9. Januar 2010, München

       

Freitagabend traf sich JP mit Dr. Drager, während die Sicherheitsfirma zwei weitere Mikrokameras an gezielten Plätzen installierte. Sie bat ihn um Aufklärung. JP hatte alles in einem perfekten Dossier zusammengefasst. Seine Ängste hatten sich leider bestätigt. Den Belauschungs- und Zufallsfaktor aus der Kantine stellte er allerdings als einen bewussten Akt seinerseits, aufgrund eines Verdachtsmoments gegenüber dem Hausmeister, dar. Giuseppe Donatelli, geboren am 15. April 1965 in Neapel, mehrmals wegen Hehlerei, Drogenhandel und Schutzgelderpressung verurteilt und inhaftiert, konnte am 4. Mai 2009 anlässlich eines Krankenhausaufenthaltes entfliehen. Seitdem war er flüchtig und europaweit zur Fahndung ausgeschrieben. In Deutschland lagen zusätzlich Haftbefehle wegen schwerer Körperverletzung und diverser Zollvergehen gegen ihn vor und er war wegen zweifachen Mordes oder Beteiligung daran zumindest tatverdächtig. Giuseppe Donatelli hatte einen ehrenvollen „Künstlernamen“ innerhalb der Camorra – man nannte ihn „La Pulcinella“, was für „der Wasserfloh“ stand. Er hatte sich in seiner frühen Jugend im Sommer sein Geld mit Wasserskiakrobatik verdient und irgendwie war dieser sehr eigenwillige Spitznamen an ihm hängen geblieben. Es war innerhalb der Organisation durchaus üblich, einen Spitznamen zu tragen und Donatelli war stolz auf den seinen.

Die Camorra ist eine verbrecherische Organisation mit vielen, unabhängig arbeitenden und sehr effektiven Splitterabteilungen, ähnlich der Mafia, aber ungleich effektiver und häufig brutaler. Ihr Zentrum war einmal Neapel, aber mittlerweile sind sie über ganz Europa und Amerika verteilt. Ihre Betätigungsfelder sind alle kriminellen Delikte, die hoch profitabel sind, vor allem aber Drogenhandel, Schmuggel, Schutzgelder, Entführung, Prostitution, aber auch Bauwesen, Produktpiraterie und Plagiate. An dieser Stelle zuckte Dr. Drager zusammen und meinte: „Santa Cruz, wir sind auf mögliche Lücken in unserer Werkstoffentwicklung aufmerksam geworden, da wir durch billige Raubkopien unserer Produkte massiven und sehr schmerzhaften finanziellen Schaden erleiden. In Zeiten wie diesen fällt das besonders auf!!

Wir ließen einige Plagiate im Labor auf deren chemische Zusammensetzung untersuchen, weil sie äußerlich 100 % unseren Originalen entsprechen und nur durch eine andere Verpackung mit der Aufschrift „Rookie“ auffielen. Dabei mussten wir erstaunt feststellen, dass sogar identische Formeln für die Materialien einiger von uns patentierter Werkstoffe zugrunde lagen. Deshalb kamen Sie ins Spiel. Wir vermuten einen Spion in der Abteilung der Werkstoffentwicklung. Ganz hervorragende Arbeit, dass Sie auf unseren Hausmeister aufmerksam geworden sind!“

„Danke Dr. Drager. Wie Sie in dem Dossier sehen, ist diese Fraktion der Camorra, für die „La Pulcinella“ höchst wahrscheinlich tätig ist, besonders in der Produktpiraterie aktiv und hat Produktionsstätten vorrangig in den Dritte- und Vierte-Welt-Ländern mit Billiglöhnen. Es ist bekannt, dass sie Plagiate von privaten Luxusgütern wie Handtaschen, Markenkleidung, Brillen, Uhren etc. herstellen und über organisierte Netze vertreiben lassen. Plagiate von Industriegütern wie Lenkrädern, Armaturverkleidungen, Schaltknüppeln, Radkappen, Innen- und Außenspiegeln etc. wie von Malinger hergestellt, sind bisher noch nicht bekannt geworden, aber diese kriminellen Organisationen lernen schnell und machen letztendlich alles, womit sich leicht und viel Geld verdienen lässt. Meine Vermutung ist, dass „La Pulcinella“ unseren armen Hausmeister Marco Tozzi zu dieser Spionage erpresst und zwingt.

Herr Tozzi erschien mir sehr verzweifelt, und wie ich recherchiert habe, leidet sein achtjähriger Sohn an einer Immunschwäche und lebt ausschließlich in einem Plastikzelt in fein gefilterter Luft. Mir tut der Vater des Jungen wirklich sehr leid und ich habe das Gefühl, dass er nicht freiwillig mitspielt. Mein Vorschlag ist, dass Sie möglichst rasch die Polizei informieren und wir Herrn Tozzi einige unwichtige Dokumente als „Köder“ geben, um es ihm zu ermöglichen, Kopien anzufertigen. Die Polizei beschattet den Mann dann bis zur Übergabe an „La Pulcinella“ und nimmt beide fest. Ich habe noch zwei weitere Mikrokameras installieren lassen, weil ich mich nicht auf die Polizei verlassen will und Beweise haben möchte. Möglicherweise wird Herr Tozzi am Wochenende aktiv, vielleicht schon heute Nacht. Haben Sie Zugang zu dem gesicherten Raum mit den Unterlagen zur Werkstoffentwicklung und den Patenten?“ Nach einem längeren Telefonat mit Herrn Malinger Senior war das Thema positiv erledigt.

JP stand nun in einem Sicherheitsraum, vor einer Vielzahl von Ordnern – den gesammelten Werken der Werkstoffentwicklung. Alois Huber, Leiter der Abteilung, und auch der alte Herr Malinger waren trotz der Nachtzeit ebenfalls noch erschienen und wurden von Dr. Drager detailliert informiert. Die Kameras waren inzwischen funktionsbereit. Alois Huber wählte zwei der Ordner mit nicht funktionierenden und daher eingestellten Projekten eines neuartigen Plastikwerkstoffes und einer speziellen Gummimischung, Er entfernte die Seiten bezüglich Stilllegung – fertig war der Köder für Hausmeister Marco Tozzi. Sicherheitshalber änderten Alois Huber und JP noch den Code des elektronischen Zugangssicherungsschlosses an der Tür zum Lagerraum für Werkstoffentwicklungen.

Die zwei dicken Ordner, außen gekennzeichnet mit „Streng Geheim“, wurden nun mit Bedacht auf einem der Schränke – wie zufällig beim Arbeiten dort vergessen – gut sichtbar im Aufnahmebereich der Kameras abgelegt. Es war schon weit nach Mitternacht, als man sich Gute Nacht wünschte und nach Hause fuhr. Für JP war dies eine höchst spannende Angelegenheit und er konnte kaum schlafen. Er fühlte sich wie James Bond bei einer seiner geheimen Missionen, unterwegs im Dienste Seiner Majestät, wie passend. Im Auftrag Seiner Majestät Dr. Dragon! JP stützte sich im Moment ausschließlich auf Vermutungen und sein Bauchgefühl. Innerlich war er sich seiner Sache viel weniger sicher, als er nach außen hin vermittelte. Was, wenn Tozzi gar nichts mit dieser Werksspionage zu tun hatte? JP würde sich blamieren bis auf die Knochen.

Ohne Skrupel
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