1. – 8. April 2010, Modena, Italien

 

Victor Ivan Kurostzov verfluchte die Nähe Münchens zu Italien. Gemäß seiner Anweisung musste er unbedingt noch am Freitag anreisen, um möglichst übers Wochenende seinen Auftrag zu erfüllen. Bei einem „echten“ Auftrag, d. h. gegen Bezahlung, war ihm der Wochentag völlig egal, in diesem Falle aber nicht. Er wurde nicht bezahlt! Dieser Job lief in der Kategorie „Wiedergutmachung / Nachbesserung“ und derartiges wollte er nicht zusätzlich noch am Wochenende erledigen. Außerdem hieß es drei Tage – das fand er dilettantisch, denn ein Profi musste sich viel genauer vorbereiten, Fluchtwege erkunden, Örtlichkeiten und Gewohnheiten der Subjekte studieren und Alternativen erarbeiten.

Einen Auftrag dieser Komplexität würde er normalerweise mit mindestens 14 Tagen veranschlagen. Bei dem Risikofaktor hätte er in seiner nach oben offenen Preisliste und je nach Tageslaune so zwischen 20 und 30.000,- Euro veranschlagt. Demnach lag sein Auftraggeber im Rahmen seines verpatzen Auftrags in der tschechischen Republik. Victor Ivans Verlust summierte sich somit auf etwa 50.000,- Euro – 25.000 für die Rückerstattung aus dem Tschechien-Drama und 25.000 für nicht erhaltene Gage jetzt in Italien. Victor Ivan war absolut nicht motiviert! Die gesamte Autofahrt über Österreich, den Brenner Pass, Südtirol, Bozen und Verona, fluchte er vor sich hin und wünschte seinem Auftraggeber zumindest die Krätze an den Hals. Hinzu kam grauenhaftes Wetter in Italien – von wegen ein paar Tage im sonnigen Süden, weit gefehlt. Es war kalt und regnete wie aus Eimern.

Die Gischt der Lkw-Reifen auf Italiens nassen Autobahnen nahmen Victor Ivan die Sicht und er kam, bedingt durch mehrere Unfälle, in einige Staus. So wurde aus der veranschlagten fünfstündigen Autofahrt eine fast neunstündige. Aus reinem Geiz hatte er sich ein kleines, möglichst billiges Hotel im Internet in einem Vorort Modenas ausgesucht. Es erinnerte ihn massiv an die primitiven Unterkünfte in diversen 3. Welt Staaten während seiner Zeit bei der Legion und als Söldner. Die italienischen Matratzen und Betten in den billigen Absteigen waren generell eine Katastrophe. In dieser Absteige hatte die Katastrophe die Ausmaße eines Hurrikan-Tsunami-Sandsturmes! Die Dusche funktionierte nicht und der Wasserdruck der Klospülung glich eher einem tropfenden Wasserhahn. Der Spiegel war halb blind und die Schranktür ging immer von der Bodenvibration von alleine auf, wenn man durch den Raum ging. Aber was kann man für 25,- Euro pro Nacht von einem Ein-Stern-Hotel erwarten. Victor Ivan war kein sentimentaler Mensch, aber seine Laune pendelte nun zwischen Melancholie, Selbstmitleid und –Verachtung. Wie konnte er nur derart tief sinken, wie konnte jemand, der auch schon 50.000,- Euro an einem einzigen Tag verdient hatte, nach so einer beschissenen Autofahrt, so ein derart beschissenes Quartier beziehen und einen derart beschissen bezahlten Job erledigen müssen? Eine tiefe Schwermut bemächtigte sich seiner.

Aber Victor hatte auch nicht die Großzügigkeit, den Hotelpreis zu bezahlen und auszuziehen, ohne das bezahlte Geld auch abzuwohnen, so etwas tat er aus Prinzip nicht! Wenn man schon kein Geld für den Job bekam, musste man sonst maximal sparen. Sogar die Autobahngebühren und das Benzin für die Anreise nervten ihn. Mit Mühe bei der Verständigung, denn niemand konnte englisch, deutsch oder russisch, erkundigte er sich an dieser „Pseudo-Rezeption“ nach etwas Ess- und Trinkbarem und landete letztendlich in einer Arbeiterbar ein paar Meter weiter, die an Qualität und Niveau seinem Hotel in nichts nachstand. Das Essen war so gar nicht italienisch, selbst im tiefsten Afrika hatten ihm die Bimbos besseres serviert. Der Wein war billig und das nicht nur in Bezug auf den Preis! Normalerweise hätte er keinen Schluck davon getrunken. Aber wenn er es recht verstanden hatte, gehörte dies irgendwie zu der Menüpauschale. Nach dem grässlichen Essen und Wein verlangte Viktor Ivan nach einer Flasche Wodka. „No Signore, non habiamo Wodka! Solamente Grappa! Mi dispiace ...” Victor Ivan hätte vor Wut kotzen können!

Aus reinem Frust bestellte er gleich drei Flaschen Grappa, jeweils einen Liter. Sein Vorrat für die nächsten einsamen Nächte in seinem Quartier. Es war dies wohl selbstgebrannter Grappa, wie der Wirt versuchte, ihm mit Händen und Füßen verständlich zu machen. Normalerweise nicht für den Straßenverkauf, sondern nur für den glasweisen Ausschank gedacht. Entsprechend schmucklos waren die Literflaschen. Aber das interessierte Victor nicht im Geringsten. Bevor er das Lokal verließ, forderte und erzwang er sich einen ganzen Eimer voll Eiswürfeln zum Mitnehmen. Der Wirt machte förmlich Bücklinge ob des fetten Umsatzes. Victor Ivan zog sich somit mitsamt seiner Beute, drei Liter Grappa und ein Eimer Eis, schon um 21:00 Uhr auf sein Hotelzimmer zurück und nahm sich fest vor, Wetter, Hotelzimmer, das Bett und seinen Job jetzt schön zu trinken. Der Zahnputzbecher war ein perfektes Trinkgefäß, randvoll mit Eiswürfeln gefüllt und dann mit Grappa vollgegossen – so war dieses Zeug sogar trinkbar....

Um 21:18 Uhr war die erste Flasche leer. Bei der zweiten Flasche störten ihn schon die Eiswürfel beim Trinken auf EX und ab der halb leeren Flasche machte er nur noch den Becher voll und verzichtete auf das lästige Eis. Um 21:45 musste er sich schon sehr konzentrieren, um die dritte Flasche überhaupt öffnen zu können und gab sich nun auch nicht mehr mit dem Becher als Trinkgefäß ab, da er feststellte, dass die Eingießöffnung des Bechers unzumutbar klein für einen soliden Strahl Grappa war. Er verschüttete mehr als er traf. Die Flasche an den Mund geführt, funktionierte besser. Gerademalso die dritte Flasche Grappa erlebte das Schlagen der Kirchenuhr um 22:30 Uhr nicht mehr und Victor Ivan hatte sein Ziel erreicht. Er fühlte sich wie im schönsten Hotelzimmer der Welt, fühlte förmlich die warme Sonne auf seiner Haut und liebte seinen derzeitigen Job und den Rest der Welt.

Der nächste Morgen machte Victor Ivan allerdings eine Sache bewusst: Victor Ivan war Allergiker! Er hatte ganz offensichtlich eine Schuhlederallergie! Jedes Mal wenn er mit Schuhen an seinen Füßen und auf dem nackten Boden liegend morgens erwachte, zeigten sich die Symptome ganz stark – rasende Kopfschmerz, Orientierungslosigkeit, Übelkeit, verspannter Nacken und diverse blaue Flecken an allen möglichen Stellen....

Jedenfalls: Es war Samstag der 3. April, 14:30 Uhr, als Victor erwachte. Victor Ivan war wirklich kein Weichei und Undiszipliniertheit ließ er normalerweise nicht bei sich durchgehen. Normalerweise. Aber dieser Tag war nicht normal! Es war nicht normal, dass man während eines Jobs etwas trinkt, bis 14:30 Uhr schläft und beim Pissen einen Geruch von sich gibt, als ob ein Schnapsfass undicht wäre, dass einem aufgrund einer Schuhlederallergie der Schädel fast explodierte und man sich die erste halbe Stunde gar nicht erinnern konnte, wo man gerade war und was man zum Teufel in dieser schäbigen Absteige wollte, wo die Türe vom Schrank aus den Angeln gerissen und quer auf dem Bett lag, in welchem man offensichtlich nicht mal geschlafen hatte. Es war ein verwirrend unnormaler Tag!

Nun gut: An Tagen wie diesen, die offensichtlich nicht normal waren, war es auch angebracht sich nicht normal zu verhalten, sich nochmals hinzulegen und nochmals zu versuchen noch ein bisschen zu schlafen.

 

***

 

Antonio Fontanelli war 59 Jahre alt und fit im Geist und Körper. Er war Steinbock im Sternzeichen und geboren am 2. Januar. Er mochte geordnete Verhältnisse und planbare Stabilität. Antonio blickte zurück auf ein erfolgreiches Leben mit einer Frau, mehreren Geliebten, drei ehelichen und zwei unehelichen Kindern, sechs Enkeln und einem Urenkel. Nun hatte er den letzen Lebensabschnitt vor sich und bereitete sich mental darauf vor. Seine Hobbys wie Oldtimer sammlen und reparieren, Fernreisen ausarbeiten und Kochen würden nun schon bald den nötigen Zeitanteil bekommen und könnten ihm zu ungeahnten Glücksmomenten verhelfen.

Jetzt fehlte nur noch der goldene Handschlag und die Abwicklung seiner Firma. Antonio Fontanelli war der alleinige Chef und Eigentümer der Ferromatrix Srl, eines etablierten Herstellers von metallbasierten Autoteilen. Die Ferromatrix fertigte hauptsächlich für Fiat, Autotüren für den Cinquecento, den Brava, den Seicento und den Panda und Stoßstangen, verchromte Zierteile und Motorhauben für ein paar der Lancia- and Alpha Romeo-Modelle. Die Ferromatrix Srl war gut im Geschäft und ermöglichte Antonios Familie ein sehr gutes Auskommen und ein solides Vermögen, zu dem mehrere Mietshäuser und die Villen der Kinder und Eltern gehörten.

Aber Antonio hatte keine wirklichen Nachfolger für seine Firma. Trotz seiner eigenen fünf Kinder und den sechs Enkeln, trotz der vielen Kinder von seinen vier Geschwistern und deren Kindern: Es wollte oder konnte niemand aus der Familie seine Firma weiterführen. Zu laut, zu schmutzig, zu viel Arbeit, zu was auch immer! Völliger Bullshit, wie Antonio fand. Er als Chef war oft monatelang nicht in der lauten Fertigung und trug im Sommer immer helle Anzüge, weil er nicht mal in die Nähe von Schmutz kam. Er wollte aber niemandem etwas aufzwingen. Die wenigen Verwandten, die Interesse an der Weiterführung seines Unternehmens zeigten, hatten einfach nicht die fachliche Kompetenz. Tja, so traurig es war, so war es dennoch eine Tatsache! Er hatte sich damit inzwischen abgefunden und mittels Beziehungen diskret nach einem möglichen Käufer suchen lassen.

Das deutsche Unternehmen Malinger Autoteile GmbH & Co. KG hatte Interesse bekundet und erste Verhandlungen über einen gemeinsamen Bekannten aufnehmen lassen. Der Eigentümer Signore Giuseppe Malinger und einer seiner Geschäftsführer waren bereits vor Ort bei Antonio. Man hatte hart verhandelt und dann schlussendlich eine gute Annäherungssumme für den Kaufpreis gefunden. Die Deutschen waren noch nicht restlos überzeugt, aber Antonio hatte ein sehr gutes Gefühl im Bauch. Er konnte gute Geschäfte schon immer im Voraus spüren. Außerdem hatte er noch ein ernsthaftes Angebot direkt von Fiat, seinem wichtigsten Kunden, erhalten. In den nächsten Tagen sollte sich alles entscheiden, dann im Laufe des Jahres eine saubere Übergabe erfolgen und ab dem 1.1.2011 mit seinem sechszigsten Geburtstag der nächste Lebensabschnitt mit einer „bescheidenen“ Pension, d. h. einem satten zweistelligen Millionen Euro Betrag, beginnen. Die Zukunft war golden! Dieser Handschlag auch.

 

***

 

Victor Ivan hatte die Sache mit seiner „Schuhlederallergie“ überwunden. So ein 24-Stunden-Bettaufenthalt konnte vieles kurieren. Es war wie ein Wunder und mittlerweile bereits Sonntagmorgen. Victor Ivan war nun um eines reicher: das unschätzbare Wissen, dass ihm Grappa nicht bekam! Er würde in Zukunft eine Gänsehaut des Ekels bekommen alleine schon bei der Nennung des Namens „Grappa“. Jeder Kellner würde zukünftig riskieren, eine blutende Nase nach Hause zu tragen, wenn er ihm als Gast „Un Grappino aufse Hause?“ beim Präsentieren der Rechnung anbieten wollte ...

Bei seiner Mission, seinem Auftrag, war er noch nicht viel weiter. Sein Plan bzgl. Vorgehensweise war einfach: Victor Ivan hatte gar keinen Plan. Der Auftrag war ganz klar: „Schüchtern sie den Italiener ein! Er muss schon vor Angst schlottern, wenn ein deutsches Auto die Grenze zu Italien überquert. Aber bringen Sie Ihn NICHT um – bestätigen sie das?!“ Ja, ja, schon gut. Obwohl bei dem Gesöff, das man in diesem Land zu trinken bekam, war die Versuchung zumindest einen dieser Itaker abzumurksen schon groß.

Heute, Sonntag, war der Tag für Kirchgänger, davon ging Victor Ivan einfach aus. In einem Land, wo der Papst ansässig war, musste das einfach so sein. Deshalb wartete Victor Ivan bereits ab 8:00 Uhr in seinem geparkten Auto am Haus des Italieners, auf der Straße gegenüber der Einfahrt. Die Villa des Subjektes war beeindruckend! Ein altes, sehr aufwendig restauriertes Gebäude mit großem Garten davor und dahinter. Der Tag verging und niemand kam aus der Tür oder verließ die Villa. Es regnete nach wie vor den ganzen Tag. Gegen 20:00 Uhr war die Laune von Victor Ivan am Gefrierpunkt angelangt und der Hunger und Durst groß genug, um zuerst ein Fass Bier zu trinken und anschließend eine halbe Sau alleine zu verzehren. Für seinen sonntäglichen Observationsdienst hatte Victor Ivan weder etwas zum Essen noch zu Trinken mitgenommen. Er hatte sich auf einen sehr kurzen Aufenthalt eingestellt und hatte es zwischenzeitlich nicht gewagt, seinen Standort zu verlassen. Gegen 23:30 Uhr kam ein sehr großer, extra langer Hummer, das Geländefahrzeug der US Army und fuhr in die Einfahrt der Villa. Es stiegen zwei muskulöse Männer, aufgrund der Ähnlichkeit mit dem Subjekt vielleicht die Söhne, zwei junge und eine ältere Frau aus. Sie gingen alle gut gelaunt in Richtung Villa. Anscheinend hatte die Familie einen Sonntagsausflug gemacht und war nun nach Hause zurückgekehrt.

Am heutigen Tag konnte Victor Ivan nichts mehr ausrichten. So fuhr er schließlich in Richtung seines Quartiers und hielt Ausschau nach einem noch geöffneten Lokal. Leider Fehlanzeige! Dies war ein Industriegebiet, in dem abends nach 20:00 Uhr und am Sonntag sowieso, die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Also landete er wider Willen in der schäbigen Bar von vor zwei Tagen. Das bisschen, das es noch zu Essen gab, war wieder grässlich. Der Wein war nach wie vor billig und das alternativ bestellte Bier viel zu warm, schal und damit auch widerlich.

Der Wirt hatte Victor Ivan sofort wiedererkannt und sich erneut Hoffnung auf den Verkauf einer ganzen Flasche Grappa gemacht. Der böse Blick seines Gastes bei der bloßen Erwähnung des Wortes Grappa holte ihn aber sofort auf den Boden der Tatsachen zurück. Dieser Gast, „Questo Strano Tedesco ...“, hatte keine Wertschätzung für seinen selbstgebrannten Grappa. Tatsache war: Victor Ivan hatte keinerlei Lust auf eine erneute Schuhlederallergie, aber auch keinerlei Lust auf die Tristesse seines furchtbaren Hotelzimmers.

Also kaufte er vor Verlassen der Bar den vorhanden Gesamtbestand an Spirituosen auf: eine Flasche Ramazotti, eine Flasche Campari, eine halbe Flasche Ouzo und die eine Flasche Vecchia Romania, halbwegs passablen Weinbrand, den er schon mal getrunken hatte. Den Eimer Eis bekam er gratis dazu. Victor Ivan kehrte wieder in sein Hotelzimmer zurück. Der Kleiderschrank hatte inzwischen auch seine zweite Türe eingebüßt und leistete seinem Tür-Kumpel gute Gesellschaft unterhalb der Matratze in dem ansonsten so furchtbar weichen Bett.

Victor Ivan war unschlüssig, welcher der vier Flaschenladys er nun den Vorzug geben sollte. Schließlich fiel seine Wahl auf den Ramazotti. Die bewährte Rezeptur war: Plastikzahnputzbecher randvoll mit Eiswürfeln, dann bis obenhin mit dem Getränk auffüllen, ein bisschen umrühren und ab – möglichst auf EX – hinter die Binsen kippen. Victor Ivan hatte sich für den Ramazotti entschieden, wohl wegen der dunklen Farbe. Er hatte tatsächlich noch nie im Leben Ramazotti getrunken und wusste gar nicht, was ihn geschmacklich erwarten würde. Erst als der gesamte Inhalt des ersten Bechers seine Magenwände erreichte, meldeten sich die Geschmacksnerven. Igitt – es schüttelte ihn geradezu! Das Zeug war picksüß! So eine Art Likör! Ein Gesöff für Weiber! Victor Ivan war kein Freund von Weibergesöff. Das war einfach widerlich!

Also entschied er sich, mit einer der anderen Flaschenladys weiterzumachen, dunkles Braun als Farbe war wohl ein Zeichen für Zuckermelasse, somit süß, also Finger weg davon. Eine klare Flüssigkeit war immer gut, Wodka als Vision materialisierte sich vor seinem inneren Auge. Also kam der Ouzo dran, das ist was griechisches und Griechen sind echte Kerle. Auch diesmal war der Zahnputzbecher wieder mit Eis und Ouzo voll. OH SHIT – das Gesöff schmeckte ja noch viel ekliger. Der Anis-Geschmack war nicht zum Aushalten für Victor. Er musste mit Gewalt den Brechreiz unterdrücken, da er keine Lust verspürte, das grässliche Essen aus der Bar nochmals in den Mund zu bekommen.

Nun gut: Der Zahnputzbecher wurde wieder randvoll gefüllt, diesmal mit Campari. Aber Victor Ivan war nicht blöd, nochmals einen Becher zu kippen ohne zu wissen, was man da trank! Also tauchte er seinen Finger tief in den randvollen Becher und lutschte genüsslich das rote Getränk. Brrrr igitt, war das bitter! Aber klar, nach dem furchtbaren Süßzeug musste einfach alles bitter erscheinen.... Aber besser bitter als zu süß. Also kippte er den vollen Becher wieder auf EX in seinen Hals. Oh verdammt! Ein Finger voll ist etwas bitter, ein ganzer Becher ist supermegaekelhaft! Victor hatte das Gefühl, dass nicht mal pure Galle derart bitter schmecken könnte. Er musste unbedingt diesen Geschmack loswerden und hielt sich nun an den Weinbrand Vecchia Romania. Dieser Geschmack war OK, aber es bedurfte der halben Flasche – Victor trank nun direkt aus der Flasche – bis sich seine angewiderten Gesichtsmuskeln wieder entspannten. Die zweite Hälfte der Flasche diente vor allem dazu, sich an den neuen Geschmack des Weinbrandes zu gewöhnen. Irgendwie lachte ihn dann die Flasche Ramazotti doch wieder an und forderte ihn förmlich heraus, ihr noch eine zweite Chance zu geben. Na ja, wer so nett fragte... – also füllte Victor Ivan nochmals den Zahnputzbecher mit Eis und Ramazotti und wollte sehen, ob er sich nun an den süßlichen Geschmack gewöhnt haben könnte. Es war grässlich! Sein Körper schien das Zeug einfach abzustoßen.

Victor Ivan überkam eine unglaubliche Wut über diesen geschmacklichen Hinterhalt und er wollte sich nicht nochmals in Versuchung führen lassen! Deshalb schleuderte er die halbvolle Flasche Ramazotti auf den Boden und den Campari an die Wand. Diese Kleckse gaben dem tristen Zimmer wenigsten ein bisschen Farbe. Als die Wirkung des Weinbrandes, der beiden Liköre und des Ouzo einzusetzen begann, lag Victor Ivan bereits auf dem Rücken, mitsamt seinen Klamotten, aber diesesmal OHNE seine Schuhe und ohne Socken auf dem Bett – man lernte ja schließlich dazu. Wenige Minuten später polterte ein furchtbares Schnarchen die leeren Flure seines Hotels entlang und belästigte andere Hausgäste noch einige Türen weiter und Etagen höher oder tiefer.

 

***

 

Für Antonio Fabiani hatte die Woche wirklich gut begonnen. Gleich am Montag reiste er zu seinem Kunden Fiat in deren Zentrale und hatte einen Termin mit den Anwälten und der Abteilung für Firmen-Akquisitionen. Fiat wollte unbedingt seinen Subunternehmer Ferromatrix Srl übernehmen und überbot sofort das Angebot der deutschen Firma Malinger, das Antonio in weiser Voraussicht eines Bietpokers schon wesentlich höher als tatsächlich, angegeben hatte. Antonio hatte seine innere Entscheidung zu Gunsten Fiats schon längst getroffen. Diese Firma hatte ihm all die Jahre die Treue gehalten und ihn reich gemacht. Außerdem war ihm ein italienischer Käufer einfach lieber als ein „Tedesco“ – alleine schon aus prinzipiellem Patriotismus. Antonio gab vor, nochmals den Deutschen eine Chance auf Nachbesserung geben zu wollen. Tatsächlich telefonierte er nicht mal mit Signore Giuseppe Malinger. Am Mittwoch bot ihm Fiat nochmals ein bisschen mehr für seine Firma plus fünf Millionen Euro in Cash als „steuerfreien Bonus“, wie die Anwälte diese Zahlung nannten. Damit war der Deal klar! Am Donnerstag Morgen um 9:00 Uhr wurden die Verträge vor dem Notar unterzeichnet und noch am selben Tag schickte Antonio eine E-Mail des Bedauerns, d. h. eine förmliche Absage an Giuseppe Malinger und seinen Geschäftsführer Dr. Bucher.

Das gehörte einfach zum guten Ton: Nach reiflicher Überlegung haben wir uns für ein anderes Angebot entschieden. Wir bedauern ... blablabla …“

 

***

 

Es war bereits Donnerstag und Victor Ivan hatte das Subjekt seines Auftrages kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Es regnete immer noch den ganzen Tag und es war ekelhaft kalt. Victor Ivan observierte abwechselnd die private Villa und die Geschäftsadresse, mehr Informationen hatte er nicht. Es war nun fast zu einem 24-Stunden-Job eskaliert, da Victor Ivan es einfach nicht fassen konnte, diesen Mistkerl nicht irgendwo mal anzutreffen und ständig Angst hatte, dass er ihn verpassen könnte. Der Plan über die Art und Weise, die Wünsche seines Auftraggebers „Schüchtern Sie den Italiener ein ...“, durchzusetzen, war in Viktor schon in zig Versionen entstanden und wieder verworfen worden.

Es waren grässliche Szenarien dabei, wie Zähne, Finger- oder Fußnägel mit einer rostigen Zange ziehen, Knochen brechen, Frau oder Tochter vergewaltigen oder die Villa anzünden. Aber Mangels Verfügbarkeit des Subjektes ließ sich gar nichts davon umsetzen. Der ganze Auftrag war eine totale Katastrophe! Victor Ivan hatte inzwischen eine unglaubliche Allergie gegen italienisches Essen, italienisches Trinken, die Italiener als solches, das italienische Regenwetter und das ganze beschissene Land! Er war komplett verwahrlost, hatte das Duschen unter dem spärlichen Wasserstrahl seiner Dusche aufgegeben, sich seit Tagen nicht mehr rasiert und seine letzten Räusche standen ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er stank wie ein Büffel und hatte eine üble Laune. Würde er in seinem derzeitigen Zustand das Subjekt in die Finger bekommen, könnte das den Teil seines Auftrages „Aber bringen sie ihn nicht um!“, nur schwerlich erfüllen. Seine üble Laune hätte gereicht um die halbe Bevölkerung von Modena umzubringen.

Es war bereits wieder früher Nachmittag eines nutzlos vergeudeten Tages, fast eine Woche nach seiner Ankunft in Modena. Victor Ivans Handy zeigte den Eingang einer SMS. Die Nachricht war für Victor verwirrend: „Wir sind jetzt quitt! Verkaufe 70 Nelken!“ Victor stierte minutenlang auf sein Handydisplay. Das konnte doch nicht wahr sein! Er hatte noch gar nichts gemacht und war plötzlich quitt! Und ein neuer Mordauftrag für 70.000,- Euro war auch gleich mit dabei. Na warte: Du hast mich hier in diesem Dreckland so lange schmoren lassen – das bekommst du jetzt zurück! Victor fuhr sofort in sein Hotel, checkte aus und bezahlte für die Renovierung seines arg demolierten Zimmers ein Vielfaches seines Übernachtungspreises.

Dann fuhr er direkt in Richtung Brenner Pass und quartierte sich in Österreich in einem der besten Hotels nahe der Autobahn ein. Dort bestellte er sich ein wunderbares Steak, medium rare, auf sein Zimmer, nahm anschließend ein langes, „Italien-reinigendes“ Bad und legte sich vor den Fernseher. Er wachte um 4:35 Uhr auf und beschloss nun seinem Auftraggeber zu antworten. Er hatte zwar im Moment keine weiteren Aufträge, aber dennoch lautete seine SMS: „Bin frühestens in zwei Wochen interessiert. Brauche 100 Nelken.“

Überraschenderweise kam der übliche Anruf drei Minuten später. 58 Sekunden später war man sich einig und hatte die Details umrissen. Victor Ivan bekam somit 30.000,- Euro mehr als ursprünglich angeboten. Das musste er sich merken! Diese 30K konnten das Italienerlebnis ein bisschen kompensieren. Funfaktor des neuen Auftrages: sehr vielversprechend.

Ohne Skrupel
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