14. KAPITEL

San Rafael, Kalifornien

Sommer 2005

Das einst so stylische "Excelsior" ähnelt mehr einem Stück gammligem Fleisch auf einem Ameisenhaufen als einem Hotel, dachte Jameson. Umgeben von Pfandleihen und Sexshops, war das heruntergekommene Gebäude ein weiteres Symptom von städtischem Verfall und ökonomischem Versagen.

Jameson Cross war in einer Dreizimmerwohnung in einer soliden Mittelklasse-Gegend aufgewachsen, fünfzehn Minuten südlich von diesem Ort. Er konnte sich noch erinnern, dass das "Excelsior" eine Topadresse für Geschäftsleute und Politiker im Wahlkampf gewesen war. Aber das lag über zwanzig Jahre zurück, bevor alle an die Küste zogen oder in die teuren Gegenden von Sausalito und Tiburon.

Heute würde niemand mehr freiwillig im "Excelsior" absteigen – und Jameson hatte ebenfalls kein gesteigertes Interesse daran, sich dort aufzuhalten. Aber er wollte eine wichtige Verabredung einhalten.

Die Eisenverstrebungen der gläsernen Eingangstüren waren rostig. Offenbar hatten sie ihre Funktion sowieso eingebüßt, denn die Türen standen offen. Jameson trat ein und stieg die Treppen bis in den fünften Stock hinauf. Irgendwo im Gebäude hörte er ein Baby schreien und einen Hip-Hop-Song aus einer Box dröhnen. Plötzlich knallte eine Tür laut, und die Geräusche wurden leiser. Jameson las im Vorbeigehen die Zahlen an den Zimmertüren und schritt den Flur hinunter bis zu der Tür, hinter der sich seine Erwartungen erfüllen sollten: Hoffnung, Neugierde, sogar Angst – seine Gefühle erstaunten ihn selbst.

Niemand reagierte auf sein Klopfen, also drückte er die Klinke hinunter. Die Tür ließ sich nicht bewegen, scheinbar war sie durch einen Riegel gesichert. So schwierig zu knacken, wie die meisten Menschen sich vorstellten, waren Türschlösser nicht. Jameson hatte Erfahrung.

Er klopfte erneut. Nach dem dritten Versuch war seine Entscheidung gefällt.

Beim Schreiben über Kriminalfälle hatte er über die Jahre viele nützliche Tricks gelernt, einer davon war das Knacken von Türschlössern. In seiner Brieftasche trug Jameson stets einen winzigen Schraubenzieher und eine strapazierfähige Büroklammer mit sich. Er benutzte eine Technik, die man Schrubben nannte und die es erforderlich machte, alle Halterungen im Schloss auf einmal unter Druck zu setzen. Einen fünffach verschraubten Bolzen konnte er so leicht aushebeln. Glücklicherweise hatte er es jetzt mit genau so einem Schloss zu tun.

Sobald er entschieden hatte, wie viel Krafteinwirkung nötig sein würde, begann er. Nach zwei Minuten hatte er die Schrauben gelöst und das Schloss ausgehebelt. Viel zu lang für einen Einbrecher. Für seine Zwecke reichte es.

Das Bett, in dem jemand geschlafen hatte, und der Fußboden waren mit Kissen und Decken bedeckt. Eine leere Wasserflasche lag auf dem Boden neben dem Papierkorb, auf dem Nachttisch befanden sich zusammengeknüllte Verpackungen von Schokoriegeln. Davon abgesehen, konnte Jameson nichts von einem Bewohner entdecken.

Nach einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass er etwas früh dran war, und entschloss sich, wieder hinauszugehen, um in der Eingangshalle zu warten. Das Treffen war auf zwölf Uhr angesetzt. Und das Letzte, was Jameson wollte, war, zu früh als unwillkommener Gast einzutreffen. Das hier war zu wichtig. So viel von Jamesons Vergangenheit steckte in diesem Raum.

Als er gehen wollte, bemerkte er, dass die Tür zum Badezimmer nur angelehnt war. Unfähig zu begreifen, was er sah, blieb Jameson stehen. Der nackte Fuß eines Mannes lugte hinter der Badezimmertür hervor. Dort lag jemand auf dem Boden, Jameson reagierte wie jeder Zeuge eines furchtbaren Unfalls. Sogar als er auf die Tür zuging, wollte er nicht hinsehen.

Verzweiflung, Furcht. Die Hoffnung zerriss ihm das Herz.

Er war schweißgebadet.

Als die Tür gegen einen menschlichen Körper prallte, stieß Jameson einen verzweifelten Seufzer aus. Er quetschte sich durch die Öffnung und sah einen großen, schlaksigen Mann auf dem Boden liegen. Wie ein Kind hatte er sich um das Toilettenbecken zusammengerollt. Es sah aus, als ob er friedlich schliefe, aber als Jameson sich zum Boden beugte und sich neben ihn kniete, konnte er eine Grimasse sehen. Es war nichts Friedliches. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.

"Oh Gott, Billy", flüsterte er. "Was hast du getan?"

Jameson berührte das blauschwarze Haar seines Bruders, das Einzige, was die Geschwister gemein hatten, abgesehen von ihrer Größe. Er strich über das kalte, unbewegliche Gesicht und prüfte, ob er atmete.

Er tat es nicht. Billy Broud war gestorben. Er war aus dem Todestrakt entlassen worden, nur um in einem dreckigen Hotelzimmer unweit der Gegend zu sterben, in der er aufgewachsen war – dem gleichen Ort, in dem er verunglimpft und fälschlich wegen Mordes verurteilt worden war.

Jameson war, als zerbräche sein Herz. Mehr als zwanzig Jahre ungeweinter Tränen brannten in seinen Augen und in seiner Kehle. Die Familie hatte Billy schon Jahre vor seiner Verurteilung enterbt. Mit dem Vater war er nie ausgekommen, einem humorlosen Vertreter für Lebensversicherungen, der sonntagmorgens in der Nachbarschaftskirche zu predigen pflegte. Als Billy ein Teenager war, schwänzte er regelmäßig die Schule, experimentierte mit Drogen und kam mit dem Gesetz in Konflikt. Mit sechzehn wurde er, nachdem er die Frau eines Nachbarn geschwängert hatte, als reueloser Sünder von zu Hause verstoßen.

Was Jameson am meisten bedauerte, war, dass er damals ebenfalls den Kontakt zu Billy abgebrochen hatte. Er hatte sich auf die Seite seines strengen Vaters gestellt und sich von seinem Bruder abgewandt, als Billy ihn am nötigsten brauchte. Kein Familienmitglied war während der Verhandlung im Gerichtssaal erschienen. Jameson wusste, dass er einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Er schrieb Billy und wollte ihn in San Quentin besuchen. Aber Billy hatte angefangen, sich William zu nennen, und leugnete, dass er einen Bruder hatte. Er hatte keine Familie.

Jameson hatte sich geschworen, zu Billy durchzudringen und ihn um Vergebung zu bitten. Jetzt war es zu spät.

Er setzte sich und zog das Handy aus seiner Jackentasche. Tränen ließen seinen Blick verschwimmen. Die Zahlen auf der Tastatur konnte er nicht erkennen. Er schluckte den Schmerz hinunter, der in seiner Kehle saß. Alles, was er tun wollte, war den Notruf zu wählen, aber seine Finger versagten ihm den Dienst.

"Warum hier, Billy? Warum ausgerechnet in dieser stinkenden Absteige?"

Jameson konnte keine Anzeichen für Mord erkennen. Er fürchtete, dass sein Bruder sich das Leben genommen hatte. Über mögliche Gründe, die Billy zu diesem Zeitpunkt zum Selbstmord getrieben hatten, wollte er nicht nachdenken. Er war ein freier Mann. Das war ein Anfang, kein Ende. Er hatte alles vor sich gehabt.

Was hatten sie seinem Bruder da drinnen angetan?

Das Telefon fiel auf den Boden. Jameson sackte gequält in sich zusammen und sank neben seinen Bruder auf den Boden.

QUUIIIETSCH KLANG KLONG.

Der ohrenbetäubende Lärm ließ Jameson aus einem unruhigen Schlaf hochschrecken. Er sprang aus dem ledernen Lehnsessel, in dem er gedöst hatte, und ließ den Blick in der Erwartung, einen bewaffneten Eindringling zu entdecken, durch sein Wohnzimmer schweifen. Es klang, als ob jemand sich Zutritt zum Haus verschaffen wollte.

Post? Er blinzelte und bemerkte einen großen, braunen Briefumschlag auf dem Boden vor der Eingangstür. Wie spät war es? Die Post wurde normalerweise gegen Mittag ausgeliefert, und den weichen, pfirsichfarbenen Strahlen nach zu urteilen, die durch das Oberlicht hereinfielen, würde die Sonne bald untergehen. Seine Uhr zeigte auf sieben Uhr abends. Konnte es schon so spät sein? Als er vom Krankenhaus heimgekommen war, hatte er es sich im Sessel bequem gemacht, körperlich und emotional erschöpft. Er musste eingeschlafen sein.

Jameson schielte auf den Umschlag, der deutlich als Kuriersendung gekennzeichnet war. Wahrscheinlich von seinem Verleger.

"Schon wieder ein Poststreik", murmelte er und schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Den Umschlag ließ er liegen und bewegte sich auf die Küche zu. Kaffee. Er bezweifelte, dass das seinen pochenden Schläfen guttun würde, aber er brauchte einen Wachmacher. Der Schlaf hatte die scharfen Kanten des Schmerzes etwas gemildert, aber Jameson konnte nicht ewig schlafen.

Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, war die Metallklappe seines Briefschlitzes gewesen. Es schepperte wie ein Donnerhall, wenn die Post durchgeschoben wurde. Hätte Jameson eine Pistole besessen, er hätte sie aus Reflex gezogen. Der Postbote hatte Glück gehabt.

In der Jackentasche suchte Jameson nach seinem Handy und stellte fest, dass er komplett angezogen war. Er musste in den Sessel gefallen sein, ohne auch nur den Mantel auszuziehen. Dieser Tag erschien ihm wie ein verschwommenes rotes Etwas. Billy war ins Krankenhaus gebracht und für tot erklärt worden, ohne dass einer der Ärzte die Ursache hatte feststellen können. In der Zwischenzeit hatte sich Jameson abgeschottet. Er tat einfach so, als nähme er am Geschehen teil.

Die Polizei wurde benachrichtigt, und Jameson erzählte alles, was er wusste. Außer der wahren Bedeutung der Nachricht, die sein Bruder ihm auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Jameson war sicher, dass Billy während all der Jahre im Gefängnis etwas verschwiegen hatte und es ihm deshalb so wichtig gewesen war, mit seinem Bruder über den Mord im Internat zu sprechen.

So, wie der Anruf geklungen hatte, war Billy bereit gewesen, das Schweigen zu brechen. Vielleicht hatte ihn das in Gefahr gebracht. Aber als die Polizei Jameson fragte, ob er jemanden kenne, der es auf seinen Bruder abgesehen habe, verneinte er und beließ es dabei.

In seiner Küche dominierte Edelstahl, der dank des Reinigungsteams fleckenlos sauber war – und dank der Tatsache, dass die Küche kaum benutzt wurde. Normalerweise befriedigte das seinen Ordnungssinn. Heute Abend wirkte sie kalt. Alles wirkte kalt.

Er öffnete zwei oder drei verchromte Dosen, bevor er den Kaffeebehälter fand. Vielleicht solltest du die Dosen mal mit Aufklebern versehen, du Genie, dachte er, während ihm der aromatische Geruch von starkem kolumbianischem Kaffeepulver in die Nase stieg. Er hatte auch die exotischeren Sorten ausprobiert, aber er wollte kein Dessert, er wollte eine Droge. Kaffee musste einfach bitter sein und einem einen Schlag in die Magengrube versetzen.

Seine Gedanken wanderten zurück zu seinem Bruder, als er den Behälter der Kaffeemaschine mit Leitungswasser füllte und Pulver in den Filter häufte.

In Wirklichkeit war Billy ihm ein einziges Rätsel, so wie offensichtlich allen anderen auch. Jameson hatte den Geschichten nie geglaubt, dass Billy verrückt wäre. Trotzdem wusste er so wenig über das Innenleben seines Bruders, dass er nicht verstehen konnte, warum er dreiundzwanzig Jahre seines Lebens stillschweigend in einem Gefängnis vergeudet hatte, obwohl er nichts verbrochen hatte. Warum hatte Billy nicht wenigstens auf seiner Unschuld beharrt, so wie jeder andere Todeskandidat auch? Außerdem verstand Jameson nicht, wieso er sich das Leben genommen haben sollte, nachdem er endlich in Freiheit war. Aber wenn er eine Bedrohung für den wahren Mörder darstellte, konnte das sein Verderben gewesen sein. Das ergab einen Sinn.

Jameson goss sich einen Becher tiefschwarzen Kaffee ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Glücklicherweise hatten ihn die Polizeibeamten nicht erkannt, deshalb hatte er ihnen seinen echten Namen genannt, James Broud – und nicht das Pseudonym, unter dem er bekannt war. Billys Tod würde in die Schlagzeilen geraten, und Jameson wollte in diesem Zusammenhang und zu diesem Zeitpunkt nicht im Scheinwerferlicht stehen. Er hatte die Polizei auch über die Beziehung zu seinem Bruder belogen und behauptet, dass sie ein enges Verhältnis gehabt hätten.

Nachdem er den Papierkram erledigt hatte, musste er entscheiden, was mit den Überresten seines Bruders geschehen sollte. Anschließend war er in eine überfüllte, laute Kneipe gegangen, wo ein großes Tennisspiel übertragen wurde. Dort hatte er so lange Bier getrunken, bis ihn der Gedanke an den Heimweg nicht mehr verzweifeln ließ.

Stille. Er konnte sie nicht ertragen. Diese Stille erinnerte ihn an seinen verlorenen Bruder und an all die Jahre, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen … die eine Ewigkeit waren, jetzt, da Billy nicht mehr zurückkommen würde.

Mitten im Wohnzimmer stand er zwischen glatten, armlosen Lederliegen und Bänken. Einige Sekunden lang hielt er nur den heißen Kaffee fest in der Hand. Erst als die Haut zu heiß wurde, meldete sich sein Nervensystem und schaltete um. Der Überlebenstrieb wahrscheinlich. Das Leid überkam ihn auf einmal, überwältigend und machtvoll wie ein Tsunami. Wenn er es zuließe, würde er überschwemmt und ganz nach unten gezogen werden.

Dann fiel ihm der Umschlag wieder ein. Jameson drehte ihn mit dem Fuß um und warf einen Blick auf den Absender. Das "Excelsior"? Er stellte den Becher ab, griff nach dem Umschlag und riss ihn auf. Einige Papierschnipsel und etwas Stoff fielen ihm entgegen.

Der Umschlag war voller Papierfetzen, vielleicht Hunderte, auf die mit etwas geschrieben war, das wie rote Tinte aussah. Blut? Jameson erkannte Stücke einer zerrissenen Papiertüte, die mit einem scharfen Objekt beschrieben waren, aber er konnte es lesen. Auf einigen konnte er die Unterschrift seines Bruders ausmachen.

Hatte Billy ihm das geschickt?

Jameson überprüfte den Poststempel. Es war am selben Tag losgeschickt worden, an dem Billy die Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte – gestern. Im Dämmerlicht setzte sich Jameson auf den Fußboden und versuchte, die Schnipsel zu ordnen. Was er las, wirkte auf ihn wie Auszüge aus Billys Qualen im Gefängnis. Er konnte keine Ordnung erkennen, aber genauso unmöglich war es ihm, die Notizen wegzulegen. Er verschlang die Schnipsel geradezu, besessen von dem Wunsch, herauszufinden, was sein Bruder zu sagen hatte. Der Magen zog sich ihm zusammen, als er las; er brannte vor Neugier und Furcht.

Auf jeden Fetzen hatte Billy ein paar kryptische Worte gekritzelt, vielleicht, um die Bedeutung absichtlich unkenntlich zu machen, für den Fall, dass die Notizen gefunden werden sollten. Aber Jameson bemerkte das Wort "hereingelegt" auf fast jedem Schnipsel und nahm an, dass das der Kern von Billys Anstrengungen war. Er erklärte seine Unschuld und wollte enthüllen, wer ihm das angetan hatte.

Etwa ein Drittel der Notizen hatte Nummern, ein Viertel trug ein Datum, und der Rest war komplett ungeordnet. Es schien, als habe Billy mit einer Methode angefangen und sei dann zu einer anderen gewechselt, die ihm einfacher schien, um seine Eintragungen zu sortieren.

Als Jameson begann, alles chronologisch zu sortieren, erkannte er eine bestimmte Ordnung. Jedes Papierstückchen trug das Wort "hereingelegt", aber es waren die anderen Worte, die ihn fesselten.

Hab sie nicht getötet.
Sie haben sie gehasst. Sie waren es.
Krank bis in die Seele. Geheimnisse.
Augen wie Äther. Haar wie Feuer. Kalt wie Stein.
Kleines blondes Biest.
Finde die Mädchen. Sie waren es.
Konnte sie nicht schützen.
VIPs. Hohe Tiere, alle.
Videobänder. Eines fehlt.
Vergiftet.
Todesdrohungen. Jeden Tag!
Hereingelegt!
Meinen Bruder töten. Kann ich nicht zulassen.
Schweige.
Schütze ihn.

Jameson las weiter, aber seine Gedanken waren bei den Todesdrohungen hängen geblieben. Billy war bedroht worden? Das würde sein langes Schweigen erklären. Aber es klang, als hätte nicht Billy unmittelbar Gefahr gedroht. Gütiger Himmel, sein Bruder hatte ihn beschützt. Jameson konnte das kaum ertragen, besonders weil er nichts getan hatte, um Billy zu schützen. Fast wollte er es nicht wahrhaben.

Er setzte sich ein Stück zurück, um sich zu sammeln. Die Schuldgefühle konnte er nicht lindern oder Fehler wiedergutmachen. Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er an der Vergangenheit nichts ändern konnte, und wenn er sich von den Gefühlen verschlingen ließ, würde er niemals wieder aus dem Loch von Scham und Trauer herauskommen.

Erlösung würde er nur finden, wenn er weitermachte – wenn er dem mordenden Abschaum auf die Spur käme, der für die Geschehnisse verantwortlich war, und Billy so Gerechtigkeit widerfahren ließe. Das war das Einzige, was Jameson tun konnte. Das würde sein Weg sein.

Er zwang sich, einen weiteren Blick auf die zerstückelte Nachricht zu werfen, und konzentrierte sich auf die Bemerkungen, die Billy bezüglich der Person gemacht hatte: Augen wie Äther, Haar wie Feuer, kalt wie Stein, kleines blondes Biest.

Das konnte nicht nur eine Frau sein, überlegte er. Billy sprach von zwei unterschiedlichen Haarfarben. Also zwei Frauen? Oder mehr? Möglicherweise hatte er auch nur die hervorstechenden Merkmale von jedem der vier einsamen Mädchen genannt. Augen wie Äther hieß blau, nahm er an, und das konnte Mattie Smith sein. Rotes Haar – wie Feuer – hatte Ivy White gehabt. Als die Direktorin ermordet wurde, war Ivy jedoch nicht mehr am Leben gewesen. Kalt wie Stein. Wer das sein sollte, wusste Jameson nicht. Aber aus allem, was er gelesen und gehört hatte, schloss er, dass sein Bruder Breeze Wheeler mit dem kleinen blonden Biest gemeint hatte. Blieb nur Jane Dunbar übrig. Kalt wie Stein.

Wieder und wieder sah sich Jameson die Fetzen an und ordnete sie neu.

Finde die Mädchen. Sie haben es getan. Videobänder. Eines fehlt.

Das war die Botschaft.

James sprang auf und atmete so tief wie möglich ein. Sein Haus war jetzt fast dunkel. Er sollte ein paar Lichter anmachen, aber die Schatten, die aus jeder Ecke krochen, passten besser zu seiner Stimmung. Dunkelheit umhüllte ihn, und er tat nichts dagegen. Mit den trüben Gedanken wollte er besser im Finsteren sitzen.

In seinem Inneren tobte es. Vielleicht wollte er nicht, dass es die vier Mädchen gewesen waren. Damals waren sie Kinder, Schülerinnen. Vielleicht wollte er nicht, dass sie es getan hatte, diese verrückte Richterin. Aber es schien, als sei Billy überzeugt von ihrer Schuld an Millicent Rowes Tod, und das Videoband würde es beweisen.

Das bedeutete, dass er Beweisstücke besorgen musste, die weder erbettelt, noch geborgt oder gestohlen werden konnten. Ob Mattie Smith dafür gesorgt hatte, dass die Aufzeichnungen seit all den Jahren unter Verschluss gehalten wurden?

Wenn Billy recht hatte, dann kannte Jameson die Mörder bereits. Er musste es nur beweisen. Aber eine andere Frage lag ihm fast noch schmerzhafter auf der Seele. Wenn die einsamen Mädchen ihre Direktorin getötet und seinen Bruder hereingelegt hatten – hatten sie dann auch Billy umgebracht, um ihn ruhigzustellen?

Jameson starrte auf die Papierfetzen auf dem Fußboden.

Herr im Himmel, töteten die jeden, der sich ihnen in den Weg stellte? Wer würde der Nächste sein?