normalerweise nahmen sie das, was ihnen angeboten wurde, schon aus Respekt vor der Umgebung. Jane hatte oft Erfrischungen angenommen, um Erwartungen zu erfüllen oder sich die Zeit zu vertreiben.
Was konnte Mattie Smith nur wollen? Jane konnte an nichts anderes denken, als sie den Raum durchquerte. Es war einige Jahre her, seit sie zuletzt persönlich mit Mattie gesprochen hatte, und dringend konnte alles Mögliche sein. War Mattie etwas zugestoßen? Oder Breeze Wheeler, ihrer anderen Freundin aus dem Internat?
Die Rowe-Akademie.
Das satte Blau und Gelb des Empfangsraumes wurde vor ihren Augen blass, und sie verlangsamte ihre Bewegungen, um die Fassung wiederzuerlangen. Sie hatte das alles hinter sich gelassen, so weit hinter sich, dass es sie nicht einholen konnte, nicht jetzt, nicht hier. Sie fühlte sich leicht benommen und hörte ein seltsames Klopfen in den Ohren. Was war das für ein Geräusch? Ihr Herz?
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was passierte. Sie hatte dieses Gefühl so lange nicht gehabt, dass sie es kaum erkannte. Janes Zeitplan war lang und eng, aber sie hatte den Stress immer als positiv empfunden. Sie mochte die Disziplin, die nötig war, um so viele Dinge zu erledigen. Es gab keine Gelegenheit, irgendwelchen Gefühlen nachzugeben. Emotionale Höhen und Tiefen waren gefährlich, weil sie einen aus der Bahn werfen konnten. Also gab Jane Gas und sah zu, dass sie nicht ins Schlingern geriet.
Es ging nicht um Rowe. Das würde Jane nicht zulassen.
Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres Blazers und putzte sich die Nase. Bevor sie das weiße Spitzentuch zurücksteckte, warf sie einen Blick darauf. Wenn sie unter Stress stand, bekam Jane schnell Nasenbluten, dagegen konnte sie nichts tun. Zum Glück hatte das bislang niemand bemerkt, sonst hätte sie deswegen zum Arzt gehen müssen.
Vor Jahren hatte sie damit begonnen, leichte Beruhigungspillen in so winzige Stücke zu schneiden, dass sie wie Splitter aussahen. Die Tabletten halfen ihr, den Tag durchzustehen. Jane war stolz darauf, dass man ihr Nerven aus Stahl nachsagte, auch wenn sie die nur dank ihrer kleinen Helfer hatte. Außerdem wachte sie mitten in der Nacht nicht gern schweißgebadet auf und kämpfte mit den Dämonen, die in irgendwelchen dunklen Ecken auf sie warteten.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Noch eine Stunde? Heute war es schlimm.
Jane ging mit einem entschuldigenden Lächeln auf Señora Velasquez zu. "Ich möchte unser Gespräch über den Regenwald fortsetzen", sagte sie. "Habe ich erwähnt, dass ich die Schritte bewundere, die Sie und Ihr Gatte unternommen haben, um die natürlichen Ressourcen Ihres Landes zu erhalten?"
Janes Hände waren eiskalt, sodass die andere Frau zurückzuckte, als Jane ihren Arm berührte. Der Schreck im Gesicht der peruanischen First Lady löste eine Vorahnung in Jane aus. Sie hatte so etwas wie einen sechsten Sinn für manche Dinge. Matties Anruf gehörte dazu. Was auch immer passiert sein mochte, es war nichts Gutes. Und nach Jahren der Leere fühlte sie plötzlich das Einsetzen des einen Gefühls, das sie nie wieder spüren wollte: Furcht.
Breeze Wheeler stand vor ihrer Kommode mit Dessous und suchte nach dem perfekten Teil, als sie das Klingeln des Telefons hörte. Entschlossen, ihre Suche fortzusetzen, nahm sie das schwarze Satinnegligé heraus und betrachtete es kritisch. Zwar bestand es aus außergewöhnlich schöner Spitze, aber es war nicht das Richtige. Zu klassisch. Sie suchte nach etwas Sinnlichem, Verspieltem. Ein üppiges Dekolleté, die weichen Federn einer Boa und Marilyn Monroes verruchte Atemlosigkeit, so etwas schwebte Breeze vor.
Sie entdeckte ein rotes Babydoll aus Chiffon, legte es neben die anderen ausgewählten Stücke auf ihr Bett und ignorierte das andauernde Klingeln des Telefons.
"Zwei, drei, vier, fünf, sechs", murmelte sie, während sie die Stücke zählte, die sie herausgelegt hatte. Das sollte funktionieren. Zufrieden legte sie noch eine Polaroidkamera auf eines der Samtkissen.
Schon wieder das Telefon. Ihr Gast musste da sein, und er war es nicht gewohnt, zu warten. Seine Untergebenen zitterten in seiner Gegenwart, aber hier in Breeze Wheelers Luxusressort "Spa Marbella" galten die allgemeinen Regeln nicht. Hier war auch er nur einer von vielen Männern, die eine ihrer verschiedenen und höchst exklusiven Dienstleistungen brauchten.
Das war vielleicht der beste Part ihres eigenartigen und wunderbaren Lebens: die Mächtigen verletzlich zu sehen. Hinter den selbstbewussten Fassaden wurden Zweifel und Ängste sichtbar, und es war Breezes Aufgabe, ihren Kunden das Gefühl von Schutz und Sicherheit zu vermitteln – und sie darin zu bestärken, dass sie ihren exzeptionellen Status verdienten. Manche waren abstoßend. Aber die behandelte sie auf eine ganz spezielle Art und Weise.
Der seidene Kimono wogte um ihre nackten Beine, als sie den Hörer abnahm und die Empfangsdame des Spas sich meldete.
"Miss Wheeler? Hier ist ein Telefongespräch aus den Staaten für Sie."
"Ich kann jetzt nicht, Therese."
"Sie sagt, es sei dringend."
"Sie?"
"Matilda Smith. Sie sagte, Sie wüssten, wer sie sei."
"Oh, mein Gott."
"Miss Wheeler?"
Breeze glitt der Hörer aus der Hand, sie hörte, wie er auf dem Boden aufschlug. Ihre ohnehin schon helle Haut war so weiß geworden wie die Marmorplatte ihrer Kommode. Woher konnte Mattie die Telefonnummer haben? Ihre kleine Beautyfarm hatte Breeze zu einem luxuriösen Ressort ausgebaut, mit vielen, hervorragend ausgebildeten Mitarbeitern, und ihr Kundenkreis gehörte zu dem exklusivsten der Welt. Das Spa war nicht öffentlich. Wo es lag, wussten nur einige Auserwählte. Aber Mattie hatte sie aufgespürt, obwohl sie in den letzten Jahren den Kontakt nur sporadisch per E-Mail gehalten hatten.
Wie eine Familie hatten sie zueinandergestanden, aber ihre Verbindung war sogar noch stärker als das gewesen, stärker als Blut. Im Internat war Breeze Teil eines unzertrennlichen Trios gewesen. Nach dem Schulabschluss hatten sie sich aus den Augen verloren. Keine von ihnen besaß Familienangehörige, die der Rede wert waren, deshalb schien es umso wichtiger, dass sie sich regelmäßig anriefen oder trafen. Aber das funktionierte nur ein paar Jahre lang. Mattie hatte als Anwältin Karriere gemacht, und Jane, die furchtlose Anführerin, hatte einen Politiker geheiratet. Nach der Hochzeit galt sie als eine Person des öffentlichen Lebens. Es kam ihnen klüger vor, dass jede ihren eigenen Weg ging, und obwohl es unausgesprochen blieb, hatte Breeze nie aufgehört, ihre zwei Seelenverwandten zu vermissen.
"Miss Wheeler, Ihr Gast ist außerdem schon da. Er wartet bereits …"
"Therese, entschuldigen Sie mich bitte bei ihm. Seien Sie zuvorkommend, lenken Sie ihn mit etwas Leckerem ab, Champagner und Beluga-Kaviar, wenn es sein muss, aber geben Sie mir ein paar Minuten, bevor Sie ihn hochschicken."
Was für eine bizarre Wahl, dachte Breeze: Für wen sollte sie sich entscheiden: für die alte Schulfreundin, die ihr das Leben gerettet hatte – oder für einen der hochdekoriertesten ausländischen Würdenträger ihrer Kundschaft?
"Was ist mit dem Anruf?", fragte Therese.
Breeze zögerte, immer noch hin- und hergerissen. Wenn das Mattie Smith war, ging es hier nicht um die Ankündigung einer Hochzeit oder die Geburt eines Babys. Es war etwas Großes, und Breeze, normalerweise flatterhaft, musste sich darauf vorbereiten. Nicht einmal sie watete ohne anständige Stiefel durch ein krokodilverseuchtes Gewässer.
"Notieren Sie bitte die Nummer", antwortete sie.
Wenn es nicht Mattie gewesen war, die angerufen hatte, sondern jemand anders – und das war möglich –, dann wollte sie im Vorfeld so viel wie möglich wissen, und das erforderte etwas Detektivarbeit. Denn Breeze musste vorsichtig sein. Sie musste die Anonymität ihrer Klienten schützen.
Breezes Suite hatte ein Wohnzimmer und eine Bar. Sie griff nach dem Alkohol, den sie selbst kaum je anrührte, dafür aber reichlich an ihre Kunden ausschenkte. Schnell goss sie sich ein goldgerändertes Glas ein, vielleicht enthielt die Flasche Cointreau, Breeze bemerkte es nicht. Der brennende Geschmack trieb ihr Tränen in die Augen. Nicht einmal die Hälfte hatte sie getrunken, aber das war sowieso unwichtig. Was ihr fehlte, konnte nicht durch einen Drink ersetzt werden.
Es würde schon gut gehen. Was auch immer passieren würde, sie fände die Kraft, damit klarzukommen. Das hatte bisher immer funktioniert.
Jetzt musste sie sich auf ihren Gast vorbereiten.
Innerhalb von Sekunden zog sie den Kimono aus und das rote Babydoll an, das aus so dünnem Stoff gefertigt worden war, dass Breeze sich nackt fühlte. Dass weniger mehr war, besonders was die Kleidung anlangte, hatte sie früh in ihrer Jugend lernen müssen.
Sie warf das Nichts von Stoff über, dazu eine passende, mit flauschigen Federn verzierte Chiffonweste, die sie offen ließ, und schließlich ein paar rote Satinpumps.
"Die Vorstellung kann beginnen", murmelte sie und strich sich über den Kopf, um die Haare in Ordnung zu bringen. Ein Tropfen Parfum in das Dekolleté verfehlte die gewünschte Wirkung nie. Und einen weiteren in den Bauchnabel. Dann mal los, dachte sie und drapierte sich träge auf die Chaiselongue, um auf ihn zu warten. Zu dick aufgetragen für Seine Königliche Hoheit? Zu offensichtlich? Vielleicht.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihr Herz rasen. Dies war der entscheidende Moment. Wenn sie sich verkalkuliert hatte, würde sie es sofort wissen.
Sie war sich nicht sicher, ob er ihr in seiner Robe und der Keffiyeh, der traditionellen Kopfbedeckung, besser gefallen hatte als in dem maßgeschneiderten dunklen Anzug, den er jetzt trug.
"Möchten Sie hereinkommen?", fragte sie und schenkte ihrem Gast ein Lächeln.
Seine gesellschaftliche Position verlangte, dass sie aufstand und ihm so Respekt zollte. Sie tat natürlich nichts dergleichen. Sie ließ einen Träger von der Schulter gleiten, während sie sich langsam aufsetzte.
"Haben Sie jemals die amerikanische Zeitschrift 'Playboy' gelesen? Ja?" Sie erwiderte sein eifriges Lächeln. "Nun ehrlich gesagt wusste ich das bereits, Königliche Hoheit. Jemand hat mir verraten, dass dies Ihr Lieblingsmagazin ist, und ich habe ein kleines Geheimnis. Ich wollte schon immer das Mädchen auf dem Poster in der Heftmitte sein."
Die Polaroidkamera lag immer noch inmitten der Dessous auf ihrem Bett. Breeze griff danach und reichte sie ihm, wie zufällig glitt dabei ihre Weste auseinander. "Würden Sie den Job übernehmen?"
Er nahm die Kamera, und sie konnte am Funkeln seiner Augen erkennen, dass sie das Richtige getan hatte. In den nächsten paar Stunden würde nichts anderes zählen, als diesen Mann, der alles besaß, glücklich zu machen. Und alles, was dazu nötig war, besaß Breeze: eine Polaroid für fünfzig Dollar und ein bisschen Vorstellungskraft.