29. KAPITEL

"Jane, was ist das für ein grässliches Geräusch?"

"Das ist eine gesicherte Verbindung, Breeze. Du hörst ein Äquivalent zum weißen Rauschen im Hintergrund. John Bratton hat mir das hier in meinem Büro eingerichtet."

Breeze lag nackt auf dem tragbaren Massagetisch, das Handy ans Ohr gepresst, während ein gebräunter Masseur an ihrer Achillessehne arbeitete. Sie würde nie wieder zum Arzt gehen, hatte sie beschlossen. Die Hände dieses Kerls waren die Antwort auf alle Lebensfragen. Was würde er wohl tun, wenn er wüsste, mit wem ich telefoniere, ging es Breeze durch den Sinn.

Sie lächelte. Ein interessantes Leben führte sie. Komisch, dass sie immer noch so ruhelos war, hungrig beinahe, wie ein Kind, das den Kühlschrank durchstöbert und sich nicht entscheiden kann.

"Hast du von Mattie gehört?", fragte Jane. "Ich kann sie nicht erreichen, und der Autopsiebericht von William Broud ist da. Mit keinem guten Ergebnis."

Während Jane erklärte, dass Broud auf die gleiche Weise wie die Direktorin gestorben sei, signalisierte Breeze dem Masseur, dass er ihr die Fernbedienung für den Fernseher bringen solle. Sie schaltete CNN an und wartete darauf, etwas über den Fall zu sehen. Glücklicherweise war sie im Schlafzimmer ihrer Suite im "Vier Jahreszeiten" und hatte alles, was sie brauchte, zur Hand.

Während Jane in das eine Ohr sprach, lauschte Breeze den Nachrichten mit dem anderen. Broud sei erstickt worden, sagte der Moderator, und eine exotische Kräutersubstanz sei in seinem Blutkreislauf gefunden worden. Es klang nicht so, als hätte die Polizei einen Zusammenhang zwischen den beiden Morden hergestellt. Noch nicht.

Plötzlich verzog Breeze vor Schmerzen das Gesicht. Entweder hatte der Masseur einen empfindlichen Fleck erwischt, oder sie hatte sich verspannt.

"Breeze, bist du noch da?"

"Ich bin da", antwortete Breeze. Sie konnte Jane schlecht sagen, was sie dachte, solange eine dritte Person anwesend war. Aber Jane hörte ihr sowieso nicht zu. Für sie war es offensichtlich, dass jemand die Morde miteinander in Verbindung bringen wollte. Von Zufällen könne hier keine Rede mehr sein, hielt sie fest, und jetzt bräuchten sie dringend einen Plan, um den Schaden zu begrenzen.

Noch ein empfindlicher Punkt. Breeze stöhnte und griff nach einem Glas Champagner, in der Hoffnung, dass das ihren Schmerz lindern würde. Der Masseur hatte den Eiskübel direkt neben dem Massagetisch aufgestellt.

"Was ist bei dir los, Breeze? Was machst du gerade?"

"Ich lasse mich massieren."

"Eine Massage? Du lässt dich massieren, während Mattie ihr Leben riskiert und ich versuche, die Präsidentschaft meines Mannes zu retten? Was denkst du dir bloß dabei?"

Kleine Bläschen kitzelten an Breezes Nase, als sie an dem Champagner nippte, und sie hätte fast geniest. "Ich denke, dass du dir auch etwas Entspannung gönnen solltest. Also, von was für einem Plan hast du gesprochen?"

"Der Plan ist, nichts zu tun, bis wir von Mattie hören."

"Das hältst du wirklich für einen guten Plan? Warum soll ich sie nicht suchen? Sie ist seit fast vierundzwanzig Stunden verschwunden, oder? Das ist lang genug, um sie offiziell als vermisst erklären zu lassen."

"Breeze", sagte Jane ernst, "halt dich da raus. Lass dich massieren. Am besten zweimal hintereinander. Es ist schlimm genug, dass Mattie weg ist."

"Von mir aus." Breeze setzte ihr Glas auf dem Tisch ab, ein bisschen gekränkt, weil Jane ihr eine so deutliche Abfuhr erteilt hatte. Natürlich gab es auch noch andere Dinge in ihrem Leben. Die VIP-Kunden ihres Spas fragten häufig nach ihr, und der Geschäftsführer befürchtete bereits, dass sie einige von ihnen verlieren könnten, besonders den Prinzen.

Normalerweise versetzten solche Neuigkeiten Breeze in Hochstimmung. Sie liebte es, vermisst zu werden. Und sie hatte immer geglaubt, von den drei Frauen das interessanteste und schönste Leben zu führen. Mit einigen der wichtigsten Männer der Welt hatte Breeze verkehrt – und auch mit einigen Frauen. Manche hatten ein Vermögen dafür bezahlt, etwas Zeit mit ihr zu verbringen, und sei es nur, um sich mit ihr zu unterhalten. Breeze wusste, wie man ihnen ein gutes Selbstwertgefühl vermittelte – und sie log nie.

Jetzt hatten sich die Dinge geändert. Ihre Arbeit hatte verschiedene Bedeutungen und Nuancen angenommen, und einige davon waren weniger lohnenswert als andere. "Jane, ich muss auflegen", sagte sie plötzlich. "Die Verbindung ist zu schlecht."

"Breeze? Was? Warte. Halt dich von allem fern!"

Janes letzte Worte, dachte Breeze, als sie per Knopfdruck auflegte. Anschließend wählte sie eine einprogrammierte Nummer. Sekunden später meldete sich ein Mann und fragte nach ihrem Passwort. "Pessimist", sagte sie und betonte jede Silbe, damit ihre Stimme identifiziert werden konnte. Sie hatte das Wort eigentlich zufällig gewählt, obwohl es jetzt perfekt zu Janes Verfassung passte. Als Nächstes drückte Breeze einige Tasten, um einen Sicherheitscode abzurufen. Sobald die Zahl erschien, gab sie sie ein.

"Willkommen", sagte er. "Wie läuft es in den Staaten?"

"Sie züchten hier Glücksbambus."

"Brauchst du Glück?"

"Immer – und ein paar Informationen. Ich habe drei Namen für deine Liste." Sie tippte Jameson Cross' Namen ein. "Finde alles über sie heraus", sagte sie, während sie die nächsten zwei eingab. Jane Mantle und Matilda Smith.

Breeze verabschiedete sich nicht von ihm. Er arbeitete jetzt seit drei Jahren für sie, und es gab niemand Besseren beim Geheimdienst. Sie drückte auf Aus und tauschte das Mobiltelefon gegen ihr Glas Champagner. Halt dich da raus? Abwarten.

Genussvoll bearbeitete der Masseur die Rückseiten ihrer Waden mit seinen Handflächen. Breeze seufzte und fragte sich, ob sie einen Masseur in Janes Büro hätte bestellen sollen. Diese Frauen. Alles, was sie hatten, waren Sorgen.

Eine weiße Rauchwolke stieg aus dem Aluminiumschornstein des Krematoriums auf.

Mattie wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete, also konzentrierte sie sich auf die Kapelle, zu der sie wollte. Ihr ganzer Körper schmerzte von den Qualen, die sie am Vortag durchlitten hatte, aber auch daran wollte sie keinen Gedanken verschwenden. Die Kapelle ähnelte einer englischen Dorfkirche, ganz aus alten Steinen erbaut, mit runden Bögen und Mansardenfenstern. Ein riesiger Kirchturm ragte daneben in die Höhe. Beide Gebäude schienen die San Francisco Bay mit ruhiger Gelassenheit zu überblicken.

Wunderschön, bestimmt, wenn man mit dieser Umgebung umgehen konnte.

Mattie hatte bereits die Schilder bemerkt, die die Leichenwagen zum Krematorium leiteten, einem großen nackten Betongebäude, das hinter der Kapelle lag. Das war ihr Ziel. Aber zunächst musste sie ein paar Antworten bekommen, und die Kapelle sah am vielversprechendsten aus. Mattie hatte vorher angerufen und eine Bandansage gehört. Heute Nachmittag würden keine Trauerfeiern stattfinden.

Sie trat durch die Flügeltüren und bewunderte das Kuppeldach des Altarraums. Grüne Marmorsäulen umsäumten den Raum, durch die Mosaikfenster fiel das Tageslicht herein. Es war so ruhig und gedämpft wie in einer Kirche, obwohl es keine religiösen Symbole gab. Eine amerikanische Flagge hing dort, wo normalerweise eine Statue gewesen wäre.

"Kann ich Ihnen helfen?"

Ein lächelnder junger Mann mit einer Buddy-Holly-Brille kam den Gang entlang auf Mattie zu. Der Besen und die Schaufel in seiner Hand ließen darauf schließen, dass er gerade geputzt hatte.

"Gibt es hier ein Büro?", fragte sie. "Ich hätte ein paar Fragen zu den Trauerfeiern."

"Gleich nebenan im Glockenturm, aber heute ist keiner mehr da. Es war nichts zu tun." Er drehte den Besen und grinste.

"Wollen Sie etwas über unser schnörkelloses Angebot wissen? Sechshundert Dollar alles in allem, und das beinhaltet einen Sarg aus Wellpappe für den Verstorbenen, die Asche gibt es in einer Plastikurne, keine Trauerrede."

Plötzlich hatte der Ort für Mattie seine Schönheit verloren. Sie hoffte, dass sie diesen Kerl normalerweise nicht auf die Hinterbliebenen losließen. "Ich wollte mich ehrlich gesagt nur nach dem Verbrennungsvorgang erkundigen."

"Ah", erwiderte er erfreut. "Nun ja, die Leichen werden in eine Steinkammer gebracht, die bis zu eintausend Grad aushält. Und sogar bei dieser Hitze dauert es Stunden. Trotzdem bleibt nicht nur Asche über, so gern man es auch glauben würde. Es gibt Knochenrückstände, die zermahlt werden müssen, viele Knochenrückstände. Das ist mein …"

Mattie schüttelte den Kopf. So viel wollte sie gar nicht wissen. Trotzdem musste sie noch eine Frage stellen. "Werden die Menschen jemals mit ihren Habseligkeiten verbrannt?"

"Ja, sicher, immer wieder. Solange wir das Zeug in die Box kriegen und es einwandfrei verbrennt, ist das kein Problem." Er schnalzte mit der Zunge. "Manche glauben allerdings nur, dass alles mit ihnen verbrannt wird. Sie wollen sogar zusammen mit ihrem Bargeld in Flammen aufgehen. Können Sie sich das vorstellen?"

Eine interessante Art, ein Videoband loszuwerden, dachte Mattie.

Durch seine dicken Brillengläser blinzelte der Mann sie an. "Sind Sie Journalistin?"

"Ich recherchiere etwas." Sie zuckte betont gelangweilt die Schultern.

"Konnte ich Ihnen helfen? Es gibt noch so viel mehr zu erzählen …"

"Nein, nein! Nicht nötig. Sie haben mir sehr geholfen."

Mattie bedankte sich und verließ die Kapelle. Nola Daniels hatte ihr erzählt, dass der Mann, der die medizinische Untersuchung während der Verhandlung von William Broud geleitet habe, diese Woche hier verbrannt würde. Das hieß, dass er bereits hinten im Lager des Krematoriums war. Ein Sarg aus Wellpappe? Der wäre nicht zu schwer zu öffnen. Und wenn Mattie kein Videoband fände, würde sie vielleicht etwas anderes entdecken, möglicherweise Manschettenknöpfe mit Sternen. Heute Morgen war sie mit dem Gedanken aufgewacht, dass auch andere Mitglieder des Rings sie getragen haben könnten, als Zeichen ihrer Mitgliedschaft zu einem geheimen Kreis.

Sie schlich um das Gebäude herum und entdeckte die schweren Aluminiumtüren der Einrichtung. Sie schienen nicht abgeschlossen zu sein. Als ob es der Zufall so wollte, waren sie es tatsächlich nicht. Mattie ging hinein und warf vorsichtig einen prüfenden Blick auf die Ausstattung, die einem Lager ähnelte. Nur die Öfen waren nicht zu übersehen.

Sie waren von außen mit Chrom verkleidet und mit einer digitalen Anzeige sowie numerischen Tastenfeldern versehen, mit denen die Brennstäbe, die Luftzufuhr und die Ventilatoren reguliert werden konnten. Ein rollenartiger Apparat vor jedem Ofen schien zu gewährleisten, dass man die Särge problemlos hineinschieben konnte. Die unheimliche Ähnlichkeit zu gigantischen Pizzaöfen verursachte Mattie ein flaues Gefühl im Magen. Sie musste dieses Bild vor ihrem inneren Auge ignorieren und weitermachen.

Wo wurden wohl die Leichen aufbewahrt? Neben den Öfen machte Mattie eine große Tresortür aus. Als sie darauf zuging, sah sie etwas, das sie an das Kofferkarussell im Flughafen erinnerte. Es deutete alles darauf hin, dass die Verstorbenen per Laufband zu den Öfen transportiert wurden.

Mattie streckte die Hand nach der Tür aus, aber ihre Finger erreichten den Griff nicht mehr. Ein schwerer Gegenstand traf ihren Schädel. Ihre Sicht verschwamm, und ein schneidender Schmerz zog durch ihren Kopf. Mattie hatte niemanden kommen gehört. Und sie hörte auch nicht ihren leisen Seufzer, als sie auf den Zementboden fiel.

Der tief sitzende, pochende Schmerz fühlte sich an, als wäre er direkt in Matties Gehirn eingedrungen. Sie konnte sich nicht bewegen und nichts sehen, selbst als sie die Augen öffnete. Panik erfasste sie, ließ sie aufkeuchen. Schemenhaft erinnerte Mattie sich an den Schlag, der sie zu Boden gezwungen hatte. Hatte er sie gelähmt?

Sie versuchte, die Hände zu bewegen, und spürte, wie ihr dicke Seile, geflochten wie Kabel, in die Handgelenke schnitten. Niemals würde sie die lösen können. Auch ihre Füße waren gefesselt, ein Knebel war ihr in den Mund gestopft worden. Die Dunkelheit umhüllte Mattie wie ein schweres Tuch, obwohl ihr die Augen nicht verbunden worden waren. Sie lag in einem Karton – oder einem Sarg. Und er war so fest verschlossen, dass kein Licht hereinfiel. Die Atemluft war erfüllt von einem seltsamen antiseptischen Geruch.

Furchtbare Angst kroch in ihr hoch, Stück für Stück.

Sie war hilflos und saß in der Falle. Sie konnte nicht atmen. Sie würde in diesem Grab ersticken, bevor sie die Fesseln lösen könnte.

Die Panik ließ sie aufkeuchen. Mattie fühlte, wie sie in ihr herumwirbelte, sie aufsaugte, ihr Innerstes verbrannte, das durfte sie nicht zulassen. Sonst würde sie ohnmächtig werden.

Denk nach, Mattie. Du lebst. Du bist nicht gelähmt.

Benutze deinen Kopf. Denk genau nach.

Ihr Herz flatterte wie Flügel in einem Käfig. Ein verängstigtes Kind schrie. Sie war in der Abseite gefangen, unfähig Luft zu holen, ohne dass der eigene Atem ihr direkt wieder entgegenschlug.

Das ist über zwanzig Jahre her, Mattie. Du hast es damals überlebt, und du bist kein Kind mehr. Finde heraus, wo du bist.

Also, Mattie, wo bist du?

Schweißgebadet zwang sie sich, die Hände zu bewegen, obwohl sie wusste, dass die Enge des Raumes sie vielleicht wieder in Panik versetzen würde. So wie sie es einschätzte, befand sie sich in einem der Pappsärge, von denen der Junge in der Kapelle gesprochen hatte, doch der Karton gab nirgendwo nach. Es fühlte sich an, als ob er in etwas Unzerbrechliches eingelassen war, so etwas wie ein Sarg.

Eine Frage drängte sich Mattie ins Bewusstsein. Wer hatte ihr das angetan? Sie konnte immer noch das Grinsen des Jungen sehen. Nur war es schwer vorstellbar, dass er ihr nachgeschlichen war und sie so heftig niedergeschlagen hatte, dass sie ohnmächtig geworden war. Es hatte sich angefühlt, als hätte der Schlag ihren Schädel spalten können. Wenn der Junge es nicht getan hatte, musste es das Monster von gestern Abend gewesen sein.

Wer würde ihr so etwas antun? Wer?

Sogar ihre Haut schmerzte. Sie brannte, als hätte man sie mit Sand abgerieben. Aber andererseits war Mattie nicht warm, sondern kalt. Sie war völlig durchgefroren, was darauf hindeutete, dass der Lagerraum gekühlt war – und darauf, dass sie hier schon lange lag. Wenn sie nicht erstickte, würde sie an Unterkühlung sterben. Die Panik kam wieder, und diesmal war Mattie zu erschöpft, um sie zu bekämpfen. Von dem antiseptischen Gestank wurde ihr übel. Sie schloss die Augen und überließ sich dem Chaos. Ließ sich von ihm verschlingen, sich herunterreißen und ertränken.

Etwas später, kaum bei Bewusstsein, fühlte sie, wie sie aus dem Sarg gehoben und aus dem Lagerraum gebracht wurde. Sie hatte nicht mehr genug Kraft, um die Augen zu öffnen. Aber sie konnte das Zischen der Öfen hören, und das Rauschen in ihren Ohren sagte ihr, dass sie sich geirrt hatte. Sie würde nicht erfrieren.

Sie würde in den Flammen sterben.