17. KAPITEL
Hatte ihr jemand ein Post-it mit einer blöden Bemerkung auf den Rücken geklebt?
Mattie war perplex. Seit sie den Gerichtssaal betreten hatte, wurden ihr seltsame Blicke zugeworfen: Sie sollte sich die vorgerichtliche Beweisaufnahme für eine Verfügung anhören, die vom Nationalen Komitee für Arbeitsrecht angestrebt wurde. Der erste erstaunte Blick kam vom Gerichtsdiener, woraufhin Mattie überlegte, ob sie ihre Robe falsch herum angezogen hatte. Auch Mitglieder des Komitees schauten sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. Zwei Anwälte, die sie bereits aus dem Gerichtssaal kannte, sahen zweimal zu ihr hin, erröteten und wandten den Blick ab.
Mattie strich sich die Haare aus dem Gesicht, und urplötzlich waren alle Augen auf sie gerichtet. Neugierig starrten sie sie an, und plötzlich wurde ihr klar, dass es mehr als Neugierde war, besonders bei den Männern.
Auf einmal begriff Mattie. Es war Breezes gute Arbeit!
Breeze hatte sich heute Morgen selbst übertroffen. Noch bevor Mattie die Augen geöffnet hatte, war Breeze aufgestanden und hatte eine Schönheitsbehandlung vorbereitet, als hinge das Heil der Welt davon ab. Das Ergebnis ihrer Arbeit war ein rosa Schimmer auf den Wangen der Freundin, dunkler Lidschatten und sogar Eyeliner. Das Haargummi hatte Breeze verbannt und Mattie stattdessen so frisiert, dass das dunkle Haar ihr Gesicht wellig umrahmte.
Breeze hatte außerdem ein Diamantarmband herausgeholt, das angeblich Zauberkräfte besaß, was Männer anging. Sie bestand darauf, dass dieses Accessoire Cross in ihren Bann ziehen würde. Mattie hatte schließlich zugestimmt. Sie hatte so viele andere Dinge im Kopf, dass es der leichteste Weg gewesen war, einer Auseinandersetzung zu entgehen. Aber jetzt kam sie sich lächerlich vor. Hätte sie noch Zeit gehabt, wäre sie zurück in ihre Kammern geschlichen und hätte sich im Bad das Gesicht gewaschen. Glücklicherweise war dies nur eine unwichtige Anhörung in einem der kleineren Gerichtssäle ohne einen erhöhten Richterstuhl … sonst hätte Mattie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Mach einfach weiter, sagte sie sich. Und lass Breeze nie wieder mit einer Zauber-Mascara in deine Nähe.
Mattie wollte gerade die Anhörung eröffnen, als Jaydee durch die Tür schlüpfte und dem Gerichtsdiener eine Notiz gab. Dieser brachte Mattie das Stück Papier und wartete auf Antwort. Anscheinend war ein Mitglied des Komitees im Verkehr stecken geblieben. Auf der Notiz stand die Frage, ob Mattie ohne dieses Mitglied anfangen oder die Anhörung auf den späteren Vormittag verschieben wolle.
Für einen Aufschub sah Mattie keinen Grund, nicht einmal, um ihr Gesicht zu waschen. Sie kritzelte ihre Antwort auf das Papier und gab es dem Gerichtsdiener, aber offensichtlich hatte Jaydee es nicht für nötig befunden, zu warten. Im Gerichtssaal war er nicht zu entdecken. Um ihn zu suchen, eilte der Gerichtsdiener aus dem Saal, während Mattie den Hammer hob.
Schon wollte sie die Anhörung für eröffnet erklären, als die Türen laut krachend aufflogen. Licht flutete in den Raum, und zunächst war ein schwarzer Umriss alles, was Mattie erkennen konnte. Sie wusste intuitiv, dass es ein Mann war – die Größe, die Schultern, die steife Haltung. Auf die anderen Anwesenden schien der Mann dieselbe Wirkung zu haben, denn alle waren vollends verstummt. Mattie ließ den Arm sinken.
Ihr musste nicht erst gesagt werden, dass es Ärger geben würde. Sie wusste es beim ersten Blick auf den Mann, der den Gang entlang direkt auf den Richterstuhl zustürmte. Er kam durch die Schwingtüren der Besucherreihen, und Mattie umklammerte unwillkürlich den Hammer. Weder Jaydee noch der Gerichtsdiener waren zurückgekehrt, sie war allein.
"Die Anhörung wird verschoben", bestimmte sie laut und deutlich.
Erneut hob sie den Hammer. Mehr Zeit hatte sie nicht, bevor Jameson Cross ihn ihr aus der Hand riss.
"Er ist tot", zischte Cross. Seine Worte waren kaum hörbar, aber den anklagenden Tonfall nahm jeder wahr.
Matties Arm war noch in der Luft, der Hammer lag in Cross' Hand.
"Was in Gottes Namen tun Sie da?", flüsterte sie. Bei jedem anderen hätte sie die Sicherheitskräfte gerufen und ihn aus dem Gebäude bringen oder wegen Bedrohung eines Bundesrichters ins Gefängnis werfen lassen. Aber dieser Mann wollte Rache, und Mattie musste mit der Bedrohung irgendwie umgehen. Wenn es zum verbalen Schlagabtausch käme, könnte er ihr viel mehr schaden als umgekehrt.
Mattie sah den Gerichtsdiener in den Raum stürzen. Er zog seine Pistole und kam hinter Cross den Gang hinauf. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte – Cross oder die Tatsache, dass er erschossen werden könnte.
"Nein!", rief sie dem Gerichtsdiener zu. "Stecken Sie die Waffe weg."
In dem Augenblick, als Cross sich umdrehte und den Gerichtsdiener sah, eilte Mattie auf Cross zu, um ihn aus dem Weg zu schieben. Cross machte eine Bewegung, als ob er Mattie schützen wollte, und ihr Zusammenprall war unausweichlich, hörbar und schmerzhaft. In dem ganzen Wirrwarr glitt das Diamantarmband mit Wucht über sein Gesicht.
Mattie spürte beinah, wie es in sein Gesicht schnitt. Sie keuchte und verlor das Gleichgewicht. Vom Anblick des roten Striemens auf seiner Wange wurde ihr schlecht.
"Legen Sie den Hammer hin", verlangte der Gerichtsdiener und bedrohte Cross mit der Waffe. "Treten Sie vom Richterstuhl zurück. Sofort!"
Cross folgte der ersten Aufforderung, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
Mattie wusste, dass sie jetzt aktiv werden musste. Der Raum war immer noch voll besetzt. Die Menge war auf die Füße gesprungen und dort erstarrt. Zahlreiche Augenpaare waren auf sie gerichtet, mit dem entsetzten Blick, wie man ihn bei Zeugen einer Hinrichtung sieht.
Der Gerichtsdiener wies Cross an, sich vom Richterstuhl zu entfernen und sich umzudrehen. Als Cross das tat, griff der Beamte nach einem Paar Handschellen.
"Das ist nicht nötig." Matties Stimme war nicht laut genug, um zu ihm durchzudringen. Sie stellte sich zitternd hin und legte die Fäuste auf das glänzende Mahagoniholz.
"Stecken Sie die Waffe weg", wies sie den Gerichtsdiener in einem strengen Ton an. "Ich kenne diesen Mann, und er wollte mir nichts tun."
Cross wandte sich nun ihr zu. Sein finsterer Blick schien Mattie zu durchbohren. Er sah so aus, als könnte er ihr durchaus etwas antun.
Noch schlimmer wurde die Sache dadurch, dass Mattie den Grund für seinen Zorn zu kennen glaubte. Cross musste bei seiner Schnüffelrei etwas entdeckt haben, das die einsamen Mädchen mit dem Tod von Miss Rowe in Verbindung brachte. Kein Indiz, sondern einen Beweis, und er würde damit zur Polizei gehen. Aber nicht bevor er der Richterin eine Gelegenheit zum Geständnis in ihrem eigenen Gerichtssaal gegeben hätte. Wie großzügig!
"Euer Ehren?" Einer der Anwälte näherte sich vorsichtig dem Richterstuhl. "Sind Sie in Ordnung?"
"Mir geht es gut", versicherte Mattie. "Würden Sie mir helfen, den Raum zu räumen? Der Herr und ich haben etwas Geschäftliches zu besprechen."
Sie winkte nach dem Gerichtsdiener und gab ihm Anweisungen. "Sorgen Sie dafür, dass hier alle so schnell wie möglich den Raum verlassen. Die Anhörung beginnt, sobald das fehlende Mitglied des Komitees eingetroffen ist."
"Wenn ich Sie wäre, würde ich es bis morgen verschieben." Cross machte den Vorschlag mit tiefer Stimme, er sprach sehr leise. Die Worte waren nur für Matties Ohren bestimmt, und seine Diskretion erleichterte sie. Wenigstens schien er gewillt, zu warten, bis der Raum sich geleert hatte, bevor er mit seinen verbalen Angriffen fortfuhr.
Während die Menge geordnet den Raum verließ, vermied Mattie, Cross anzusehen. Leider gab es keine Möglichkeit, ihn für immer zu ignorieren. Gott sei Dank ahnte er nicht, was in ihrem Innersten ablief. Niemand konnte das wissen – sonst hätte sie nicht frei auf der Straße herumlaufen können.
Als die Türen sich hinter den letzten geschlossen hatten, nahm Mattie sich zusammen. Sie inspizierte ihre Hände und entdeckte ein Stück Haut, das begonnen hatte, sich zu lösen.
"Wer ist tot?", fragte sie.
"William Broud."
Mattie merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. William Broud? Wie konnte er denn tot sein? Er war doch gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden. Im Geiste sah sie den furchteinflößenden Mann vor sich, der sie aus dieser Abseite gezerrt hatte – und ihr vielleicht das Leben gerettet hatte. Vielleicht hätte sie traurig sein sollen, aber in diesem Moment hatte sie einfach nur Angst.
"Wie ist das passiert?", fragte sie.
"Komisch, das wollte ich gerade Sie fragen, Euer Ehren."
Mattie griff in Gedanken nach dem Hammer. Ihre Fingerknöchel waren weiß vor Anspannung, und Cross entging das nicht.
"Offensichtlich wissen Sie, von wem ich spreche", sagte er. "Der Mann, der für Sie vor dreiundzwanzig Jahren ins Gefängnis gegangen ist? Vielleicht haben Sie auch über die Jahre seine Anträge zur Haftprüfung verfolgt?"
"Seien Sie sehr vorsichtig mit Ihren Äußerungen, Mr. Cross. Falsche Anschuldigungen können verfolgt werden. Sie könnten im Gefängnis landen."
"Wer sagt denn, dass die Anschuldigungen falsch sind?"
"Ich habe das gesagt." Sie hielt seinem wütenden Blick stand, aber der Zorn in ihrer Stimme ließ nach, als sie an den Schaden dachte, den er mit seinen Behauptungen anrichten könnte, falsch oder nicht. Ein paar Worte zur Presse und ihr Leben wäre zerstört.
Ihr Blick wanderte an ihm vorbei durch den Gerichtssaal, wo Mattie Entscheidungen getroffen hatte, die das Leben vieler Menschen verändert hatten. Anmaßende Entscheidungen. Wie hätten diese anders ausfallen können? Waren es nicht stets nur Beweise gewesen, an die sie sich hatte halten müssen? Keine Gedanken, keine Herzen, nur Beweise und Indizien. In den Seelen der Angeklagten konnte Mattie nicht nach der Wahrheit suchen. Nur ein Orakel könnte das. Sie musste über das Schicksal von Menschen entscheiden und sich dabei von professionellen Einschätzungen leiten lassen, die sich oft wie Launen anfühlten – und jetzt war ihr eigenes Leben in die Waagschale geworfen worden. Es machte keinen Unterschied mehr, auf welcher Seite des Richterstuhls sie saß.
Würde Jameson Cross genauso anmaßend sein? Würde er Gnade walten lassen? Verdiente sie welche?
Ihre Beine wollten sie nicht länger tragen, aber irgendetwas hielt Mattie aufrecht, und das lag nicht nur am Adrenalin, das durch ihren Körper gepumpt wurde. Gott sei Dank war ihr Richterstuhl so eine hervorragende Barriere.
Wie sie es schon so oft getan hatte, wenn ihre Welt zu zerbrechen drohte, atmete sie tief ein und konzentrierte sich. Im Geiste sah sie die gelbe Kugel im Schwarzen der Zielscheibe vor sich – der Ruhepol in der sich drehenden Welt – und Mattie spürte, wie Entschlossenheit ihren Körper durchströmte, wie etwas, das man sehen und schmecken kann. In der Theorie würde jeder Atemzug sie stärker machen, und wenn sie eins wäre mit der gelben Kugel, wäre sie unangreifbar.
Dieser Mann wird mich nicht zerstören, sagte sie sich. Niemand wird das tun können. Ohne ein weiteres Wort an Cross verließ sie den Richterstuhl. Es war nur eine Stufe nach unten, aber wegen der High Heels, die Breeze sie zu tragen genötigt hatte, musste Mattie vorsichtig gehen. Auf festem Boden, straffte sie die Schultern und schritt auf die Richtertür zu.
"Wohin gehen Sie?", fragte er.
Seine Stimme klang tief, fast brutal. Ihre Erwiderung war ebenso kalt. "In mein Büro", sagte sie. "Dies ist eine persönliche Angelegenheit."
"Blödsinn. Sie haben doch gerade die Halle räumen lassen. Wir können hier reden."
Einen Moment lang blieb sie in der Tür stehen, um ihm zu antworten.
"Ich könnte den Gerichtsdiener rufen und Sie rauswerfen lassen. Er hat gesehen, wie Sie mich angreifen wollten."
"Ich könnte die Polizei rufen und Sie wegen Mordes verhaften lassen."
Verhaften? Was in Gottes Namen weiß er?
Mattie öffnete die Tür. "Ich gehe voraus. Sie können mir folgen oder es lassen."
Ihre Robe schwang hoch, als Mattie den Raum betrat. Die Stille im dunklen Zimmer schien fast unheimlich im Kontrast zu den drängenden Fragen, die ihr durch den Kopf donnerten. Sie konnte nicht bluffen, genauso wenig konnte sie Entrüstung vortäuschen. Sie musste erfahren, was er wusste. Wissen war nicht immer Macht. Ihrer Erfahrung nach konnte es sehr gefährlich sein. Aber in diesem Fall war es ihr einziger Trumpf.
Sie schaltete das Licht an und ging zu ihrem Schreibtisch. Ganz langsam, Mattie. Es gibt keinen Grund zur Eile. Dass er hinter ihr war, wusste sie, weil sie gehört hatte, wie er die Tür geschlossen hatte. Aber sie hatte nicht die Absicht, sich sofort umzudrehen. Lass ihn die einschüchternde Wirkung der majestätischen Kammern eines Richters am Berufungsgericht spüren. Er sprach nicht mit einer Anwältin, die zufällig am Bezirksgericht aushalf und in einem Übergangsbüro arbeitete. Dies war ihr Allerheiligstes, und sie konnte sich immer noch an die Angst und Ehrfurcht erinnern, die sie verspürt hatte, als sie das erste Mal durch diese Türen gegangen war. Begriff er denn, mit wem er es zu tun hatte?
Cross wartete nur darauf, dass sie sich umdrehte.
Er zog eine Plastikhülle voller Papierfetzen aus seiner schwarzen Segeltuchjacke. Außerdem hatte er einen Umschlag dabei, der so aussah, als enthielte er Abschriften aus der Schule.
"Matilda Smith", sagte er, "Rowe-Akademie, 1980 bis 1983." Er ließ den Umschlag auf den Tisch fallen. "Die Dean's List für besondere Leistungen, Lateinklub, Auszeichnungen in Englisch und Mathe, Bogenschießen und Mitglied im Club der einsamen Mädchen. Breeze Wheeler und Jane Dunbar gehörten ebenfalls dazu. Das vierte Mitglied Ihres Clubs, Ivy White, starb 1982 an einer Vergiftung, wahrscheinlich selbst verschuldet. Ihre Direktorin, Millicent Rowe, wurde einen Monat später ermordet, und bei ihrer Autopsie fand man Spuren desselben Gifts, Herzwein, allerdings nicht genug, um sie zu töten."
Mattie gestattete sich einen unauffälligen Blick auf die Plastikhülle, die er hielt. "Haben Sie sich Ihr Mittagessen mitgebracht?", fragte sie spöttisch. Sie weigerte sich, ihn ernst zu nehmen.
"Es ist das Tagebuch von William Broud. Und er erwähnt Sie darin. Die einsamen Mädchen, alle vier von Ihnen, identifiziert von Broud. An dem Tag, an dem er verhaftet wurde, behauptete er, dass die Direktorin ihre eigenen Schülerinnen hatte missbrauchen lassen. Millicent Rowe hatte einen lukrativen Nebenjob, nicht wahr, Mattie? Sie verkaufte sexuelle Gefälligkeiten minderjähriger Mädchen an einen Kreis mächtiger Männer. Sie verkaufte Sie – und deshalb schworen Sie und Ihre Freundinnen, sie umzubringen."
Mattie blinzelte nicht einmal. Sie war weit entfernt davon, sich von seinen Drohungen in irgendeiner Weise beeindrucken zu lassen. Sie war das Schwarze der Zielscheibe, das Zentrum. Nichts konnte sie treffen.
"Warum tauchte dieses Tagebuch nicht im Verfahren auf?" Sie hatte ihre Hausaufgaben ebenfalls gemacht. Vor Jahren hatte sie versucht, Zugang zu den Polizeiberichten und Abschriften der Verhandlung zu bekommen. Fast war sie erleichtert gewesen, dass sie sie nicht erhalten hatte. Alle Aufzeichnungen waren unter Verschluss, und das bedeutete, dass auch niemand anders darauf zugreifen konnte. Aber während ihrer Suche hatte sie einige frühe Zeitungsartikel über das Verfahren entdeckt, bevor die Zeugenvernehmung abgeschlossen war.
"Er hat das Tagebuch im Gefängnis geschrieben", erklärte Cross, "aber er hat es mir erst nach seiner Entlassung zugeschickt. Der Umschlag wurde am Tag vor seinem Tod frankiert. Wer auch immer ihn getötet hat, wusste offensichtlich nichts von diesen Unterlagen. Sie dachten, sie hätten ihn zum Schweigen gebracht."
Matties Lächeln war so kalt wie seine blassgrauen Augen. "Wer auch immer ihn getötet hat? Sind Sie sich jetzt nicht mehr sicher?"
"Es spielt keine Rolle, was ich glaube. Es ist wichtig, dass Broud keinen Zweifel hatte. Wer auch immer die Direktorin tötete, hat auch ihn umgebracht, damit er nichts enthüllen konnte. In seinen Aufzeichnungen ist von Todesdrohungen die Rede, die er erhalten hat, um ihn zum Schweigen zu bringen."
"Von wem?"
"Sie waren natürlich anonym."
"Offensichtlich hatte er einige Feinde."
"Offensichtlich waren es genau drei."
Um seine Worte zu betonen, warf er einen unmissverständlichen Blick auf die Abschriften. Mattie ignorierte ihn. Sie hatte nicht die Absicht, auf irgendeine Art anzuerkennen, dass er sie des Mordes verdächtigte. Wenn sie das tat, würde es der Unterstellung Gewicht und Glaubwürdigkeit verleihen. Stattdessen begann sie, ihn auszufragen – wobei sie bedauerte, dass sie die eine entscheidende Frage nicht stellen konnte. Was hatte er der Polizei erzählt, und wussten sie von dem Tagebuch? Das wäre einem Eingeständnis ihrer Furcht zu nahe gekommen, dann hätte er sie beinah in der Falle, die er ihr gestellt hatte.
"Warum hat Broud das Tagebuch ausgerechnet Ihnen geschickt?", fragte sie, überzeugt davon, dass er ihr nur das sagen würde, was sie hören sollte. Es fehlte ein Teil in diesem Puzzle, vielleicht auch mehrere.
"Ich bin sicher, dass er seine Gründe hatte."
"Haben Sie Lust, über diese Gründe zu spekulieren?" Während Mattie auf die Antwort wartete, knöpfte sie die Robe auf. Sie fühlte sich unwohl darin. Der Raum hatte sich aufgeheizt, und der schwere schwarze Stoff fühlte sich wie eine Last auf ihren Schultern an. Sie war dumm genug gewesen, zu glauben, dass die Insignien der juristischen Macht ihr in einer Situation wie dieser eine besondere Autorität verleihen würden.
Die Roben bewahrte Mattie in einem Eichenschrank auf. Als sie den Kleiderbügel herausnahm und das Ritual vollzog, die Robe aufzuhängen, sagte Cross nichts. Sein Schweigen zerrte an ihr. Schließlich durchbrach sie die Anspannung, indem sie ihm einen Blick zuwarf. Es überraschte sie zu sehen, dass er sie genauso intensiv beobachtete, wie sie ihn bei seinem Marsch durch den Gerichtssaal angesehen hatte. Sofort hatte sie gewusst, dass er eine Bedrohung war. Einige Menschen strahlten genügend animalische Energie aus, um ihre Absichten auch ohne Worte zu verraten. Er war einer davon.
Sein Blick ruhte auf ihr. Während sie sich umdrehte, fühlte Mattie ein eisiges Kribbeln im Rücken. Das hier hatte nichts mehr mit dem Machtkampf von eben zu tun. Als sie heute Morgen den Gerichtssaal betreten hatte, waren die auf sie gerichteten Blicke eindringlich gewesen. Sie wollte es nicht sexuelle Neugier nennen, aber irgendetwas erregte die Aufmerksamkeit dieser Männer. Dass es an der Robe lag, bezweifelte Mattie. Sie zog ihren Pullover an den Schulternähten gerade und bemerkte, dass sich ihre Brüste unter dem Pulli abzeichneten. Vielleicht hatte Breeze mit ihrer Theorie recht gehabt. Matties Rock war etwas hochgerutscht, sie richtete auch das und fragte sich, wie lange eine Frau den Blicken eines Mannes standhalten konnte. Endlos, dachte sie, und es wird mir eine Art unterschwellige Verhandlungsmacht verleihen.
"Sie haben meine Frage nicht beantwortet."
"Es gibt nur eine einzige Sache, die Sie wissen müssen", sagte er. "Ich werde den Fall von Millicent Rowe neu aufrollen lassen. Egal, was es kostet, egal, wer dabei zu Schaden kommt."
"Das ist keine gute Idee."
"Warum?"
"Sie haben keine Ahnung, auf was Sie sich da einlassen."
"Das klingt beunruhigend, Miss Smith. Worauf lasse ich mich denn ein? Ich darf Sie Miss Smith nennen, oder? Jetzt da Sie in Zivil sind?"
"Sie bluten, Mr. Cross." Der Schnitt auf seiner Wange glich einem leuchtend roten Satzzeichen. Aus einer Schachtel auf ihrem Tisch zog Mattie ein Taschentuch und reichte es ihm mit ausgestrecktem Arm.
"Ich lasse mir dafür später eine Transfusion geben", erwiderte er höchst gereizt.
Jemand klopfte laut an ihre Tür.
"Herein." Mattie ergriff die Gelegenheit. Sie wollte, dass Cross aus ihrem Büro verschwand. Es gab nichts, was sie aus ihm noch herauskriegen könnte. Sie musste mit Breeze und Jane sprechen.
Jaydee Sanchez steckte den Kopf zur Tür herein. "Die Anhörung kann wieder aufgenommen werden", sagte er. "Alle Mitglieder des Komitees und die Anwälte sind versammelt." Als er den Besucher entdeckte, wollte er sich abwenden. "Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht …"
"Jaydee! Komm herein. Mr. Cross wollte gerade gehen." Wenigstens war das Timing ihres Mitarbeiters jetzt besser als vor wenigen Minuten im Gerichtssaal.
Lächelnd betrat Jaydee den Raum und reichte Cross die Hand. "James Dean Sanchez", sagte er. "Juristischer Mitarbeiter der Extraklasse."
"Jameson Cross. Ich bin mir sicher, dass sie einen juristischen Mitarbeiter der Extraklasse brauchen kann."
Jaydees Handschütteln wurde kräftiger. "Der Jameson Cross? Autor von Der Spatz ist tot?" Auf Cross' Nicken jauchzte Jaydee. "Ich liebe dieses Buch! Woran arbeiten Sie jetzt gerade?"
Mattie seufzte. Ihr Mitarbeiter war ein Jameson-Cross-Fan? "Jaydee, Mr. Cross wollte gerade gehen, und ich muss zurück in die Anhörung."
Wie gelähmt vom Anblick ihres Gasts, reagierte Jaydee nicht. Er kniff die Augen zusammen. "Bluten Sie?" Er griff nach dem Taschentuch in Matties Hand und betupfte damit die Schnittwunde auf der Wange des Mannes. "Auweia, Sie bluten. Was ist passiert?"
Anstatt verärgert von dem Vorfall zu berichten, schien Cross eher amüsiert zu sein. "Ich arbeite an einem Buch über einen Mord, der vor über zwanzig Jahren geschehen ist", sagte er mit einem Seitenblick auf Mattie. "Das Verbrechen hat sich auf der anderen Seite der Bay in Tiburon zugetragen, und es gab eine große Verschwörung. Es wird ein Bestseller, wenn der Inhalt bekannt wird."
"Cool", erwiderte Jaydee. "Wie wird es heißen?"
"Es hat noch keinen Titel. Vielleicht kann Ihre Chefin Ihnen mehr darüber erzählen. Sie war da, als der Mord passierte."
"Echt?" Jaydee warf Mattie einen Blick zu.
Sie zwang sich zu einem dünnen Lächeln. "Mr. Cross hat eine blühende Fantasie."
Nachdem sie den Männern kurz zugenickt hatte, ging sie zum Schrank, um ihre Robe zu holen. Cross war ein Mistkerl. Er spielte mit ihr, aber damit würde er nicht durchkommen. Seine versteckten Drohungen hatten den Beigeschmack einer Erpressung.
Cross ließ das zerknitterte Taschentuch auf Matties Schreibtisch fallen. "Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben", sagte er. "Ich hoffe, ich habe Ihre Erinnerung wieder auf Trab bringen können. Könnte sein, dass ich noch mehr Fragen habe."
"Da bin ich mir sicher." Und vielleicht wirst du Antworten bekommen, mit denen du nicht gerechnet hast.
Als er zur Tür hinausging, fiel Mattie etwas ein. Er hatte von Jane Dunbar gesprochen. Das war ihr Mädchenname. Vielleicht hatte er noch nicht herausgefunden, dass er es mit der First Lady der Vereinigten Staaten zu tun hatte.