Sommer 2008

 

Giovanni Paul Davide Santa Cruz hatte seinen ersten Arbeitstag in München. Neuer Job, neues Land, neues Leben! Die vergangenen sechs Wochen waren sehr arbeitsreich und hektisch. Bewerbungen, Vorstellungsgespräche, Wohnungssuche. Zum Glück konnte er bei seiner Tante wohnen und hatte damit Stabilität mit fester Adresse und Familienanschluss. Es war alles gut, nein sogar sehr gut gelaufen. Giovanni hatte sich bei zehn Firmen beworben und tatsächlich zehn verbindliche Jobzusagen erhalten. Das waren noch Zeiten!

Als Wirtschaftsinformatiker mit ausgezeichneten Zeugnissen und Referenzen schien er ein sehr begehrter Mann für die deutsche Informationstechnologie (IT) zu sein. Es waren ihm ungefragt auch einige Managementpositionen oder Jobs vom Technical Pre-Sales bis zum Programmierer angeboten worden. Er hätte sofort bei Microsoft, IBM, HP oder einigen großen und namhaften Internetfirmen anfangen können. Aber nein! Er hatte sich ganz bewusst dagegen entschieden! Giovanni Paul Davide Santa Cruz war ganz konkret auf der Suche nach einem „langweiligen“, wenn auch gut bezahlten Job in einer IT-Abteilung eines mittelständischen und grundsoliden, rein deutschen Unternehmens. Keine Verantwortung, weder für Personal noch für eine Abteilung. Keine öffentlichen Auftritte, keine geschäftlichen Reisen in die USA. Das waren seine Bedingungen. Und Giovanni hatte seine ganz persönlichen, guten Gründe dafür. Und genau diese Bedingungen erfüllte sein neuer, zukünftiger Arbeitgeber, die Firma Malinger Autoteile GmbH & Co. KG, Zentrale in München. Und so wurde Giovanni Paul Davide Santa Cruz zum „Datenbank-Administrator“ der Firma Malinger Autoteile. Am 1. 7. 2008 war sein erster Arbeitstag in München.

 

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Franz Korber war Leiter der Informationstechnologie der Firma Malinger Autoteile. Wäre Malinger Autoteile GmbH & Co. KG ein börsennotiertes Unternehmen, wäre der Titel hochtrabender „CIO“, Chief Information Officer, gewesen. Aber in einem deutschen, mittelständischen Unternehmen waren die Titel bodenständiger und „Leiter IT“ ließ manchmal nicht ganz die Wichtigkeit und umfassende Rolle dieser Position vermuten. Dennoch: Franz Korber hatte einen sehr verantwortungsvollen Posten! Und Franz war tatsächlich die perfekte Besetzung dafür. Das Unternehmen war in den vergangenen Jahren sehr stark gewachsen, hatte nun über 4.000 Mitarbeiter, mehrere Produktionsstandorte in Europa, die Zentrale in München. Die Anforderungen an die IT-Abteilung stiegen von Woche zu Woche. Und Franz Korber war dieser Aufgabe gewachsen! Er war ein ausgezeichneter IT-Fachmann und zu Recht stolz auf seine Führungsqualitäten und seine Menschenkenntnis bei der Mitarbeiterauswahl. Die Geschäftsleitung, die Produktion, die Vertriebsabteilungen, der Einkauf, die Buchhaltung, die Rechtsabteilung, sie alle stellten immer neue Business-Forderungen an die IT-Abteilung und wollten möglichst SOFORT ihre jeweiligen Lösungen und Umsetzungen. Franz musste ständig jonglieren zwischen „machbar, finanzierbar und eventuell später oder gar nicht möglich“ und verbrachte den Großteil seiner Arbeitszeit in zeitraubenden Meetings und Krisen- und Budgetsitzungen. Personalmanagement und Administration konsumierten einen weiteren großen Teil seiner Arbeitszeit. Das rein Fachliche kam, nach seinem persönlichen Geschmack, definitiv zu kurz. Dafür hatte er seine Mitarbeiter.

           Franz hatte sich ein ausgezeichnetes Team von IT-Spezialisten aufgebaut. Dies war letztendlich auch durch die Bereitschaft der Geschäftsleitung möglich, extrem hohe Gehälter für IT-Spezialisten zu bezahlen. Wenn Franz Budgets für seine Abteilung forderte und dies in seiner professionellen Art begründete und vorbrachte, wurden diese Mittel fast immer genehmigt. Denn durch Franz Korbers Sachverstand und Weitblick bei der Auswahl und Einstellung der jeweiligen IT-Spezialisten war die IT-Abteilung von Malinger Autoteile in der Branche der Autoteilehersteller und Zulieferer sicherlich eines der bestaufgestellten Unternehmen in Deutschland, vielleicht in ganz Europa. Und die hervorragende Arbeit der IT war sicherlich maßgeblich mit ausschlaggebend für den sehr großen wirtschaftlichen Erfolg der Malinger Autoteile GmbH & Co. KG der vergangenen Jahre.

Am 1. Juli 2008 war der erste Tag seines Neuzugangs Giovanni Paul Davide Santa Cruz. Ein interessanter Name und ein noch interessanterer junger Mann! Die Natur hatte es wirklich gut gemeint mit diesem amerikanisch-deutschen Jungen, nicht nur wegen seines äußerst wachen und leistungsfähigen Intellektes, sondern auch bezogen auf ein außerordentlich gutes Aussehen und seine perfekten Umgangsformen. Franz Korber hatte sich schon bei den Einstellungsgesprächen ständig die Frage gestellt: „Warum will ein Mann dieses Profils und dieses Kalibers ‚nur‘ den Job eines Datenbankadministrators?“ Fünf Sprachen fließend, MBA als Informatiker, jede Prüfung mit Auszeichnung, hervorragende, internationale Referenzen! Und dieser Mann bewirbt sich, direkt aus New York kommend, dann in München und „nur“ für den Datenbankadministrator. Franz hatte ihm zumindest eine Bereichsleiterposition angeboten, aber nein! Nur DB-Admin sollte es sein, zumindest für den Moment!

Die Gehaltsvorstellungen von Santa Cruz waren, zumindest für deutsche Verhältnisse, geradezu horrend hoch. Aber Franz hatte das sichere Gefühl, dass jeder Euro bestens investiert und gerechtfertigt sein würde. So konnte er schließlich die Gehaltsvorstellungen des jungen Mannes, die gar nicht so extrem viel unter seinem eigenen Gehalt als Chef lagen, bei der Geschäftsleitung durchsetzen. Franz war sich sicher, dass Herr Santa Cruz vor irgendetwas davonlief und deshalb bewusst diesen eher einfacheren Job angenommen hatte. Aber er war sich auch sicher, dass er, Franz Korber, die im Moment von dem Jungen absichtlich versteckten Talente enttarnen und schon rasch zum Wohle der Firma Malinger einsetzen können würde. Bei der Vorstellungsrunde fiel auf, dass sich Herr Santa Cruz allen Kollegen mit dem Vornamen JP – englisch ausgesprochen – einführte. Wie das zu Giovanni passen sollte, war Franz völlig unklar, aber es war ihm nicht wichtig genug um Aufklärung zu bitten.

 

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Als Giovanni seine Wahl zugunsten des Unternehmens Malinger Autoteile GmbH & Co. KG getroffen hatte, waren zwei Elemente ausschlaggebend: Erstens erkannte er sofort die hohe Professionalität der IT-Abteilung unter der Leitung von Franz Korber und zweitens hatte sein Vater das Unternehmen für ihn „gecheckt“ und für „gut“ befunden. Als IT-Profi wusste Giovanni sofort, wenn er seinesgleichen vor sich hatte und die Sache mit dem Urteil seines Vaters war ganz einfach Lebenserfahrung. Sein Vater, Dr. Davide Santa Cruz, war US-amerikanischer Diplomat. Die genaue Stellenbeschreibung und berufliche Aufgabe seines Vaters kannte Giovanni tatsächlich nicht, seine Arbeit war immer top secret!

Vater Davide war immer im Ausland bei diversen US-Botschaften stationiert und seine Familie zog auch nach einer Weile an den jeweils neuen Standort nach. So erlernte Giovanni diverse Sprachen, von denen er fünf wie die Muttersprache schreiben und sprechen konnte. Giovanni hatte schon früh gelernt, dass er sich auf das Urteil seines Vaters zu 100 % verlassen konnte. Vater Davide hatte Zugang zu vertraulichen Informationen, die einem normalen Bürger nicht zugänglich waren. Giovannis Vater kannte die tieferen Motive seines Sohnes für die Wahl eines soliden, mittelständischen Unternehmens. Er hätte es niemals zugelassen, dass sich sein Ältester wieder in eine schwierige Ausgangslage brächte. New York war ein Desaster und sein Junge brauchte nun einfach wieder Ruhe und Stabilität. Und Vater Davide würde definitiv ein Auge darauf werfen und Sorge dafür tragen!

 

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Die ersten Wochen bei der Firma Malinger Autoteile waren sehr arbeitsreich, aber auch sehr angenehm und Giovanni war sich sicher, die richtige Wahl bezüglich seines neuen Arbeitgebers getroffen zu haben. Franz Korber hatte ihm vom ersten Tag an eine Vielzahl von Aufgaben übertragen, die bei Weitem nicht seinem eigentlichen Jobtitel entsprachen, aber Giovanni übernahm sie gerne und löste alle zur vollsten Zufriedenheit von Franz. Die Kollegen waren durch die Bank nett und teilweise sehr witzig und fast alle gut drauf. Besonders wenn Franz nicht im Büro war, ging es richtig lustig zu und Sebastian Meyer, der Clown vom Dienst, hatte immer neue Witze auf Lager, die er ausgezeichnet in seinem Bayerisch vortragen konnte.

Schön langsam begann Giovannis Leben wieder in soliden, ruhigen Bahnen zu laufen. Das tat ihm gut! Seine neue, schöne Wohnung in einem Altbau in Schwabing in der Römerstraße 21, 4. OG, 112 m2, war inzwischen beinahe eingerichtet. Giovanni, der von allen Kollegen und Freunden allgemein nur JP – englisch ausgesprochen, das war wichtig – genannt wurde, hatte viele der vergangenen Abende und Wochenenden hauptsächlich mit seinen zwei Cousins und ein paar Freunden zum Aufbau und zur Montage seiner neuen Möbel verwendet. Ende August wurden noch die neuen Designer-Sofas geliefert und dann war das Projekt „neue Wohnungseinrichtung“ endlich abgeschlossen, hoffentlich für die nächsten Jahre!

JP hatte noch nie vorher eine Wohnung mit „eigenen“ Möbeln eingerichtet, sondern immer in voll- oder zumindest größtenteils möblierten Mietwohnungen gewohnt. Es hatte ihm großen Spaß gemacht, diesmal alle Möbel selbst aussuchen und für sich zusammenstellen zu können. Auf diese Weise und mit seinen Hobbys war JP in seiner Freizeit in den vergangenen Monaten voll ausgelastet und er war vollends glücklich und zufrieden. Für sein Haupt-Hobby, das Fliegenfischen, hatte er die absolut richtige Entscheidung getroffen und war mittlerweile Mitglied in einem sehr angesehenen Anglerclub, der gut 100 km Fließgewässer sowie drei Seen im fischereirechtlichen Nutzungsrecht für seine ca. 120 Mitglieder hatte.

Seine weiteren Hobbys, nein, eher sportlichen Betätigungen, waren Badminton und Skifahren. Badminton spielte er nun mit ein paar Kollegen und Freunden wieder regelmäßig, zumindest einmal pro Woche. Dabei konnte er sich so richtig körperlich verausgaben und Stress abbauen. Fürs Skifahren war jetzt noch nicht die richtige Jahreszeit, aber der Winter kam bestimmt.

München ist eine wunderschöne Stadt! Sehr gemütlich, viele Straßencafés, schöne Parks, freundliche Menschen, gutes Essen und verglichen mit New York sehr preiswert. Hier wollte JP es definitiv für ein paar Jahre aushalten. JP hatte das Gefühl, „zu Hause angekommen zu sein“. Generell fühlte er sich hier in Deutschland sehr wohl und überlegte sogar, vielleicht in diesem Land eine Familie zu gründen, die richtige Partnerin vorausgesetzt. Das Thema Freundin war allerdings in den vergangenen Monaten ein bisschen zu kurz gekommen. Es hatte sich noch nichts Richtiges ergeben und Zeit zur Suche hatte er sich keine genommen. Da JP extrem gut aussah, witzig, charmant und clever war, waren die Interessenssignale von weiblichen Kolleginnen und sonstigen Bekanntschaften zwar häufig und eindeutig, aber JP war bisher einfach nicht danach gewesen. Er wusste noch nicht so recht, was er suchte.

Für „etwas Festes“ war sein Herz noch nicht frei und hing noch zu sehr in New York und für oberflächliche One-Night-Stands war er bisher nicht so recht der Typ gewesen. Aber für eine lockere Beziehung mit gelegentlichem Sex war er nun, im späten Sommer 2008, im Prinzip bereit. Ein Versuchsballon in diese Richtung sollte nun nicht schaden. Das Projekt „Wohnungseinrichtung“ war ja nun abgeschlossen, ein neues Projekt „lockere Freundin“ konnte in Angriff genommen werden. Ein weiterer Schritt für seinen seelischen Heilungsprozess.

Ohne Skrupel
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