43. KAPITEL

In der Ruhe der Limousine konnte sich Mattie endlich auf ihre neue Identität konzentrieren. Grace davon zu überzeugen, dass sie die Frau auf den Bildern sei, würde sie erst gar nicht versuchen. Aus verschiedenen Gründen konnte das nicht gelingen, aber das hieß nicht, dass sie ihm nicht einen Auszug aus seinem Leben in Erinnerung rufen konnte.

Ihre größte Sorge bestand darin, von Grace als Mattie Smith erkannt zu werden, bevor sie die Chance haben würde, ihn mit seinen eigenen Fantasien zu verführen. Um ihn dazu zu bringen, seine Abwehrhaltung aufzugeben, würde Mattie Zeit brauchen. Dazu müsste sie ihn von einer Illusion überzeugen. Sie müsste ihn so verzaubern, wie ein Magier sein Publikum dazu verleitet, Dinge zu sehen, die es nicht gibt.

Der Vibrationsalarm ihres Handys schreckte Mattie aus dem versunkenen Zustand auf. Sie fand das Telefon in ihrer Abendtasche und klappte sie in der Hoffnung auf, Jamesons Stimme zu hören. "Hallo?"

Eine flüsternde Stimme lachte leise in ihr Ohr. "Jameson ist der Nächste."

"Was?", fragte Mattie. "Wer ist da?"

Der Anrufer antwortete nicht, und Mattie sah schnell auf das Display. Die Nummer war bereits verschwunden – und der Anrufer ebenfalls. Das Besetztzeichen dröhnte Mattie im Ohr, als sie die Anrufliste aufrief. Während sie die angezeigten Zahlenreihen durchging, wurde Mattie klar, dass die Nummer gesperrt gewesen sein musste.

Außerdem drangen die Worte des anonymen Anrufers in ihr Bewusstsein.

Jameson ist der Nächste. Er wird getötet werden.

Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, hielt Mattie bewegungslos inne. Das war schlimmer als Chaos: ein Abgrund, eine tiefes, eisiges Nichts. Sie spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Rückgrat, konnte sich aber nicht rühren. Wenn die Drohung echt war, dann erklärte das, warum Jameson nicht ans Telefon ging. Der Anrufer hatte ihn bereits in seiner Gewalt. Und Mattie hatte keine Ahnung, wo sie Jameson finden oder wie sie ihn retten sollte.

Und was, wenn David Grace die Nachricht hinterlassen hatte?

Mit zitternden Fingern tippte Mattie eine Nummer in ihr Handy. Obwohl sie wusste, dass er nicht antworten würde, versuchte sie, Jameson zu erreichen. Als Nächstes rief sie Breeze an und schilderte ihr schnell, worum es ging. "Setz deine Leute darauf an", wies sie sie an. "Als ich das letzte Mal mit Jameson gesprochen habe, war er auf dem Weg zu Frank O'Neill. Es war der Tag, an dem Frank tot in seiner Hütte gefunden wurde. Finde ihn, bitte."

Breeze versicherte, dass sie ihn finden würden, und Mattie legte auf. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Jemanden darum zu bitten, nach Jameson zu suchen, war niederschmetternd. Sie wollte es selbst tun. Doch sie musste davon ausgehen, dass Breezes Informant bessere Möglichkeiten zur Verfügung standen.

Trotzdem nagte die Unschlüssigkeit an Mattie. Und schließlich half ihr die E-Mail aus dem Municipo in Ravello, die Mattie davon überzeugte, ihre Mission zu erfüllen. Um Geburts- und Todesdaten hatte Mattie gebeten, speziell für Säuglinge, geboren in dem Jahr, in dem sich Cynthia Grace in der Klinik aufgehalten hatte. Die Antwort verblüffte Mattie. Cynthia Grace hatte zu der Zeit kein Baby verloren. Stattdessen hatte Millicent Rowe eines bekommen, ein Mädchen, das einen Monat vor dem Tod von David Grace' Frau zur Welt gekommen war.

Viele Fragen brannten Mattie nun unter den Nägeln, und nur David Grace konnte sie beantworten. Was, wenn Cynthia Grace niemals schwanger gewesen war?

Und was war mit Millicent Rowes Baby passiert?

David Grace stand auf dem Balkon im dritten Stock der Villa im toskanischen Stil und beobachtete die Straße, die sich wie ein lilafarbenes Band durch die tiefgrünen Hügel seines Anwesens in Napa Valley zog. Ein glänzend schwarzer Sedan war von seinen Sicherheitskräften durch die Tore gelassen worden, etwa fünfhundert Meter entfernt, und rollte nun auf das Haus zu.

Vom Überwachungsmonitor in seinem Schlafzimmer hätte David den ganzen Vorgang genauso gut beobachten können. Aber er zog es vor, diesen fremden Geschenkboten persönlich zu observieren, und das, ohne gesehen zu werden. Sich einen Vorteil zu verschaffen, schadete nie, sogar in den vergnüglicheren Belangen des Lebens. Und David war neugierig, zu erfahren, womit die Frauen der Rowe-Akademie ihm ihre Dankbarkeit zeigen wollten.

Das Auto fuhr um eine Reihe Ölweiden und kam näher. Die Fensterscheiben waren natürlich verdunkelt. David hatte schon immer alles fasziniert, was von ihm ferngehalten wurde, so etwas stellte eine positive Herausforderung für ihn dar. Seine Überwachungskameras konnten nicht in das Auto sehen. Eine seiner Firmen arbeitete bereits an optischen Linsen, die dieses Problem lösen sollten. Außerdem hatte David bereits eigene Mittel und Wege gefunden, sich gegen Industriespionage in seinen Laboren und auf seinem Anwesen zu schützen, unter anderem mit einer Erfindung, die Übertragungssignale blockierte. Einer der angenehmen Vorteile daran war, ein Wissenschaftler und Erfinder zu sein. Wenn man etwas brauchte, musste man nicht darauf warten, bis jemand anders es entwickelte.

Der Wagen bewegte sich im Schritttempo zum Eingangsbereich und hielt vor den Marmorsäulen, die die Stufen zur Tür säumten. Davids Aufmerksamkeit richtete sich auf die Hintertür, als der Fahrer um das Auto ging und sie öffnete. Die Beine des Fahrgasts schwangen heraus, wunderschöne Beine mit schlanken Unterschenkeln, die unter dem knielangen karierten Rock sichtbar wurden.

Nicht ganz so formvollendet, wie die Umstände es erfordert hätten, nahm sie die Hand des Fahrers an und stellte sich auf die Beine. Das vergaß David Grace schnell. Niemals hatte er so einen Anblick wie den dieser wunderbaren jungen Frau genossen, die aus dem Wagen stieg.

Unwillkürlich sprach er ihren Namen aus und die Kehle schien sich ihm zusammenzuschnüren. Seine Mundwinkel brannten. Er erkannte sie sofort: das Mädchen, das er in seinen Gemälden verewigt hatte, die Vierzehnjährige, die gestorben war, obwohl er alles getan hatte, um sie zu retten. Jetzt verstand er, was die drei Mädchen aus dem Internat getan hatten, und er verstand sogar, warum. Sein Dankeschön war eine fast perfekte Kopie von Ivy White.

Il Casa Tranquillo. Das war der Name auf den Eisentoren, die Matties Wagen passierte. Das Haus der Ruhe.

Das kann man kaum als Haus bezeichnen, dachte sie, während der Wagen vor der Eingangstür des Anwesens vorfuhr. Genau wie Grace' Villa in Italien war dieses Gebäude palastartig gestaltet. Das üppig mit Stuck dekorierte Herrenhaus hatte mehrere Flügel und ausladende Balkone. Von majestätischen Palmen war es umgeben, die auf die dunkelroten Dachziegel Schatten warfen.

Mattie ließ sich von dem Fahrer aus dem Wagen helfen. Niemand war zu sehen. Sie hatte keinen Diener erwartet, sondern dass sie vielleicht jemand an der Tür erwartete. Matties Nervosität steigerte sich, als niemand auf das Klingeln reagierte. Die Flügeltüren waren massiv. Dass eine von ihnen nur angelehnt war, erkannte Mattie bei genauem Hinsehen. Sollte sie hineingehen?

Einige Minuten lang wartete sie und fragte sich, ob sie in eine Falle gestolpert war. Im Haus mochte alles ruhig sein – Mattie nicht. Ihr Puls ging unregelmäßig, ihr Mund war trocken. Niemals hätte sie von dem Herzwein trinken dürfen, nicht einmal die winzige Menge auf ihrer Zungenspitze. Das Ritual verlangte es, und Mattie hatte gehofft, dass das die Magie der Zeremonie zurückbringen würde. Trotzdem war das Kraut hochgiftig und Matties Kreislauf daran nicht gewöhnt. Sie war nicht mehr so immun dagegen, wenn sie es überhaupt jemals gewesen war.

Sie läutete noch einmal und wartete auf eine Reaktion.

Du wirst keine andere Chance bei diesem Kerl mehr kriegen. Öffne die Tür und geh hinein. Tu überrascht, wenn jemand da ist.

Nachdem Mattie sie entschlossen aufgedrückt hatte, schwang die Tür langsam zurück und Mattie betrat eine große Halle, die aussah, als wäre sie extra so gestaltet worden, dass Sterbliche sich darin klein und unbedeutend vorkämen. Der riesige, zweistöckige Raum war leuchtend weiß gekalkt. Darin standen so viele Marmorstatuen, dass die Halle Mattie an einen Göttertempel erinnerte.

Von der Rückwand gingen Balkone ab, deren Marmorfassaden kunstvoll gestaltet und mit Gold ausgemalt waren. In der Mitte der Halle zierten zwei aufgebäumte Einhörner einen schwarzen Granitbrunnen. Wasser floss aus ihren Hörnern, und das Sonnenlicht schimmerte regenbogenfarben in den sich wie Schwerter kreuzenden Strahlen.

Mattie meinte, Schritte gehört zu haben, und drehte sich um. Hatte jemand den Raum betreten? Das plätschernde Wasser schien alle anderen Geräusche zu verschlucken.

"Entschuldigen Sie, dass ich nicht heruntergekommen bin, um Sie zu begrüßen."

Die Stimme eines Mannes erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine dunkle Gestalt zeichnete sich hinter dem Brunnen ab, und Mattie entdeckte eine große Treppe, die vom zweiten Stock in diesen höhlenartigen Raum führte.

Als David Grace die Stufen hinunterging und auf sie zukam, versteifte sich Mattie. In seinem weißen Seidenhemd und den Leinenhosen sah er extrem sympathisch aus, der perfekte Gastgeber. Dennoch hatte Mattie keine Ahnung, was sie erwartete, besonders wenn er die Scharade durchschaute und sie erkannte. Fast wünschte sie sich, dass die eisige Stille zurückkehrte und sie betäubte, damit sie die Furcht nicht mehr spüren müsste. Dann bemerkte Mattie seinen Gesichtsausdruck, ihr wurde klar, dass ihre Bemühungen gefruchtet hatten.

Breezes Make-up und Matties innerer Zauberer hatten sie verwandelt.

David Grace' intensiver Blick hätte eine der Statuen aus der Halle zum Leben erwecken können, Venus wahrscheinlich. Er schien wie in Trance. Schweigend musterte er Matties Aufmachung, von der blitzsauberen weißen Bluse und dem karierten Rock, einer Uniform der Rowe-Akademie, bis hin zu den italienischen Halbschuhen, die sie trug. Was Mattie in seinen Augen aufblitzen sah, war nicht so sehr männliches Verlangen. Es war Ehrfurcht. Er schien verzaubert zu sein von ihrem schüchternen Lächeln und ihrem ungelenken Versuch, verführerisch zu wirken, so als stünde er einer Märchenprinzessin gegenüber.

"Die einsamen Mädchen wollten sich bei Ihnen bedanken", sagte sie und hoffte, dass der Klang ihrer Stimme den Bann nicht bräche.

"Ich verstehe." Er brachte die Worte hervor, aber sie klangen rau. "Woher konnten sie das nur wissen?"

Sie zuckte die Schultern, als ob sie sagen wollte, dass sie keine Ahnung hätte. Wenn Mattie bedachte, dass sie Grace' Verhältnis zu Ivy gar nicht kannte, gab es keine sichere Antwort. Sie war ziemlich sicher, dass die Bilder Ivy abbildeten, aber Grace war nicht der Künstler, wie er angedeutet hatte. Das war Ivy selbst. Die Erkenntnis war Mattie in den Kopf geschossen, als sie Breeze und Jane von den Zeichnungen erzählt hatte. Traurige Gesichter hatten zu Schulzeiten Ivys Leidenschaft gegolten. Obwohl sie ihre Bilder niemandem gezeigt hatte, zweifelte Mattie nicht daran, dass es ganze Blöcke voll davon gab. Dass sie es nicht schon früher erkannt hatte, überraschte Mattie.

Sie zupfte an ihrem Haar und wünschte, sie könnte die wilden Locken einfach aus dem Gesicht schieben. Breeze hatte eine Perücke aus wunderschönem rotem Haar gefunden, die perfekt zu Ivys märchenhaftem Guinevere-Look passte. Außerdem hatte sie Kontaktlinsen in einer Farbe aufgetrieben, die dem Smaragdgrün von Ivys Augen ähnelten.

Das Make-up hatte für den Rest gesorgt, und Breeze war ein Genie, was das anging. Sie hatte sich selbst übertroffen. Mattie war jetzt Ivy White, erwachsen und bereit, auszugehen.

"Kommen Sie mit", sagte Grace und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Sie betraten einen Raum, der zwar kleiner als die Halle, dafür nicht weniger atemberaubend war. Die Decke war gewölbt, die Wände mit verschiedenen antiken Spiegeln behängt. Den Blickfang bildete ein Kamin aus glänzendem schwarzem Glas. Mattie erinnerte sich an all das Glas in Grace' Villa in Amalfi, und fragte sich, was dahintersteckte.

"Ich habe die Angestellten heute Abend bereits nach Hause geschickt", sagte Grace, "aber ich denke, ich schaffe es noch, uns einen Drink einzuschenken. Möchten Sie einen?"

Er hob eine Augenbraue und wartete verschmitzt lächelnd auf ihre Antwort. "Vielleicht sollte ich fragen, ob Sie alt genug sind."

Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Kragen ihrer Bluse, dann ließ Mattie den Finger an ihrem Hals entlanggleiten. "Alt genug wofür?"

Sein schwaches Lächeln veränderte sich nicht, als er zur Bar hinüberging und dort einen Drink einschenkte. "Was hätten Sie gern?"

Sie nahm das als Zeichen, weiterzumachen. David Grace pflegte vielleicht Fantasien von Schulmädchen. In Breezes Spa hatte er nie nach einem Schulmädchen verlangt. Stattdessen hatte er immer nach einer Frau gefragt, die wie eines aussah, also hoffte Mattie, dass es funktionieren würde. Sie spielte weiter mit ihrer Bluse und schlenderte auf ihn zu. Als sie nah genug war, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, begann sie, sich die Bluse aufzuknöpfen.

Als Grace ihr einen Blick zuwarf, wich das Lächeln aus seinem Gesicht. Matties Versuch, ihn zu verführen, schien ihn abzustoßen.

"Was für ein kranker Scherz soll das denn sein?"

Mattie stellte fest, dass sie sich verkalkuliert hatte. Entweder waren ihre Verführungskünste so schlecht, wie sie befürchtete, oder sie hatten sich alle verschätzt. Seine Besessenheit von Ivy war vielleicht nicht sexueller Natur.

Niedergeschlagen entschuldigte sie sich. "Es ist so warm heute Abend", sagte sie. "Ich wollte mich nur abkühlen."

"Was für einen Duft tragen Sie da? Ivy hat nie irgendwelches Parfum getragen."

"Mögen Sie J'Adore nicht? Ich wasche es ab."

"Ist schon in Ordnung", sagte er, aber seine Stimme klang immer noch kühl. "Lassen Sie mich die Drinks machen. Ich trinke einen Gin Tonic. Was ist mit Ihnen?"

"Das nehme ich auch." Mattie fand sich mit einem großen eisgekühlten Drink in ihrer Hand wieder und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Auf die verführerische Tour würde sie nicht an die Informationen kommen, die sie brauchte. Möglicherweise konnte sie eine Reaktion provozieren. Nur erschien es ihr so riskant, dass es schon fast lebensmüde war. Es konnte nur funktionieren, wenn er sich wegen Ivy so öffnete, dass er die Abwehrhaltung vergaß. Auch wenn das nicht zu ihrem ursprünglichen Plan gehörte, wollte Mattie alles über Miss Rowes Baby und den Tod seiner Frau wissen.

Um einen belastenden Beweis aufzutreiben, war Mattie nach Napa Valley gekommen – und vielleicht sogar wegen des Videos. Ein gefährlicher Plan, zum Glück war sie verkabelt. In Gestalt von John Bratton und einem seiner Männer hatte Mattie die Unterstützung des Secret Service. Einen Kilometer entfernt warteten sie, außerhalb der Tore dieses gigantischen Anwesens.

Den unangerührten Drink ließ Mattie auf dem Kaminsims stehen und ging zu einem der Spiegel hinüber, ein venezianisches Meisterstück mit einem Rahmen, der aussah, als sei er aus purem Gold gefertigt. "Sammeln Sie antike Spiegel?"

"Meine Frau. Sie hat sie gesammelt."

Seine Frau. Er hätte ihr eine andere Antwort geben können. Mattie musste achtgeben, sie wollte nicht zu forsch sein und es verderben. Einen weiteren Fehler durfte sie sich nicht leisten.

"Die Spiegel sind wunderschön. Der Kamin auch." Sie wandte sich Grace gerade rechtzeitig zu, um zu bemerken, dass jemand den Raum betreten hatte.

Eine junge Frau trat aus dem Schatten hinter Grace. In dem Bruchteil einer Sekunde hatte Mattie sie taxiert. Die Frau sah Ivy verblüffend ähnlich. Aber sie besaß nicht Ivys lockiges rotes Haar oder ihre verwunschene Schönheit, sie trug eine Kurzhaarfrisur; schwarze Wellen umrahmten ihr hageres Gesicht. Doch ihre Gestalt und ihre Figur ähnelten Ivys sehr. Und sie trug etwas in der Hand.

Mattie hatte gehofft, Grace würde sie für eine Art Geist halten. Stattdessen sah sie jetzt selbst einen. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber Grace schien die Anwesenheit der jungen Frau ebenfalls bemerkt zu haben. Vielleicht hatte er sie in einem der Spiegel gesehen.

"Tansy, leg die Waffe weg", befahl er. "Sofort."

Mattie fiel schlagartig die angehende Rechtsanwältin Tansy Black wieder ein. Wie viele Frauen hießen Tansy? Was zur Hölle war hier los? War sie hier, um Grace zu töten?

Bevor sie nicht die Beweise in Händen hielt, konnte Mattie das nicht zulassen.

Sobald Tansy ins Licht getreten war, merkte Mattie, dass die Pistole auf sie gerichtet war, nicht auf Grace.

Schützend stellte sich Grace vor Mattie, was Tansy wütend zu machen schien. Ihre Augen füllten sich mit zornigen Tränen, ihr Mund verzerrte sich.

"Was hat sie jemals für dich getan?", brach es aus ihr hervor wie aus einem verletzten Kind. "Nichts, außer sich umzubringen! Ivy war schwach. Sie war ängstlich, alles, was du hasst."

Tansy Blacks Stimme war nicht lauter als ein Flüstern. Erst als sie fortfuhr, sich über Ivy White zu beklagen, wurde Mattie klar, dass es hier nicht um eine romantische Eifersüchtelei ging. Sie war David Grace' Tochter. Und Ivys jüngere Schwester. Dass Tansy genauso besessen von ihr war wie Grace, begriff Mattie außerdem. Sie konnte nur vermuten, dass seine Schuldgefühle wegen des Selbstmords seiner älteren Tochter furchtbaren Neid in seiner jüngeren verursacht hatten. Und eine Psychose.

Tansy hatte ihre Fassung wiedergefunden, aber ihre Augen waren so kalt und dunkel wie das Glas des Kamins. "Ich habe für dich getötet", sagte sie. "Hat sie das getan? Hätte sie es tun können?"

Grace konnte kaum sprechen. "Tansy, wovon redest du? Für mich getötet? Das ist doch verrückt."

Tansys Gesicht lief rot an vor Wut, ihre Stimme war eisig. "Verrückt, ist es das, was du denkst? Hast du eine Ahnung, welche Risiken ich für dich auf mich genommen habe?"

"Risiken? Wovon redest du?"

"Du hast die Grenzen deines Einflusses erreicht, Vater. Geld kann dir deinen Traum nicht erfüllen. Aber ich kann ihn dir erfüllen. Ich kann dir die Anerkennung verschaffen, die du verdienst. Weil ich keine Angst habe. Vor gar nichts."

Sie zeigte auf ihr Spiegelbild. "Sieh mich an. Du sagst, ich bin alles, was du dir jemals von einem Kind gewünscht hast. Alles, was dein Vater jemals in dir gesehen hat. Furchtlos, ehrgeizig, ich nehme mein Schicksal selbst in die Hand. Und deines auch."

Sie drehte sich zu ihm. Inzwischen war ihre Stimme wieder zu einem Flüstern geworden, doch nichts konnte die Qualen verstecken, die jedes Wort durchdrangen. "Warum bist du nicht dankbar? Warum liebst du mich nicht? Warum hängst du immer noch so an Ivy, als könntest du sie zum Leben erwecken?"

Grace antwortete nicht. Mattie war ebenfalls so überrascht, dass sie kein Wort herausbrachte. Tansys Flüstern klang vertraut. Vielleicht hatte sie Mattie in der Limousine angerufen und gewarnt, dass Jameson sterben würde.

In einer Art Schockzustand hörte Mattie zu, wie Tansy über die Messlatte wetterte, die Grace sich und seinen Töchtern gesetzt hatte. Darüber, wie sehr er Angst und Verletzlichkeit hasse, alles, was Ivy verkörpert habe. Wie er sie immer wieder getestet habe, um ihre mentalen und körperlichen Kräfte zu messen, weil er Roboter hatte haben wollen, keine Töchter. Wie sie nach edlen Weinsorten benannt worden seien und wie er seine Kinder gezwungen habe, vor Schulbeginn neue Nachnamen anzunehmen, damit sie durch ihren echten Nachnamen keinen Vorteil hätten.

"Ich habe Black gewählt, weil Ivy, die Heilige, sich für White entschieden hatte." Tansys Stimme brach und wurde zu einem Schluchzen, das von Wut erfüllt war. "Aber nichts hat mich so sehr verletzt wie die Tatsache, dass du mich für den Tod meiner eigenen Mutter verantwortlich gemacht hast."

"Deine Mutter starb bei deiner Geburt", sagte Grace. "Ich habe dir daran nie die Schuld gegeben."

"Nein, aber du hast zugelassen, dass ich mich für schuldig hielt! Und dann hat sich Ivy das Leben genommen."

"Auch daran trägst du keine Schuld."

"Warum hast du mich dann nicht getröstet? Warum hast du dich nicht mit mir hingesetzt und mit mir geredet? Du warst zu niedergeschlagen, um zu merken, dass ich existierte. Ich hatte einen Vater, der mir nichts geben konnte, noch nicht einmal als Säugling."

"Tansy, es tut mir leid."

"Tut es dir leid, dass du nie von meiner Mutter gesprochen hast? Dass du all deinen Kummer auf Ivy konzentriert hast und mir das Gefühl gegeben hast, dass ich meiner wunderschönen älteren Schwester nie ebenbürtig sein könnte?" Tansy stieß die Worte inzwischen mit einem hysterischen Unterton hervor.

"Das ist nicht wahr", beharrte er.

"Oh, aber es war so. Der einzige Weg, deine Aufmerksamkeit zu erlangen, war, alles zu sein, was Ivy nicht war. Ich musste ihr extremes Gegenteil sein."

Ihr extremes Gegenteil, wiederholte Mattie in Gedanken. Tansy war eine gemeingefährliche Mörderin, während Ivy keiner Fliege etwas hätte zuleide tun können. Außerdem lag Tansy falsch. Sie glaubte, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben sei. Die Aufzeichnungen belegten etwas ganz anderes – Cynthia Grace war nicht schwanger gewesen, als sie starb.

Tansy entsicherte die Pistole, ein Geräusch, das von den Glasflächen im Zimmer widerhallte. Ein Lächeln umspielte Tansys Mundwinkel, als sie einen Schritt auf ihren Vater zuging.

"Die Leute halten mich für den guten Samariter, weil ich William Broud vor dem Todesurteil gerettet habe", sagte sie, "tatsächlich habe ich es für dich getan. Es gab keinen anderen Weg, um Jane Mantle mit dem Mord in Verbindung zu bringen und ihren Ehemann aus dem Weißen Haus zu zwingen."

"Wer hat Broud denn getötet?"

Grace stellte die Frage, über die Mattie gerade nachdachte.

Nichts als Verachtung spiegelte sich auf Tansys Gesicht. "Soweit es mich betrifft, hat er sich selbst getötet. Broud hat alles, was ich für ihn getan habe, als selbstverständlich hingenommen. Und er hat sein Versprechen gebrochen, Stillschweigen zu bewahren. Als ich meine Hausarbeiten erst mal erledigt hatte, war es ein reines Kinderspiel. Sein Tod war ein weiteres willkommenes Mittel, um Jane und ihre Freundinnen reinzureiten, deshalb habe ich auch das gleiche Gift benutzt wie bei Millicent Rowe. Nicht schlecht, oder?", fragte sie ihren Vater. "Ich bin immer einen Schritt voraus."

Geradezu versteinert, blieb Grace stumm. Entweder hatte er nicht gewusst, dass seine Tochter für ihn einen Mord begangen hatte, oder er hatte es verdrängt. In jedem Fall genoss Tansy jetzt seine volle Aufmerksamkeit.

"O'Neill musste sterben, nachdem seine Erpressung bekannt wurde", erzählte sie ihm. "Das hast du doch sicher verstanden? Wie hättest du dich danach noch freikaufen können? Und jemand musste sich ja das Videoband holen."

Grace konnte nichts tun, außer seine Tochter anzustarren.

"Es ist in Ordnung", beruhigte sie ihn. "Niemand wird erfahren, dass du in diese Geschichte verwickelt bist. Ich habe dafür gesorgt, dass es wie Selbstmord aussah."

"Tansy, nein … Es ist doch nicht wahr, was du da sagst. Das kann nicht wahr sein!"

"Oh, und ob es das ist. Es war leicht, Vater, so verdammt leicht. Ich habe ihm eine Pistole an den Kopf gehalten und ihn gezwungen, die Schlaftabletten mit Scotch hinunterzuspülen. Wie ein Baby hat er geheult, aber er hat es getan. Ich habe ihm das Gegenmittel, den Brechwurzelsirup, erst gezeigt, als er alles geschluckt hatte. Ich habe ihm versprochen, dass ich es ihm gebe, wenn er mir das Video aushändigt. Natürlich hab ich mich nicht daran gehalten."

"Oh Gott, Tansy."

"Was hast du erwartet? Mir gegenüber hast du zugegeben, dass dich Menschen bedrohen und erpressen. Hast du gedacht, ich unternehme nichts dagegen?"

Grace flehte sie an, aufzuhören. Tansy schien nicht stoppen zu können.

"Ich bin ans Telefon gegangen", sagte sie, "und habe mitgehört, wie ein Mann dich bedrohte. Das war am Tag nach meinem sechzehnten Geburtstag. Es hat zwei Wochen gedauert, bis ich den Mut aufbrachte, mit dir darüber zu reden, aber du hast mir die Wahrheit gesagt. Du hast zugegeben, dass du mit der Direktorin von Rowe eine Affäre hattest. Und als Jane Dunbar zu dir kam, hast du ihr geholfen, den Mord zu vertuschen. Du hast gesagt, dass der Staatsanwalt dich erpresst und du keine andere Wahl hättest, als zu zahlen."

Während Tansy sprach, veränderte sich ihre Miene langsam. Ihre Augen leuchteten wie die eines stolzen Kindes, ihre Stimme wurde weicher.

"Erinnerst du dich? Du hast mir mal gesagt, dass die schlimmen Dinge, die man erlebt, immer eine Lehre enthalten. Eine Lektion, die ich lernen müsse, hast du gesagt, und jetzt könnte genau so ein Moment gekommen sein. Du hast mir vorhergesagt, dass die Leute versuchen würden, mich zu übervorteilen, weil ich deine Tochter sei, und dass ich das nicht zulassen dürfe. Ich habe förmlich an deinen Lippen gehangen. Und trotzdem war alles, woran ich denken konnte, das, dass jemand meinen erhabenen Vater übervorteilte. Ich war nur ein Kind, aber ich wusste genau, was ich tun würde. Das Problem für dich lösen, natürlich. Was hätte ich sonst in einer Situation tun sollen, aus der du dich selbst nicht befreien konntest?"

Tränen stiegen in Grace' Augen. "Tansy, mein Gott, warum hast du nicht mit mir geredet? Warum haben wir uns nie unterhalten?"

Ihr Lächeln war matt, traurig. "Ja, warum eigentlich nicht?"

Sogleich ließ Tansy den Gedanken fallen und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Jetzt spielt es keine Rolle mehr, denn ich habe mich bereits darum gekümmert. Ich, ich war diejenige, die das Problem gelöst hat. Jemand hätte Frank O'Neill bereits vor langer Zeit unschädlich machen sollen. Er hat dich erpresst."

"Ich weiß", erwiderte Grace. "Ich weiß das. Ich hatte keine Ahnung, dass du solche Risiken für mich eingegangen bist. Und jetzt, bitte, Tansy, möchte ich, dass du noch etwas für mich tust."

Seine Hand zitterte fast unkontrolliert, als er sie Tansy entgegenstreckte. "Gib mir die Pistole."

Misstrauisch beäugte sie ihn. "Komm doch her und hol sie dir", rief Tansy plötzlich verächtlich. "Du glaubst mir nicht. Du willst sie nur in Sicherheit bringen."

Sie warf Mattie einen abschätzigen Blick zu. "Merkst du denn nicht, dass die Frau, die du beschützt, Theater spielt? Beschützt du sie, weil sie wie Ivy aussieht? Wie lächerlich ist denn das? Du begreifst überhaupt nicht, was ich getan habe. Du bist bereit, alles zu ruinieren."

Ihre Stimme wurde zu einem Kreischen. "Das bist du doch, oder nicht?"

"Um Himmels willen, Tansy", flehte Grace, "lass sie gehen. Sie hat nichts Unrechtes getan."

"Natürlich hat sie das. Mattie Smith ist eine Feindin. Sie muss jetzt – hier! – sterben, sonst werde ich ins Gefängnis gehen, und du wirst niemals deine Ziele erreichen."

"Tansy, nein."

"Ich kann es tun. Glaubst du mir nicht? Ich beweise es dir, Vater. Sieh zu, wie ich sie töte."

Einen grauenhaften Schrei ausstoßend, richtete sie die Pistole auf Mattie und drückte ab.